Dieser Beitrag wurde am 29.05.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Nach der Arbeit eine Runde Playstation auf dem Sofa zocken, mit Freunden in virtuelle Welten tauchen und Highscores knacken: In Deutschland spielten im vergangenen Jahr 34 Millionen Menschen mindestens gelegentlich Computer- und Videospiele (Statista ). Aus diesem Spaß wird Ernst, wenn ein Mensch mehr als zwölf Monate alle anderen Aspekte des Lebens diesem Spiel unterordnet. Wenn er etwa seine Freunde verliert, seine Körperhygiene vernachlässigt. Dann leidet er unter Videospielsucht – so definiert es zumindest die Weltgesundheitsorganisation (WHO). (SPIEGEL ONLINE)
Videospielsucht ist von der WHO nun offiziell als Krankheit anerkannt und als "Gaming Disorder" in den internationalen Katalog der Krankheiten aufgenommen. Unter dem Code 6C51 können Ärztinnen und Ärzte ab jetzt eine solche Störung diagnostizieren. So können Betroffene leichter Hilfe finden und langfristig ihre Behandlungskosten von gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden.
An der Entscheidung der WHO gibt es Kritik – auch aus der Wissenschaft: 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den USA und Europa haben sich gemeinsam dagegen ausgesprochen. Warum?
Das haben wir den Junior-Professor Malte Elson gefragt. Der 33-Jährige forscht und lehrt zu Themen zur Psychologie der Mensch-Technik-Interaktionen an der Ruhr-Universität Bochum.
Malte Elson
Der 33-Jährige hat in Köln Psychologie studiert und dort auch promoviert. Anschließend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter unteranderem an der Westfälische Wilhelms-Universität in Münster. Seit 2018 ist er Junior-Professor an der Ruhr-Universität Bochum und lehrt und forscht unteranderem zu Themen wie Lernen und Problemlösen in der IT-Sicherheit, psychologischen Forschungsmethoden, Medieneffekte und Lernen mit Medien.
Die Kassen übernehmen langfristig eher die Kosten von Behandlungen, Betroffene finden leichter Hilfe: Für den Laien klingt es erst einmal positiv, dass Videospielsucht als Krankheit anerkannt wird. Sie hingegen kritisieren diese Einteilung. Warum?
Es ist zu früh, diese Einteilung vorzunehmen. Wir befinden uns noch ganz am Anfang der Forschung in diesem Bereich. Die meisten Ergebnisse, die bisher vorliegen, sind schwach. Sie basieren häufig nicht auf repräsentativen Stichproben und es liegen wenige Langzeitstudien vor.
Einige dieser Studien zeigen beispielsweise, dass die Spielzeiten von Jugendlichen in den Schulferien extrem steigen und sie im Winter weniger mit Freunden machen. Dieser Fakt spricht dafür, dass man zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Jahr zu unterschiedlichen Diagnosen kommen kann, weil die Spielzeit stark schwankt. Wenn wir jetzt festlegen, Videospielsucht ist eine Krankheit, die wirklich existiert, erschwert das Forschung zu publizieren, die das Gegenteil besagt.
Welche Fragen müssten erst noch geklärt werden?
Begriffe und Symptome des Phänomens sind schlecht definiert. Die WHO definiert "Videospiel" an keiner Stelle. Gehören "Super Mario" oder Kartenspiele wie "Solitaire" dazu? Was bedeutet es für einen Menschen, videospielsüchtig zu sein? Was ist es an Videospielen, von dem wir glauben, dass sie abhängig zu machen? Der Spaß allein kann es nicht sein, denn es gibt viele Dinge, die Spaß machen, ohne dass man sie als süchtig machend bezeichnen würde.
Das sind Fragen, auf die die Wissenschaft noch keine Antworten hat, die ausreichend Studien belegen.
Laut WHO beginnt eine Videospielsucht, wenn ein Mensch mehr als zwölf Monate alle anderen Aspekte des Lebens dem Spielen unterordnet. Wenn er beispielsweise seine Freunde verliert oder seine Körperhygiene vernachlässigt. Das wäre ja eine Definition, wie Sie sie fordern.
Sie ist nicht präzise genug. Was wäre zum Beispiel, wenn jemand nur seinen Job verliert aber seine Freundin nicht? Würde man dann sagen, das ist kein Problem? Die Definition ist für Praktiker wie für Psychotherapeuten keine gute Hilfe.
Es gibt auch noch kein standardisiertes Messinstrument, also zum Beispiel eine Art Test, um bei einem Menschen festzustellen, ob er unter Videospielsucht leidet, oder nicht. Es existieren etwa 50 Videosucht-Skalen, aber man weiß nicht, welche der Standard werden soll.
In ihrem Paper sprechen Sie und 29 Forschende von gesellschaftlichen und gesundheitlichen Risiken, die mit der Anerkennung von Videospielsucht als Krankheit einhergehen. Welche Risiken meinen Sie?
Zum Beispiel, dass Menschen als krank bezeichnet werden, die es eigentlich gar nicht sind. Sehr viele Menschen auf der ganzen Welt spielen Computerspiele. Bezieht man Spiele auf dem Smartphone mit ein, sind es noch viel mehr. Es können enorme Kosten entstehen, wenn auf einmal sehr viele Leute die Diagnose "videospielsüchtig" bekommen und sich in Behandlung begeben, diese aber gar nicht brauchen. Die Kosten muss dann das Gesundheitssystem tragen, deshalb sollte man sich sicher sein, dass die Investition in die Behandlung Sinn ergeben.
Stattdessen fordern Sie also was?
Eine differenziertere Sicht. Viele der Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit Videospielsucht genannt werden, können auch andere Ursachen haben. Zum Beispiel das Symptom Einsamkeit. Ein Jugendlicher muss nicht einsam sein, weil er pausenlos vor dem Rechner sitzt. Eine soziale Angststörung kann die Ursache dafür sein, dass er andere Menschen meidet. Die Computerspielsucht wäre also nur ein Symptom dieser Angststörung und Person würde nicht richtig geholfen werden, behandelt man nur die Computerspielsucht – dabei sollte die Angststörung behandelt werden.