"Nächste Kategorie: Sex Sirenen" – Was auf einem Abend der deutschen Voguing-Szene abgeht
Dieser Beitrag wurde am 17.04.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Es ist es heiß. Samantha, 21, steht der Schweiß schon
auf der Stirn. In rosa Body und Netzstrumpfhose sitzt
sie neben dem DJ-Pult und föhnt sich mit einem Mini-Ventilator das mit Strass-Steinen
beklebte Gesicht. "Ich bin noch neu hier und super
aufgeregt", sagt sie und streicht sich eine Strähne ihrer blonden Perücke
aus den Augen. Es ist Samanthas erster Voguing-Auftritt.

Voguing ist ein Tanzstil und erinnert an die typischen Posen von Models in der Modezeitschrift Vogue.
Er wurde Anfang der 80er von queeren People of Color in New York erfunden. Diese waren ausgeschlossen von der weißen Trans- und Homosexuellen-Szene – und gründeten mit der Ballroom-Kultur ihre eigene Welt, um ihre Leidenschaft für Mode, Tanz und Performance auszuleben.
Die Voguing-Bälle sind schrille, pompöse Abende mit aufwändigen Kostümen und
waren im New York der 80er der einzige sichere Rückzugsort, ein "Safe Space", vor allem für schwule und trans Menschen.
Seit der Netflix-Serie "Pose" lebt der Hype um Voguing in vielen Großstädten neu auf – auch in Hamburg. (bento)
Der Voguing-Abend findet im Jazz Café des Mojo Clubs statt, mitten auf der Reeperbahn: Schwarze Vorhänge, glatte Betonwände, blanke
Glühbirnen hängen von der Decke. Es läuft Soulmusik. Bärtige Hipster schlürfen Cocktails an der Bar. Gegenüber sitzen
Pärchen oder Tinder-Dates.

Gleich prallen hier Welten aufeinander. Denn die Ballroom-Szene hat sich gegründet, weil sie einst keinen Zugang hatte zu Orten wie diesem.
Mit ihren Händen und Posen erzählen Voguing-Performer, wer sie sind: Feminin, maskulin, von beidem ein bisschen, extrovertiert mit komplizierten Tanzschritten oder schüchtern und elegant.
Das Geschlecht ist dabei egal. Voguing ist eine Suche nach Zugehörigkeit und Anerkennung in einer ausgrenzenden Gesellschaft.

Eine junge Frau mit schwarzer Bob-Frisur hat den Abend in Hamburg organisiert. Hellblaue Highwaist-Schlaghose, ein limettengrünes, bauchfreies Top und Netz-Armstulpen in neon-orange.
Der Künstlername der 23-Jährigen ist "Jada Angels". Auf Facebook interessierten sich fast tausend Leute dafür. Der kleine Raum ist gut gefüllt, die Leute stehen dicht gedrängt. Die Zuschauer in den hinteren Reihen können kaum noch etwas sehen.
"Viel mehr, als wir gedacht hätten", sagt sie. Hier trifft sich die "Kiki-Szene", die Nachwuchssparte für junge Voguing-Performer. Die richtigen Bälle in Berlin seien noch viel größer, sagt Jada.
In der Mitte der Tanzfläche werden die Zuschauer auseinandergetrieben, um Platz für einen "Runway" zu machen. Das Publikum grölt schon nach der finalen Kategorie des Abends "Sex Siren". Wer zum ersten Mal dabei ist, versteht erst später, was damit gemeint ist.
Jetzt kommen erstmal die anderen Kategorien:
sagt Jada und übergibt das Mikrofon an Zueira Angels.
Die Performerinnen und Performer
treten in Gruppen an, sogenannten Häusern. In der Gründungszeit der Szene in den USA wurden schwule und trans Menschen oft von ihren Familien verstoßen – die "Häuser" waren ihre Ersatzfamilie.

Zueira, 32, ist die "Mutter" des "Kiki-House of Angels". Im durchsichtigen Streifen-Kleid kommentiert sie die Auftritte und sagt die "Kategorien" an – die erste ist "Runway".
Die Show beginnt. Aus den Reihen der Zuschauer treten von allen Seiten Menschen in Glitzer-Shirts und Neon-Outfits
hervor und stolzieren den Catwalk entlang.
Samantha verdreht ihre Handgelenke, verrenkt ihre Arme, geht in die Hocke und tanzt im Duckwalk über den Catwalk. Sie zeigt Pose nach Pose nach Pose. Alle Blicke und Handykameras sind auf sie gerichtet.
An den Scheiben des Mojo Jazz Cafés kleben jetzt ein paar Neugierige.
Zueira
Voguing im Mojo
Jeder kann mitmachen, sagt Zueira. Aber davon sollte man sich nicht täuschen lassen: Voguing ist kein Spiel, sondern ein harter Wettkampf.
Jede "Kategorie" hat klare Regeln. In manchen wird getanzt, in anderen stolziert. Auf einem Sofa vor der Bühne sitzt eine dreiköpfige Jury. Wer sie überzeugt, bekommt die Wertung Zehn und darf in die nächste Runde zu den Zweikämpfen – den "Battles". Wer die Kriterien nicht erfüllt, bekommt einen "Chop" und muss gehen.

Zueira
Der Preis für die Siegerin ist Anerkennung – und ein Mini-Kaugummiautomat.
Die Performer wählen ihre Kategorie selbst, überlegen, wo sie am besten glänzen können. Im "Old Way" oder eher beim "Vogue Femme", einem Tanz, bei dem man sich mit dem typischen "Dip" fallen lässt, die Beine nach oben streckt und sich auf dem Boden räkelt.
Zueira
Die Kategorien spielen mit Gender. Aber warum wollen Menschen, die nicht in Schubladen passen, sich davon nicht einfach befreien?
Schnell wird klar, warum: Die Voguing-Künstlerinnen haben sich eigene
Schubladen geschaffen. Eine Ausstellung von Körpern
– weiblichen, männlichen und nicht-binären. Die Grenzen dazwischen
verschwimmen. Voguing ist eine Suche nach Identität
– und ein Spiel damit.
Deswegen ist auch Samantha hier. "Seit ich klein war, habe ich
Tischdecken auf meinen Kopf getan und gesagt: Ich habe lange Haare, ich
bin eine Frau." Ihre Eltern hätten ihr das verboten. "Wir kommen aus Syrien. Dort wird es kulturell nicht
akzeptiert, wenn ein Junge sich weiblich verhält." Seit vier Jahren
lebt Samantha in Deutschland und hat die Möglichkeit sich hier
auszudrücken. Heute unterstützen die Eltern sie.
Dann ist Zeit für Samanthas Auftritt. Die Kategorie: "Face".

Zueira
Es läuft "Beautiful" von Snoop Dog und Pharrell Williams. Samantha hat ihre Nervosität vergessen. Sie schwebt über den Catwalk und präsentiert der Jury ihr kunstvoll geschminktes Gesicht. Sie reckt den Hals, wirft den Kopf in den Nacken und zeichnet mit den Händen ihre Wangenknochen nach.
Samantha gewinnt nicht – darf aber immerhin im Rennen bleiben. Nicht schlecht, für einen ersten Auftritt.
Samanthas Auftritt
Nächste Kategorie: Best Dressed.
Samantha schwebt mit einem flatternden Schal über den Laufsteg – und lässt ihn fallen!
Eigentlich ist das das Aus für einen Voguing-Auftritt. Es geht um Perfektion. Aber Samantha hat Glück: die Jury ist gnädig und sie kommt noch einmal weiter. Anfänger-Bonus.
Dabei hat sogar ihr eigener Voguing-Lehrer
Domi Twinkle, 23, gegen sie gestimmt. Er sitzt mit Lolli im Mund auf dem Jury-Sofa, rosa Glitzer-Shirt, kurzer
schwarzer Rock, blondierte Haarwelle, Nerd-Brille. Domi
hat vor vier Jahren das "Kiki-House of Twinkle" in Hamburg gegründet. "Beim Voguing geht es
darum, dich zu präsentieren. Du bist der Star des Abends", sagt er.
Den Hype um die Voguing-Ballroom-Szene findet er gut. "Aber das sollte weiterhin von Leuten gemacht werden, die auch aus der Szene stammen. Menschen, die das verstehen und nicht denken: Warum bewegt sich diese Person so vulgär".
Denn die Voguing-Abende sind für die queere Szene nicht nur schrille Tanzabende, sondern ein "Safe Space", ein sicherer Ort, um sich auszuprobieren.
Voguing
Was das bedeutet, wird klar, als Zueira die letzte Kategorie ausruft: "Sex Siren".
Der Saal johlt.
Jetzt müssen die Teilnehmer von ihren sexuellen Reizen überzeugen. Sie versuchen, die Jury anzumachen: mit Blicken, Posen, Brüste schütteln, Lippen lecken. Einige klettern den Jury-Mitgliedern sogar auf den Schoß.
Erst jetzt versteht man, worum es hier eigentlich geht. Zum Spiel mit Identitäten gehört es, Sexualität zu erforschen – in einem geschützten Raum. Filmen ist jetzt verboten.