Verschwörungstheorien Bush, Bin Laden und die Meschugge-Brigade
New York - Charlie Sheens wilde Zeiten sind lange vorbei. Früher hat der US-Schauspieler mit Frauengeschichten, Schießereien und Drogenexzessen Schlagzeilen gemacht. Heute verdient sich der Sohn von Altstar Martin Sheen ("Apocalypse Now", "West Wing") mit einer passablen TV-Sitcom das Auskommen.
Jetzt aber hat Sheen Junior ein neues, publizitätssicheres Steckenpferd entdeckt: Er ist unter die Verschwörungstheoretiker gegangen und hat sich dem wachsenden Chor der Zweifler an der offiziellen Version des 11. September 2001 angeschlossen. Denn die werfe für ihn "viele Fragen auf", sagte Sheen einem amerikanischen Talk-Radiosender jetzt.
Sheen beschuldigte die US-Regierung, die wahren Hintergründe vom 11. September zu vertuschen. Es sei undenkbar, dass "19 Amateure mit Teppichmessern" die Anschläge bewerkstelligt hätten. Der Einsturz des World Trade Center habe vielmehr ausgesehen wie "eine kontrollierte Explosion". Sheen beruft sich auf "Gefühl" und "Instinkt".
"Sheen tritt in die Meschugge-Brigade ein", spottete die "New York Post". Doch der Schauspieler befindet sich in illustrer Gesellschaft. Ausgerechnet in diesen Tagen, da sich Qaida-Anhänger Zacarias Moussaoui vor einem US-Gericht mit den abenteuerlichsten Geschichten über seine Rolle an den Anschlägen selbst das Grab schaufelt, scheinen immer mehr Amerikaner Gefallen an alternativen Versionen vom 11. September zu finden. Sheens Interview passt prima ins ganzjährige "Sommerloch" der überdrehten US-Medienwelt aus Kabelnews, Klatsch und Blogs, die rund um die Uhr gefüttert werden wollen.
Eine Google-Suche nach den Stichworten "Charlie Sheen 9/11" ergab gestern 795.000 Fundstellen, eine nach "9/11 conspiracy" sogar 15,5 Millionen. Als Sheen seine Zweifel auf dem Mainstream-Sender CNN wiederholte, ließ sich dessen Publikum mitreißen: In einer CNN-Blitzumfrage erklärten 34.692 Zuschauer (84 Prozent der Teilnehmer), auch sie glaubten, die Regierung verheimliche die Wahrheit über den 11. September.
JFK, Ufos und 11. September
In breiter gestreuten Stichproben liegt diese Zahl zwar niedriger, aber immerhin: Im August 2004 bekundeten 49,3 Prozent der New Yorker die Überzeugung, das Weiße Haus habe vorab von den Anschlägen gewusst und "absichtlich versagt". Zwei Drittel forderten eine Kongress-Untersuchung. Im April 2005 fanden 40 Prozent der Amerikaner, ihre Regierung trage zumindestens "Teilverantwortung" für die Anschläge am 11. September.
Wen wundert's. Seit jeher sind die USA das Land der Geheimnisjäger, die im Dämmerlicht zwischen Fakt und Fiktion, "JFK" und "Akte X" stets neue Faszinosa finden. Zwei Drittel der Amerikaner glauben, der Mord an John F. Kennedy sei eine "breite Verschwörung" gewesen, drei Viertel vermuten ein offizielles "Cover-Up". Genau so viele glauben im Übrigen, die Regierung halte die Existenz von Ufos geheim.
Die Erforschung der "Wahrheit" hinter dem Kennedy-Attentat nahm eine ganze Generation in Beschlag. Heute stürzen sich die Verschwörungstheoretiker auf den 11. September - wohl auch, weil sie ihrem Präsidenten George W. Bush immer weniger trauen. Bushs Popularitätswerte dümpeln auf historischen Tiefstwerten. 52 Prozent erklärten ihn in einer Gallup-Umfrage für "unehrlich und nicht vertrauenswürdig".
Eine Regierung, die, wie inzwischen die US-Mehrheit findet, unter Lügen, Halbwahrheiten und Vorwänden in den Irak-Krieg gezogen ist, die wissenschaftliche Erkenntnisse zur globalen Klimakatastrophe verfälscht, die den peinlichen Jagdunfall von Vizepräsident Dick Cheney 24 Stunden lang geheimzuhalten versucht: Der traut man natürlich auch noch Schlimmeres zu.
"Althippies in Birkenstocks"
Genährt und weitergesponnen werden diese Theorien vor allem im Netz. Aber nicht nur: Jeden Sonntagabend treffen sich etwa die New Yorker 9/11-Zweifler - oft Hunderte Leute - im Keller der St. Mark's Church im East Village zur heißen Debatte; zum Jahrestag des 11. September protestieren sie an Ground Zero.
"Althippies in Birkenstocks", lästerte der New Yorker Medien-Blog "Gawker". Doch Sheen ist nicht der erste Prominente, der auf den Zug aufspringt. Auch der ehemalige CIA-Analyst Ray McGovern, der Physiker Steven Jones, Bushs Ex-Chefökonom Morgan Reynolds und der kurzzeitige deutsche Forschungsminister Andreas von Bülow. Er glaubt, der 11. September sei von der Regierung "orchestriert" worden, um die Amerikaner in den Krieg zu manipulieren.
Wie eine zerkratzte Schallplatte drehen sich die Fragen der Verschwörungsbeseelten um sich selbst. ( Siehe Fotostrecke.)Warum stürzte das Gebäude 7 World Trade Center ein? Warum kamen die Kampfjets zu spät? Wo sind die Black Boxes der Flieger?
Was damals wirklich passiert sei, darüber sind sich aber auch die Zweifler nicht einig. Die Spekulationen blühen: Wer hat die Anschläge inszeniert? Der israelische Geheimdienst? Die Ölindustrie? Bush und Cheney? Oder hat, wie die Scientologen glauben, die US-Psychiatriebranche an allem Schuld? "Vor ein paar Jahren war es noch extrem unpopulär, all das zu diskutieren", sagt Sheen. Jetzt aber, so stelle er auch in seinem Freundeskreis fest, "beginnt sich der Wurm zu drehen".