Tsunami-Warnung Wie die Behörden versagten

Nach dem Seebeben vor Sumatra rechneten viele Experten zunächst nicht mit einem Tsunami. Andere wussten nach Recherchen der "Los Angeles Times" von dem Unheil, das übers Meer heranrollte - konnten oder wollten jedoch nichts unternehmen. Viele Menschen hätten gerettet werden können, wenn Behörden die Warnsignale ernst genommen hätten.

Hamburg - Als sich die Erdkruste vergangenen Sonntag im Indischen Ozean Kilometer unter der Meeresoberfläche hob, verkantete und schließlich verrutschte, so dass es zu einem Beben der Stärke 9 auf der Richterskala kam, registrierten dies Wissenschaftler auf der ganzen Welt. Sie saßen an ihren hochempfindlichen Beobachtungsgeräten und Warnsystemen - doch nach Recherchen der "Los Angeles Times" waren sie blind für die tödliche Gefahr nach dem gewaltigen Beben, für die riesige Flut, die sich über den gesamten Indischen Ozean ausbreiten und mehr als 150.000 Menschen in den Tod reißen sollte. SPIEGEL ONLINE gibt den Bericht der Zeitung in Auszügen wieder:

Alarm auf Hawaii

Auf Hawaii war es ein verregneter Weihnachtsnachmittag. Stuart Weinstein nutzte die ruhige Zeit, um an seinem Forschungsprojekt weiterzuarbeiten. Der 43-jährige New Yorker befand sich im Computerraum des Tsunami-Warnzentrums für den Pazifik, ein Raum voller Hightech-Geräte, Bildschirme und Karten, als ein Computer seine Aufmerksamkeit erregte. Er sah eine Aufzeichnung mit starken Ausschlägen. Sie wurden verursacht von einem seismographischen Fühler, der Tausende Meilen von Hawaii entfernt auf den Cocos-Inseln angeschlagen hatte. Die Inseln liegen südwestlich von Sumatra im Indischen Ozean unweit des Epizentrums des gewaltigen Bebens.

Weinstein beriet sich mit seinem Kollegen Andrew Hirshorn. Ihren Messungen zufolge gingen sie von einem Beben der Stärke 8 aus. Sie stuften es als schwer aber nicht gewaltig ein. Es lag zudem außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs.

Weitere 15 Minuten vergingen, bis die Computer die Daten, die das Erdbeben lieferte, verarbeitet hatten. Dann verschickten die beiden Wissenschaftler einen Bericht an ihre Kollegen, die rund um den Pazifik stationiert sind: "Tsunami Bulletin Nummer 001. Pazifik-Tsunami-Warnzentrum NOAA/NWS, herausgegeben um 0114Z 26 Dez 2004. Dieser Bericht ist für alle Gebiete des Pazifiks außer Alaska, Britisch-Kolumbien, Washington, Oregon, Kalifornien. Diese Nachricht dient allein zur Information. Es wurde keine Tsunami-Warnung ausgelöst."

Ferner teilte die Station auf Hawaii mit: "Dieses Erdbeben ereignete sich außerhalb des Pazifik. Empirischen Erdbeben- und Tsunami-Daten zufolge besteht keine zerstörerische Tsunami-Bedrohung."

Diese Nachricht wurde versandt, als die tödliche Welle sich bereits rund 100 Meilen weit ausgebreitet hatte. In Indonesien wurden die ersten Menschen ins Meer gespült.

Alarm auf den Nikobaren

Etwa zur gleichen Zeit rollte die Welle über die Nikobaren, eine kleine Inselgruppe nordwestlich von Sumatra. Indien unterhält dort einen Luftwaffenstützpunkt. Mehr als 100 Soldaten wurden von der 10 bis 15 Meter hohen Welle ins Meer gerissen. Einem Funker gelang es jedoch, einen Notruf abzusetzen. Dieser kam zwar nie beim zuständigen Militärposten an, doch wurde der Spruch auf einem zivilen Flughafen nahe dem indischen Madras aufgefangen, von wo er zur Tambaram-Airbase weitergeleitet wurde.

Nach Angaben von Offizier Anup Ghosh entsandte die Luftwaffe innerhalb von 20 Minuten Transportflugzeuge zu den Andamanen, einer den Nikobaren benachbarten Inselgruppe. Was die Offiziere nicht taten: Sie informierten die zivilen Behörden nicht darüber, dass die zerstörerische Welle sich weiter ausdehnte und auf dem Weg zur indischen Ostküste war.

"Der erste Bericht beinhaltete lediglich, dass es auf der Insel ein Erdbeben gab und eine Flutwelle", sagte Ghosh laut "Los Angeles Times" später in einem Interview, "von Tsunamis war keine Rede." Mahesh Upasani, ein Sprecher der Luftwaffe sagte: "Die Aufgabe der indischen Luftwaffe ist es, Krieg zu führen und im Kriegsfalle auch Hilfsoperationen zu organisieren, jedoch nicht Tsunamis vorherzusagen."

An einem weiteren Ort in Indien hatte man Indizien für die bevorstehende Katastrophe. In seinem Büro in Madras beobachteten Chandrashekhar Rao und zwei seiner Kollegen den Seismographen, der in der Ecke seines Büros stand. Die Nadel schlug wild aus auf dem weißen Papier.

Obwohl das Epizentrum des aufgezeichneten Bebens Hunderte Meilen entfernt war, dachte Rao gleich an die Gefahr eines Tsunami. Er wusste allerdings nicht genug darüber, als dass er irgendetwas in die Wege zu leiten gewagt hätte. Pflichtgemäß meldete er seine Beobachtung an die Zentrale in Neu-Delhi. Zu einem Austausch zwischen ihm und dem Luftwaffenstützpunkt in Madras kam es nicht.

Erdbebenzentrale in Golden, Colorado

In Golden, Colorado, war der Geophysiker Don Blakeman gerade dabei, sein Weihnachts-Dinner einzunehmen, als sein Alarmgerät losging. In Golden befindet sich das US-Erdbeben-Informationszentrum. Dort gehen über Satellit Daten von 350 Messstationen aus aller Welt ein. Diese nehmen nahezu jedes Erdbeben wahr, dessen Wellen sich durch die Erde fortbilden.

Nach und nach zeigte sich, dass das Beben im Indischen Ozean eine Stärke von 8,5 hatte. Blakeman löste ein Computerprogramm aus, wodurch das Weiße Haus, das Außenministerium und die wichtigsten Hilfsorganisationen über das massive Beben benachrichtigt wurden.

Die Warnung aus Colorado ging automatisch an das Tsunami-Alarmzentrum auf Hawaii. Dort war inzwischen der Leiter des Instituts, Charles McCreery, eingetroffen. Er stellte fest, dass das Beben wesentlich stärker war als zunächst angenommen. Die Tsunami-Gefahr war gegeben. Er setzte einen zweiten Bericht ab: "Empirischen Erdbeben- und Tsunami-Daten zufolge besteht für den Pazifik keine zerstörerische Tsunami-Bedrohung. Die Möglichkeit eines Tsunamis nahe des Epizentrums besteht."

Seit dem Beben war inzwischen rund eine Stunde vergangen - ohne dass Experten mit Sicherheit klar war, dass die tödliche Welle ihren Weg über den Indischen Ozean bereits zur Hälfte hinter sich hatte.

Debatten in Sri Lanka

Beim Nationalen Meteorologischen Amt in Colombo verfügt man nicht über teure Seismographen, sondern muss sich ganz auf Informationen verlassen, die von außen die Hauptstadt Sri Lankas erreichen. Meteorologe Sarath Premalal war gerade am Ende einer 24-Stunden-Schicht als das Telefon klingelte und er erste Informationen von dem gewaltigen Naturereignis erhielt. Er setzte sich an seinen PC und ging ins Internet. Einer Website des Erdbeben-Informationszentrums in Golden, Colorado entnahm er, dass die Erschütterungen, die er selbst wahrgenommen hatte, von dem Beben vor Sumatra herrührten.

Premalal und sein Chef Jayatilaka Banda, der stellvertretende Amtsleiter, befürchteten einen Tsunami. Einen solchen hatten sie zwar noch nie erlebt, doch sie wussten, dass ein Unterwasser-Beben zerstörerische Wellen verursachen kann. Doch trotz dieser Erkenntnis handelten sie nicht. Banda überlegte, Radio- und Fernsehstationen zu informieren, damit diese eine Tsunami-Warnung hätten publik machen können. Doch er dachte, er sei dazu nicht befugt, zumal er keinen eindeutigen Beweis einer Bedrohung hatte.

Als Blakeman in den USA bereits das Weiße Haus alarmierte, diskutierten die beiden Meteorologen auf Sri Lanka noch immer, was zu tun sei. Die Welle rollte näher und näher. Dann gingen Telefonate von der Küste Sri Lankas ein. Die Wetterbeobachtungsstation Trincomalee meldete, die Stadt stehe einen halben Meter unter Wasser.

Zögerlichkeit in Thailand

Auch in Bangkok wusste man von dem Bulletin, das vom Tsunami-Warnzentrum auf Hawaii herausgegeben worden war. Doch Regierungsbeamte in der thailändischen Hauptstadt rangen sich ebenso wenig dazu durch, eine Tsunami-Warnung herauszugeben. Was wäre, wenn es ein falscher Alarm wäre? Zweifellos wäre dies dem Tourismus wenig zuträglich, wenn während der Hauptsaison die Touristen unnötig verunsichert würden.

Währenddessen informierten McCreery und seine Kollegen auf Hawaii die amerikanischen Konsulate in weiteren Ländern, die von der Welle getroffen werden könnten. Sie kontaktierten Madagaskar und Mauritius. Von dort aus sollten Warnungen nach Somalia und Kenia gehen. Weitere technische Daten gingen auf Hawaii ein. Die Wissenschaftler sprachen nun davon, das Beben habe die Stärke 9 erreicht. Damit war es neun- bis zehnmal so stark wie zunächst angenommen.

In Kenia und Somalia zeigten die Warnungen, die von Hawaii ausgingen, Wirkung. Die Küstenregionen wurden größtenteils evakuiert. Eine vergleichsweise kleine Opferzahl ist dort zu beklagen.

Eine Nachricht traf Weinstein vom Tsunami-Warnzentrum auf Hawaii besonders hart, nachdem alles zu spät war. Es war diejenige von der Frau, die auf Nordsumatra ihre elf Kinder suchte, die allesamt ins Meer gespült worden waren. "Das war ein Schlag in den Unterleib", sagte der Wissenschaftler zur "Los Angeles Times", "wie kann man so etwas je verarbeiten?" Und sein Kollege Hirshorn kommentierte seine künftige Arbeit mit den Worten: "Das ist die Narbe, die immer da sein wird."

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