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»Überall Bilder von perfektem Sex«

Die Autoren Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq über Moral, Gewalt und Schönheitsterror
Von Marianne Wellershoff und Rainer Traub
aus DER SPIEGEL 43/1999

SPIEGEL: Mr. Ellis, Monsieur Houellebecq, Sie schildern beide in Ihren Büchern Exzesse der Sexualität und der Gewalt - und gelten jenseits aller literarischen Wertungen deshalb als Superstars des Bösen. Leiden Sie unter dieser Einschätzung?

Houellebecq: Ich gelte in Frankreich eher als Inkarnation des politisch Inkorrekten.

Ellis: Ich könnte vermutlich in einer Million Interviews erklären, warum das völlig falsch ist, und es würde trotzdem nichts ändern. Gerade in Amerika nehmen viele meine Bücher wortwörtlich, daher habe ich diesen Ruf.

Houellebecq: Meine Bücher dagegen werden nicht wörtlich genug genommen. Anstatt zu lesen, was ich geschrieben habe, werden die Romane in vorher festgelegte Kategorien eingeordnet. Zum Beispiel kritisiere ich das Böse - aber die Leute halten das für einen Scherz.

SPIEGEL: Heißt das, Sie verstehen sich in Wahrheit als Moralisten?

Ellis: Wenn man über Missstände in der Gesellschaft schreiben will, legt man automatisch Wertmaßstäbe an. Ich glaube, dass jeder kreative Akt, sei es schreiben, malen oder Filme machen, Moral beinhaltet. Aber bei mir ist die Moral eher ein Nebenprodukt der Satire.

Houellebecq: Ich denke, man kann

uns beide mit einem gewissen

Das Gespräch führten die Redakteure Marianne Wellershoff und Rainer Traub.

Recht Moralisten nennen. Doch die Werte, um die es geht, sind unterschiedlich. In Amerika ist Gewalt, und davon handelt Ihr Roman »American Psycho« ja, viel zentraler als in Europa. Auch die Diktatur der Jugend und die enorme Bedeutung von Reichtum sind amerikanische Themen. Also beschäftigen sich amerikanische Autoren vor allem mit den schönen, jungen Reichen. Für Europäer ist es dagegen angebracht, über mittelschöne, mittelalte, mittelreiche Menschen zu schreiben.

Ellis: In den USA, eigentlich in der gesamten westlichen Welt, werden wir dauernd mit Bildern bombardiert, die uns an unsere Unzulänglichkeit erinnern. Das schädigt unsere Gesellschaft, denn alle, die nicht reich, jung und schön sind, und das sind die meisten, werden zwangsläufig verunsichert.

Houellebecq: Ich werde auch umso depressiver, je öfter ich diese glamourösen Models in den Zeitschriften sehe ...

SPIEGEL: ... weil das kapitalistische System, wie es in »Ausweitung der Kampfzone« heißt, die Gesellschaft in sexuelle Sieger und Verlierer spaltet: Die Schönen haben ein tolles Sexleben, die anderen sind »auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt«. Reicht es, die Bilder-Botschaften zu durchschauen, um sich ihnen zu entziehen?

Ellis: Nein, ich sitze genauso in dieser Falle. Ich erwische mich dabei, dass ich Zeitschriften durchblättere, die Models ansehe und denke: Warum sehe ich nicht so aus? Dann schenke ich mir einen Drink ein. Und was das Thema Gewalt betrifft: Auf meiner Europatour für »Glamorama« hat mich jeder Journalist von Italien bis Holland danach gefragt - in Amerika kein einziger. Wahrscheinlich ist in den USA Gewalt zu sehr Alltag, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden.

SPIEGEL: Ändert sich die Einstellung gegenüber der Darstellung von Gewalt nicht spätestens seit den Amokläufen in High Schools? Oliver Stone, der noch bei dem gewaltsatten Film »Natural Born Killers« Regie führte, hat bei der Verfilmung von »American Psycho« die Regie niedergelegt - wohl aus Angst um seinen Ruf.

Ellis: Ich finde es krank, zwischen Filmen wie »Natural Born Killers« oder Büchern wie »American Psycho« und diesen Massakern Parallelen zu ziehen. Das soll nur die wahren Hintergründe der Taten verschleiern: soziale Probleme, Versagen der Eltern, Drogen - und eine Gesellschaft, die Menschen das Gefühl gibt, wertlos zu sein.

SPIEGEL: In Ihren Büchern, Monsieur Houellebecq, manifestiert sich Gewalt in erster Linie im Selbstmord.

Houellebecq: Ich beschäftige mich mit einer anderen Klasse von Personen, mit Menschen aus der Mittelschicht. Um persönliche Grenzen zu überschreiten, müssen sie nicht so weit gehen wie der Börsenmakler Patrick Bateman in »American Psycho«. Bateman hat sich durch seinen sozialen Status so weit über den Durchschnittsamerikaner herausgehoben, dass er eine noch herausragendere Position nur durch einen extremen Akt wie Foltern und Töten erreichen kann. Meine Helden leben nicht im Luxus, ihnen gelingt es noch nicht einmal zu vögeln. Deshalb kommt es ihnen gar nicht erst in den Sinn zu töten. Als in »Ausweitung der Kampfzone« der Computerkursleiter erkennt, dass es seinem Kompagnon Tisserand nie gelingen wird, mit einer Frau zu schlafen, schlägt er ihm vor, ein Liebespaar zu erstechen. Der lehnt ab, denn er will Sex und nicht morden.

SPIEGEL: Zur Strafe stirbt Tisserand kurz darauf bei einem Autounfall.

Houellebecq: Ehrlich gesagt sollte das keine Bestrafung sein. Ich wusste nur nicht, was ich mit dieser Figur noch anfangen sollte.

Ellis: Gute Antwort, kann ich sehr gut verstehen.

Houellebecq: Im Übrigen glaube ich auch nicht, dass man »American Psycho« für irgendwelche Massaker verantwortlich machen kann, denn es wird doch geschildert, welche Qualen Gewalt verursacht. Es gibt natürlich viele kulturelle Produkte, die Gewalt als Spaß, als Spiel darstellen.

Ellis: Um Spaß ging es mir jedenfalls nicht. Meine These in »American Psycho« ist, dass man sich aus einer gefühlsentleerten Welt, in der es allein um Fassaden und Objekte geht, nur durch einen ultimativen Akt wie das Töten heraussprengen kann.

SPIEGEL: »American Psycho« erschien 1991. Sehen Sie das immer noch so?

Ellis: Nein, für mich ist es sogar seltsam, mich das jetzt sagen zu hören, denn das war die These eines sehr jungen Mannes. Inzwischen bin ich älter geworden und glaube, das ultimative Gefühl ist nicht Schmerz, sondern Liebe. Je mehr man sich der eigenen Sterblichkeit bewusst wird, desto wichtiger wird Liebe. In »American Psycho« gibt Patrick Bateman an mit seinen grotesken Frauenmorden, während die Hauptfigur in »Glamorama« angeekelt ist von Folter und Mord. Ich selbst habe heute mehr Angst vor Gewalt als früher.

SPIEGEL: Heißt das, wenn Sie »American Psycho« heute schrieben, wären Sie von Ihren eigenen Schilderungen angeekelt?

Ellis: Angeekelt war ich damals auch. Diese brutalen, fast surrealen Szenen zu schreiben hat mich sehr aufgewühlt, denn in meiner Phantasie habe ich alle Morde begangen.

SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, haben Sie Ihre Romane auch mit dem Gefühl des Ekels geschrieben?

Houellebecq: Nein, ich habe vor allem Scham gefühlt. Ich sage Dinge, die zu sagen sich nicht schickt, und auf diese Weise zerstöre ich nach und nach mein Image. Aber gleichzeitig brauche ich das. Was mich an »American Psycho« so erschreckt hat - und hier liegt die Verbindung zu meinen Büchern -, ist, dass die Hauptfigur nur im Akt der Gewalt etwas spürt und nicht beim Sex. Mich interessiert die Frage, warum so viele Menschen beim Sex nichts mehr empfinden. Mir scheint, dass Europa sich hier den Vereinigten Staaten annähert.

Ellis: Ich hatte immer den Eindruck, dass Europäer in Sachen Sex bei weitem nicht so neurotisch sind wie Amerikaner. Ich hatte mit Europäerinnen viel besseren Sex als mit Amerikanerinnen. Sex mit Italienerinnen ist wunderbar. In der amerikanischen Kultur wird so viel Wert auf physische Schönheit gelegt, dass am Ende niemand mehr zufrieden mit sich sein kann. Sex ist wie eine Filmproduktion geworden: Man ist der Regisseur und Hauptdarsteller und geht auf eine Party oder in einen Club, auf der man die Hauptdarstellerin aussucht. Entspricht sie dem Schönheitsideal, das auf dem »Vogue«-Cover abgebildet ist, entspricht sie meinem Marktwert? Wenn man schon so losgeht, kann man keinen natürlichen, entspannten, unkomplizierten Sex haben. Sex ist doch eigentlich eine Basisfunktion wie Essen und Trinken. Wenn man aber aus Sex eine Theatervorstellung macht, wird er zu einer leeren Erfahrung.

Houellebecq: Ich freue mich, dass Sie in Europa so gute sexuelle Erfahrungen gemacht haben. Da ich mich schon länger als Sie mit der Lage des Sex in Europa beschäftige, muss ich leider sagen, die Situation hat sich verschlechtert. Sex in Kuba ist viel besser.

Ellis: Okay, Frankreich fand ich auch sehr enttäuschend. In Italien sind die Leute in Bezug auf Sex sehr entspannt, in Irland sind sie für Sex zu betrunken. Ich möchte aber betonen, dass ich nicht der promiske Typ bin.

Houellebecq: Was Irland betrifft, bin ich anderer Meinung. Für Sex sind es gute Zeiten dort, weil der Katholizismus auf dem Rückzug ist.

SPIEGEL: In Ihren Büchern, Monsieur Houellebecq, phantasieren die Hauptfiguren über Sex, haben aber kaum welchen. Überschätzen Ihre Helden möglicherweise einfach die Bedeutung von Sex?

Houellebecq: Nein. Sex ist die beste Möglichkeit, einem anderen Menschen nahe zu kommen. Und ich denke, Sex ist das Einzige, das in unserer Gesellschaft noch halbwegs funktioniert.

SPIEGEL: »Funktioniert noch halbwegs« heißt in Ihrem neuen Buch »Elementarteilchen«, dass die beiden Liebesgeschichten in Katastrophen enden: Psychiatrie, Krebs, Selbstmord.

Houellebecq: Stimmt, das ist sehr düster. In »Ausweitung der Kampfzone« gibt es keinen einzigen Lichtblick: Keine der Personen hat jemals Sex. In »Elementarteilchen« machen die Hauptpersonen einige positive Liebeserfahrungen, auch wenn es kein Happy End gibt. Was für mich zählt, ist, dass sie dem glücklichen Ende ziemlich nahe waren, es hat wirklich nicht viel gefehlt.

Ellis: In einer Gesellschaft, in der man überall Bilder von unerreichbarem, perfektem Sex sieht, wird Sexualität entspiritualisiert. Sex wird zum Statussymbol. Daher kommt auch der Begriff »trophy wife«, der meint, dass ein Mann eine Frau geheiratet hat, die von anderen begehrt wird. Das bedeutet nicht, dass er selbst diese Frau liebt.

SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, Ihre Figuren leiden furchtbar, weil Sex und Liebe meist voneinander getrennt sind.

Houellebecq: Das sehen Sie ganz falsch. Die Liebesgeschichte zwischen Bruno und Christiane in »Elementarteilchen« beginnt auf einer sexuellen Ebene, und sie verlieben sich beim Partnertausch in einer vollkommen sexualisierten Umgebung: in einem Swinger-Club.

Ellis: Das Hauptproblem ist doch, dass wir in unserem ganzen Wesen sexuelle Kreaturen sind. Wir hätten bestimmt alle mehr Sex und weniger Neurosen, wenn nicht Gesellschaft und Religion Mauern errichtet und festgelegt hätten, was akzeptabel ist und was nicht. Schwule Freunde erzählen

* Oben: Kai Scheve und Celia Sarto in dem ZDF-Film »No Sex«; unten: Forest Whitaker (l.) in dem Kinofilm »Ghost Dog« (USA 1999).

mir manchmal, wie selbstverständlich und natürlich es für sie ist, in irgendeine Bar zu gehen und innerhalb von fünf Minuten mit jemandem Sex zu haben. Bei heterosexuellen Paaren dagegen geht man erst mit jemandem essen und pflegt stundenlang Konversation; die Partnerwahl wird fast theatralisch inszeniert.

SPIEGEL: Hat nicht gerade die individuelle Jagd nach dem Glück aus Ihrer Sicht, Monsieur Houellebecq, einen beziehungs- und liebesunfähigen Trümmerhaufen von »Elementarteilchen« hinterlassen?

Houellebecq: Richtig, es ist eine totale Sackgasse. Was Mr. Ellis sagt, trifft zwar zu: Die Schwulen haben leichter Sex als die Heteros. Aber gleichzeitig sind die Kriterien von Jugend und Schönheit in dieser Szene noch viel härter.

Ellis: Trotzdem glaube ich, dass die Haltung zum Sex unter Schwulen ehrlicher und offener ist. Ich glaube nicht, dass für Frauen die körperliche Erscheinung von Männern von überragender Bedeutung ist. Aber für Männer zählt in unserer Gesellschaft bei der Partnersuche leider vor allem, wie eine Frau aussieht.

Houellebecq: Ja, die Männer haben schrecklich simple Kriterien. Aber mir scheint, dass sich ihnen die europäischen Frauen in dieser Beziehung derzeit annähern.

Ellis: In Amerika auch.

Houellebecq: Meiner Meinung nach kommt diese ganze Tendenz ebenso aus Amerika wie die Zeitschrift »Men''s Health«, die seit sechs Monaten großen Erfolg in Frankreich hat. Das ist eine neue Entwicklung, denn es ist nach fünf gescheiterten publizistischen Projekten der erste Erfolg dieser Art.

Ellis: Ich kenne viele Frauen, die »Men''s Health« wegen der schönen Körper kaufen. So können sie sich Pornografie sparen. Die Idealisierung des männlichen Körpers hat sich in den letzten zehn Jahren explosionsartig ausgebreitet. Ich sehe mehr Werbeplakate voll attraktiver Männer mit nacktem Oberkörper als Werbeplakate mit Frauen. Ich kann keinen Fortschritt darin erkennen, dass inzwischen der männliche Körper genauso objektiviert wird wie der weibliche. Und im Gespräch mit Freundinnen - durchaus gebildete Frauen - stelle ich fest, dass ihre Erwartungen an Männer sich in dieser Richtung fundamental wandeln. Ironischerweise wird das neue Männerideal in der Werbung großenteils von homosexuellen Designern geprägt.

SPIEGEL: Aber bei Ihnen beiden sind doch ganz traditionell eher die Frauen Objekte und Opfer.

Ellis: Die meinen werden kurzerhand enthauptet (lacht). Das war ein Scherz.

Houellebecq: Heute ist es ja noch so, dass älter werdende Männer sich jüngere Frauen nehmen, und die alternden Frauen sind die Opfer. Aber ich glaube, das wird sich ändern, die Frauen werden aggressiver.

SPIEGEL: Inwiefern haben negative autobiografische Erfahrungen Ihr Schreiben beeinflusst? Sie, Monsieur Houellebecq, haben davon gesprochen, dass Ihre Mutter Sie als Kind im Stich gelassen und sich den Hippies angeschlossen habe.

Houellebecq: Zu meiner Mutter hatte ich praktisch keine Beziehung, ich habe das alles mehr oder weniger vergessen. Ich möchte es mir auch wirklich nicht bewusst machen.

SPIEGEL: Eine der schrecklichsten Szenen in Ihrem Roman »Elementarteilchen« ist die, wo Ihre beiden Helden, die Brüder Bruno und Michel, sich am Sterbebett ihrer Mutter treffen. Obszöne Flüche und Verwünschungen begleiten deren Todeskampf.

Houellebecq: Aber das ist doch richtig lustig! Das habe ich geschrieben, um die Leute zum Lachen zu bringen.

SPIEGEL: Das dürfte Ihnen nur bei wenigen Lesern gelingen. Bei Ihnen, Mr. Ellis, scheint eher Ihr Vater ein emotionales Vakuum hinterlassen zu haben. Wie stark hat das Ihre Romane beeinflusst?

Ellis: Mein Vater starb 1992. Obwohl ich nie im unmittelbar autobiografischen Sinn über ihn geschrieben habe, glaube ich, dass er in vielfacher Hinsicht meine Wahrnehmung von männlichem Verhalten geprägt hat. Was Patrick Bateman verkörpert, hat sicher auch mit meinem Vater zu tun. Er gehörte ursprünglich der Mittelklasse an und veränderte sich in schockierender Weise, nachdem er einen Haufen Geld gemacht hatte. Er benahm sich, als gäbe ihm der neue Reichtum die Lizenz, sich alles herauszunehmen: Leute zu kontrollieren und zu schikanieren, exzessiv zu trinken, gewalttätig zu werden und so weiter. Ich denke, alle meine Romane haben mit der Freiheit durch Geld zu tun - und damit, wie die Leute diese Freiheit missbrauchen. Wer genug Geld hat, kann alle Schranken niederreißen, er kann sich Folter, Vergewaltigung, Mord leisten und damit davonkommen.

Houellebecq: In unseren Gesellschaften wirken, so glaube ich, zu viele zentrifugale und zu wenig zentripetale Kräfte.

SPIEGEL: Was soll das heißen?

Houellebecq: In Frankreich wollen die Leute, so bald sie es sich leisten können, lieber in Entwicklungsländern leben, weil sie zu Hause nicht glücklich sind. Sie haben keinen Sex, sie dürfen an immer weniger Plätzen rauchen, ihr Leben ermüdet und langweilt sie. Ich kenne niemanden, der in der westlichen Welt lebt, ohne dazu gezwungen zu sein.

SPIEGEL: Eine bizarre Wahrnehmung. Wo würden Sie lieber leben?

Houellebecq: Ich liebe Thailand und fliege oft dorthin. Zurzeit lebe ich in Irland, weil ich Länder mit schönen Landschaften mag.

Ellis: Ich glaube, Sie leben in Irland, weil es für Künstler ein Steuerparadies ist. Was Sex betrifft, ist Irland kaum ratsam. Vielleicht ist das irische Bier eine Reise wert.

SPIEGEL: In Ihrem neuen Roman, Monsieur Houellebecq, ist die Rede davon, dass wir dem Selbstmord der westlichen Zivilisation beiwohnen. Hat diese apokalyptische Vorstellung mit der bevorstehenden Zeitenwende zu tun?

Houellebecq: Ich glaube nicht, dass wir dem Kalender zu viel Bedeutung zumessen sollten. Aber im übrigen haben Sie Recht: Ja, ich glaube, alles geht zu Ende.

SPIEGEL: Am Ende Ihres Buches entwerfen Sie die Vision einer geklonten Menschheit, die im kommenden Jahrtausend die Teilung der Gattung in zwei Geschlechter und alle Probleme und Schmerzen des Individuums hinter sich lässt.

Houellebecq: Das ist eine Hypothese, ein Stück Science-Fiction.

SPIEGEL: Erscheint Ihnen deren Realisierung wünschenswert?

Houellebecq: Das ist deshalb eine gute Idee, weil ich nicht glaube, dass die Menschheit jemals den Tod akzeptieren wird. Übrigens träumte schon die Antike den Traum von Hermaphroditen, in denen Männer und Frauen eins werden.

SPIEGEL: Mr. Ellis, während konservative Kritiker sich über Ihre Romane entrüsten, haben linke Kritiker Sie als großartigen Gesellschaftskritiker gerühmt. Ihr Landsmann Norman Mailer hat über den smarten Börsianer Patrick Bateman aus »American Psycho« gesagt, niemals sei das Gesicht einer herrschenden Klasse in der Literatur widerwärtiger gezeichnet worden. Verstehen Sie sich als politischer Autor?

Ellis: Ich reagiere mit meinen Büchern auf gesellschaftliche Entwicklungen, die mir nicht gefallen, aber ich würde mich eher als apolitisch bezeichnen. Patrick Bateman verkörpert ungefähr alles, was ich am Amerika der Jahre, in denen ich das Buch schrieb, grässlich fand. Dasselbe gilt für Victor Ward, den Helden meines aktuellen Buchs »Glamorama«. Man schreibt einen Roman aus sehr persönlichen Gründen.

SPIEGEL: Und nicht, um die Welt zu ändern?

Ellis: Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Ich schreibe den Roman, den ich lesen will. Das Schreiben von Romanen ist kreativer Selbstausdruck - ein Hobby und kein Job, nichts für eine Karriere. Natürlich bekommt man Reaktionen auf ein Buch, und zwar verwirrend vielfältige, aber das ist nicht der Grund, warum man ein Buch schreibt. Das Schöne am Lesen ist doch, dass es eine urdemokratische Erfahrung ist: Jeder Leser hat Recht mit seiner unmittelbaren emotionalen Reaktion auf einen Roman. Ich kann noch so viele erklärende Interviews geben - meine Bücher führen ein Eigenleben.

SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, warum schreiben Sie?

Houellebecq: Meinen ersten Roman habe ich geschrieben, weil ich in genau der Art von Informationswelt lebte, die da vorgeführt wird, und weil ich diese Wirklichkeit in keinem anderen Buch wiedergefunden hatte. Aber da mein erster Roman mich in einiger Hinsicht nicht zufrieden stellte, schrieb ich den zweiten. Als Schriftsteller will ich die Welt widerspiegeln.

SPIEGEL: Schätzen Sie sich, wie Mr. Ellis, als apolitisch ein?

Houellebecq: Die politischen Ideen sind Teil der Welt.

Ellis: Sie drücken es kürzer und treffender aus als ich.

SPIEGEL: Sie scheinen sich in vielem einig zu sein. Und doch haben Sie, Monsieur Houellebecq, kürzlich in einem Gespräch gesagt, Sie als Franzose stünden auf einer höheren Stufe als die Amerikaner.

Houellebecq: Was ich meinte, war, dass das Niveau eines Durchschnittsamerikaners niedriger ist als das eines Durchschnittseuropäers.

Ellis: Das sehe ich genauso.

Houellebecq: Theoretisch müssten die amerikanischen Schriftsteller besser sein als die europäischen.

SPIEGEL: Warum?

Houellebecq: Weil das Land schlechter ist.

Ellis: Ich stimme dem zu.

SPIEGEL: Und praktisch?

Houellebecq: Praktisch ist das Durchschnittsniveau der amerikanischen Literatur höher als das der europäischen.

Ellis: Auch das ist völlig richtig.

Houellebecq: Ich denke, diese Situation hat damit zu tun, dass der Roman vor allem das Unglück der Welt widerspiegelt.

SPIEGEL: Mr. Ellis, Monsieur Houellebecq, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Marianne Wellershoff undRainer Traub.* Oben: Kai Scheve und Celia Sarto in dem ZDF-Film »No Sex«;unten: Forest Whitaker (l.) in dem Kinofilm »Ghost Dog« (USA 1999).

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