Unschuldig im Todestrakt Der Überleber

Eine Zahnlücke und zwei falsche Zeugen wurden ihm zum Verhängnis: Fast 18 Jahre saß Juan Roberto Melendez in Florida unschuldig im Gefängnis und wartete auf die Hinrichtung. Weil er trotzdem noch Kraft zum Leben hat, begab sich der Puerto-Ricaner auf eine Weltreise gegen die Todesstrafe.

München - Wie hält man das aus: 17 Jahre lang, acht Monate und einen Tag. Ein Dasein, das die Zuhörer wohl keine 24 Stunden ertragen könnten. In einer engen Zelle, kalt, ohne Fenster. Mit Ratten, die nachts über den Körper huschen. Mit Kakerlaken, die sich aufs Essen stürzen. Mit Wächtern, die alle Schwarzen hassen. Mit dem Bewusstsein, dass man unschuldig ist, verraten, geopfert, arm und ohne Beistand, dass nichts mehr auf einen wartet außer dem Tod? Wird man da nicht zumindest verrückt? Bringt man sich nicht um?

Juan Roberto Melendez erklärt seine eher einfache Strategie: "Ich musste mich an etwas halten, das höher ist als dieses System - an unseren Schöpfer. Ich musste zurückkehren zu meinen Wurzeln, zu dem, was mir meine Mutter gesagt hat: 'Gott wird dir helfen, du musst ihm nur vertrauen.'"

In München startete der 54-Jährige jetzt seine Deutschland-Tournee - eine Werbetour gegen die Todesstrafe. Und für mehr Menschlichkeit, auch gegenüber Gefangenen, die schlimmste Verbrechen begangen haben.

Rund 80 Besucher - darunter viele US-Bürger - sind in die Seidlvilla in München-Schwabing gekommen. Sie haben einen gebrochenen Menschen erwartet. Doch was sie sehen, ist ein Mann, der kräftig und gesund wirkt - und nicht verbittert. Der nicht jammert, sondern erzählt. Und warnt: vor Mr. Bush, vor den amerikanischen Staatsanwälten, vor dem System der US-Justiz.

Amnesty International hat Melendez zusammen mit anderen Hilfsorganisationen nach Deutschland eingeladen. Schade nur, dass sich die durchaus spannende Geschichte des ehemaligen Todes-Häftlings arg in die Länge zieht. Denn die Dolmetscherin wurde für eine Übersetzung aus dem Spanischen engagiert, doch Melendez spricht undeutliches Englisch mit südamerikanischem Einschlag, vieles muss wiederholt und erklärt werden.

Zehn Hinrichtungen in der ersten Woche

Doch Melendez ist stolz auf sein Englisch. Es hat ihm das Leben gerettet - am Ende. Denn 1984, als der Puerto-Ricaner auf einer Obstplantage in Philadelphia plötzlich verhaftet wurde, verstand er nur, auf Englisch zu fluchen. Was die Polizei ihm vorwarf, bekam er kaum mit. Sie identifizierten ihn durch eine Zahnlücke und eine Tätowierung, behaupteten, er habe bei einem bewaffneten Überfall einen Menschen getötet, und nahmen ihn mit nach Florida.

Melendez war dennoch zuversichtlich, dass er dort den Irrtum aufklären würde. Er hatte schließlich ein Alibi. Aber seine Zeugen waren Schwarze. Die Jury glaubte ihnen nicht. Sie hielt sich lieber an die Aussage von zwei Kriminellen, die an dem Überfall beteiligt waren und denen man für den Verrat einen Deal angeboten hatte: Haftverkürzung.

Melendez wurde ein Anwalt zugeteilt, der ihm immer auf die Schulter klopfte und sagte: "Hey, mach dir keine Sorgen, du kannst bald heimgehen." Einen Dolmetscher bekam Melendez nicht. Nach fünf Tagen wurde er verurteilt und kam in den Todestrakt. In seiner ersten Woche dort wurden zehn Häftlinge hingerichtet.

Da wollte er noch kämpfen, mit Fäusten. Trainierte seine Muskeln und wollte die Wächter überfallen, die ihn eines Tages abholen würden. Nach zehn Jahren war er müde und plante seinen Selbstmord. Wie viele Mitgefangene, die man regelmäßig tot mit blauem Gesicht aus ihrer Zelle trug. Melendez besorgte sich eine Mülltüte - für vier Briefmarken, die er einem Putzboy zahlte. Aus der Tüte formte er eine Schlinge um sich zu erhängen. Doch dann träumte er von seiner Mutter, und dem weißen Strand seiner Heimat, von Delphinen und den Bergen. "Als ich erwachte, roch meine Zelle nach Strand und Meer, Gott hat mir diesen Traum gesandt. Ich bin ein Überleber."

Melendez klammerte sich an seine Religion. Zuhause errichteten Mutter und Tanten einen Altar für die Heilige Jungfrau von Guadelupe und beteten täglich, sie möge dem Unschuldigen ein Wunder schicken. Das erste Wunder, sagt Melendez, seien seine Freunde im Knast gewesen. "Die Schlimmsten der Schlimmen, die andere Monster nennen", sie lehrten ihn, nicht zu kämpfen, sondern etwas Sinnvolles zu tun und die Sprache zu lernen.

"Ich möchte den Mond sehen"

Und dann sandte ihm die Heilige Jungfrau eine neue Anwältin, mit der er sich nun besser verständigen konnte, der er sagen konnte, wonach sie suchen soll, was in den Ermittlungsakten nicht stimmt. Sie rollte den Fall nochmals auf, stieß auf ein Tonband mit dem Geständnis des tatsächlichen Mörders. Nach 17 Jahren.

Danach handelte die Justiz - offensichtlich aus reiner Peinlichkeit - sehr rasch. Melendez wurde abgeholt, da dachte er noch, er müsse zur Hinrichtung. Doch dann sprach ihn ein Wächter mit "Mr. Melendez" an, nicht mehr mit seiner Häftlingsnummer, und da wusste er, es ist etwas passiert. Die Staatsanwaltschaft wollte ihn los sein, verzichtete sogar auf ein neues Verfahren, um den Fall gerichtlich zu klären. Melendez bekam 100 Dollar, eine Hose und ein Hemd und wurde nach Hause geschickt. Vor dem Gefängnistor lauerten schon die Reporter. Das Schicksal des Unschuldigen hatte sich herumgesprochen. "Was möchtest du jetzt tun, was möchtest du sehen?" fragten sie. "Ich möchte den Mond sehen", antwortete Melendez und machte sich auf den Weg zu seinem Strand nach Puerto Rico.

Nun lebt er - zum zweiten Mal. Das letzte, was er für seine zurückgelassenen Freunde im Todestrakt tun kann, ist der Kampf gegen die Todesstrafe. Mit seiner Organisation "Voices United for Justice" versucht er weltweit möglichst viele Mitstreiter zu gewinnen.

Bis 8. Februar bleibt Juan Melendez deshalb in Deutschland und erzählt seine Geschichte - in Lindau, Karlsruhe, Tuttlingen, Bad Mergentheim, Bochum, Landau, Köln, Soest, Osnabrück und Hamburg ( nähere Informationen zur Tour finden sich auf der Homepage von Juan Melendez ).

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