Psychologie VOM IDEOLOGISCHEN GIFTMÜLL
Die Chinesen sind die gelbe Gefahr, die Japaner tun uns hier schön und klauen uns in Wirklichkeit unsere technischen Erfindungen, die bauen uns alles nach und sind zu faul oder zu dumm zum selbst Forschen. Von den Negern will ich gar nicht reden, daß die stinken und dumm sind, weiß jedes Kind (von anderen Kindern oder den Eltern). Hottentotten haben die Nase hinten oder so. Den Braunen in Mittelamerika muß man mühsam beibringen, wie man Zuckerrohr schneidet, und trotzdem haut einer manchmal seinem Freund mit dem Buschmesser ein Bein ab. Der liegt dann dem Plantagenbesitzer auf der Tasche. Den Türken darf man nicht zu nahe kommen, sonst holt man sich an der Knoblauchwolke eine Beule.
Wenn die Zigeuner kommen, muß man die Kinder einsperren, weil sie die klauen und zum Stehlen abrichten oder verkaufen. Der Iwan ist gutmütig, aber brutal, und wenn wir wegen der Partisanenbekämpfung ein halbes Dorf ausrotten mußten, wurde er unberechenbar. Die Franzosen, unsere Besatzer, sind feige, sie ziehen zehn Panzer zusammen, wenn ihnen ein Radfahrer entwischt ist, weil sie meinen, es ist der Werwolf. Und die Marokkaner, die sie für sich kämpfen lassen, wollen nichts anderes, als schwarze Kinder in blonde Frauen pflanzen, damit sie im Kral damit angeben können.
Die Polacken leben mit ihrem Vieh in der Küche und nehmen die Schweine mit ins Bett, wenn du's nicht glaubst, frag meinen Großvater, der hat's selbst gesehen. Aus den Juden hat man Seife gemacht; jetzt wird auch die knapp, deshalb sollte man dich auch vergasen, wegen dem Dreck, den du schwätzt. Wer schwarzschlachtet, den tut der Franzos' ins KZ. Beim Metzger ist ein Loch im Boden, unter einer Klappe. Da fällst du rein, und der Ami macht Büchsenfleisch daraus, für die Neger.
So kunterbunt sah es aus nach dem Krieg in unseren Kindergesprächen. Der Spottname für die Einwohner unseres Nachbardorfes, mit dem die Burschen im Prügelkrieg lagen, hieß: die Schenkele-Säger. Das führte ein geschichtskundiger Stadtschreiber auf die Verhör- oder Hinrichtungsmethode im Dreißigjährigen Krieg zurück, als man Gegner oder schwedische Spione an den Füßen aufhängte und, wie die Schweine von alters her, am Rückgrat entlang entzweisägte. Die Leute aus unserem Dorf hießen »die Geräuchten«, ob von der Inquisition oder vom Plündern und Brandschatzen oder von anderen Formen der Folter oder der christlichen Läuterung, blieb offen.
Die Altersschichten der Seele geben merkwürdige Inhalte frei, sobald man verborgene Türen der Erinnerung öffnet. Manchmal braucht es das Gespräch mit einem Freund, mit dem sich altersgleiche Kindheits- und Jugenderinnerungen austauschen lassen. Selbst wenn man tausend Kilometer entfernt voneinander als Kind den Krieg und das Kriegsende, Flucht oder Einquartierung von Flüchtlingen erlebte: die Struktur der rassistischen Implantate, der Feindbilder, der Verachtung, der abgrenzenden Dehumanisierung ist die gleiche.
Flüchtlinge stehlen einem das letzte Obst vom Baum. Oder: die geizigen Bauern würden uns eher verrecken lassen als uns die Rübenblätter zum Auskochen geben. Die Katholischen müssen beichten und lügen dabei. Die Evangelischen haben keinen Weihrauch, drum sind sie auch vertrieben worden. Weil Juden Hostien schänden, muß die Monstranz immer verschlossen sein. Albert Schweitzer hat keine Angst vor den Negern. Bei den Pygmäen muß eine, die man nicht mag, einen Affen heiraten und die Kinder allein aufziehen. Negerliebchen kriegen einen »Dürrständer« aufs Dach, ein vertrocknetes Bäumchen, damit man sieht, was das für eine ist. Rassenschande, Affenschande, kahlgeschoren, davongejagt.
Auf diesem Unrat des Gemüts sitze ich: Kindergartenzeit im Krieg, Volksschule kurz danach, weißt du noch, wie die den abgeschossenen Engländer einfingen, schade, daß man ihn abliefern mußte, sonst hätten wir ihn aufgehängt. Die Marokkaner haben doppelt so lange Schwänze wie wir. Die Russen waschen sich in der Kloschüssel und brunzen zum Fenster hinaus. Der Ami lebt von Kaugummi und Schokolade, pro deutschen Soldat haben die zwei Panzer eingesetzt.
Gymnasiumszeit von der Währungsreform an. Beginnende Schüleraustauschprogramme in den oberen Klassen mit den USA. Des Deutschlehrers Kommentar bei der Bewerbung: »Sie werden doch nicht zu den Kulturzigeunern gehen!« Manches hat sich gesetzt in der Oberschule, wurde zugeschüttet, nicht »aufgearbeitet«, vergessen, in Träumen umgewälzt, in neue Formen gegossen. Aber der Schichtenaufbau der Seele bleibt. Es bildet sich ein liberales Erwachsenenbewußtsein, aber das steuert nicht die Geruchszellen, die ihren Betrieb aufnehmen, wenn eine balkanische Gastarbeiter-Familie in München bei der Bahnfahrt in Studentenferien das Abteil füllt. Fluchtreflexe, Neugier und Verschmutzungsängste kommen in Gang.
Zwei schwarze Soldaten stellen sich in der Straßenbahn ziemlich dicht neben den Oberschüler, und der fängt an zu schwitzen, weil ihn sexuelle Angstphantasien überwältigen wollen. Die dunkelhäutige Bettlerin am Bahnhof, deren unterwürfiges Lächeln sich in Grimasse und Fluch verwandelt, als die Gabe verweigert wird, verwandelt sich in eine Hexe, von der man nicht weiß, ob sie nicht über die Stunde der Hartherzigkeit hinaus Macht über einen hat.
Die Hexen aus den Kindermärchen, Rübezahl und der schwarze Mann, der Schneider mit der Scher', der Teufel und das Fegefeuer verbinden sich mühelos mit den Trümmern von Ideologie, Verfolgung, Angst und Krieg, die von den Tischen der Erwachsenen fallen. Die gängigen Kinderängste fallen in eine Zeit, wo sich innen und außen vermischen. Der tanzende Jude im Dorn aus dem Märchenbuch und der Jud' im Kamin fließen ineinander. Niemand hilft bei der Unterscheidung von innen und außen.
Es ist klar, daß die Menschen verschiedene Farben und verschiedenes Lebensrecht haben, unterschiedlich böse oder hinterhältig oder leuchtend tugendhaft sind. Der Führer, der Adolf, das Schwein, unser Gott, den haben sie verraten, der ist nur untergetaucht und schmort in der Hölle, von dannen er wiederkommen wird.
Der erste Studienkollege, der mit einer Schwarzen poussiert, eine Mischung aus Held und Ferkel, heimlich und verschämt auf Abfärbungen hin beobachtet. Die erste Studienkollegin, die mit einem Asiaten die Nacht über auf der Bude bleibt! Hure oder Samariterin? Ihr armes, geschundenes Loch! Ist das nun Entwicklungshilfe oder moralischer Ausverkauf? Aber die wurden gemieden, als sie in die Küche des christlichen Studentenheims zum Frühstück kamen! Obwohl das Lernen von Toleranz ja zum Programm des Gemeinschaftslebens gehörte, genauso wie die Hausmusik.
Andere aus dem Studentenheim fuhren für ein paar Monate in ein Kibbuz nach Israel, ich bewunderte sie, aber mir war das fremd, konnte das erst 20 Jahre später. Damals vermochte ich den Satz über sie von wieder anderen deutschen Studenten, die mit den Teppichen handelten, die arabische Studenten von zu Hause mitbrachten, nicht recht einzuordnen: »Die kriechen schon wieder den Juden in den Arsch, das werden sie schon noch bereuen!«
Gut, mit uns hat nie einer geredet über die Giftmülldeponie des politisch-ideologischen Gerümpels, das wir als Kinder und Jugendliche aufgenommen hatten. Wer hätte denn helfen sollen beim Sortieren, die Eltern und Verwandten und die Lehrer bis zum Abitur hatten Angst vor ihrem eigenen Gerümpel. Die öffentliche Rede und die privaten oder halböffentlichen Ausrutscher widersprachen sich oft.
Mein Rassismus sitzt im Kinderkörper, steigt gelegentlich an unerwarteten Stellen auf und macht dem liberalen Erwachsenenbewußtsein zu schaffen. Ich bin empört über die Brandstifter an Ausländerheimen und sinniere über die Ursachen und die seelischen Abgründe.
Dann schaue ich zufällig dem »Nigger« bei der Eintracht Frankfurt beim Toreschießen zu, der in Wirklichkeit ein Farbiger ist, oder ein Schwarzer, und habe Tränen in den Augen, wenn seine weißen Mannschaftskameraden ihn umarmen. Plötzlich bin ich zehn und ein Fan von Yeboah, will mit ihm befreundet sein und hoffe, er würde nicht verlangen, daß ich ihn durch mein Heimatdorf führe. Aber heute würden ihn ja dort viele erkennen, und ich könnte mich in seinem Glanz sonnen, so wie sich der TV-Sportredakteur in seiner Ausländerfreundlichkeit sonnt, wenn er ihn vor die Torwand bittet.
Mit Yeboah würde ich Hand in Hand über die Frankfurter Zeil gehen, und wir Buben wüßten, daß wir jetzt öffentlich gegen den Rassismus demonstrieren. Uns wäre ganz feierlich zumute ob unserer Größe und unseres Mutes. Er wäre der Zöllner oder der Strauchdieb, mit dem ich mich einlasse, wie Jesus es befahl, der die Pharisäer ausgrenzen wollte. Wo mag der Neger gelebt haben mit 14, also genau in dem Alter, das ich jetzt einnehme vor dem Bildschirm, weil diese Schicht aus irgendeinem Grunde angebohrt wurde? Wenn er genauso eine Seele hat wie ich, könnte ich ihn sogar mit nach Hause nehmen, er dürfte nur die Wäsche im Gastbett nicht schwarz machen.
Wie lassen sich die frühen Einschreibungen abarbeiten, verwandeln, ins Positive wenden? Manche Ethnologen und Sozialpsychologen sagen, die Rassenschranken in den USA werden erst fallen, wenn es 10- bis 20mal soviel Mischehen gibt wie heute. Also der Weg über die Intimität. Aber den kann man nicht planen und suchen. Integration in den Schulen? Aber das braucht mehr Zeit für Gruppenpädagogik und soziales Lernen, als der Leistungslehrplan zuläßt. Zusammenarbeit am Arbeitsplatz? Schon ganz gut. Freundschaften? Gut.
Mit einem indischen Kollegen bin ich ein paar Wochen durch sein Land gereist. Bei ihm zu Hause gaben uns die Eltern ihr Schlafzimmer, wir schliefen unruhig nebeneinander wie die Wandervogeljünglinge, die rein bleiben wollen. Am anderen Morgen brachte uns der Vater den Tee ans Bett, von da ab waren wir wie Geschwister, das hat geholfen. Schmutzig war es nicht bei denen, im Gegenteil, in der Großfamilie der Frau wurde ich betreten beschaut oder bekichert, weil ich auch mit der linken Hand, die doch die unsaubere ist, in meinen Teller fuhr.
Allerdings haben die Brahmanen dort und viele andere Kasten die Unberührbaren, die sie verachten können. Mit denen habe ich mich wieder ohne größeren moralischen Aufwand barmherzig identifizieren können, obwohl oder weil ich aus der Nähe gar keinen zu Gesicht bekam. Und konditioniert, sie zu meiden, war ich auch nicht von Kind an.
Es gibt noch eine andere dünne Schicht im Kinderkörper, in der die Gefahr lauert: Ansteckung, durch die Beschmutzung, Tante Friedas Bazillenangst. Die ist nicht sehr ausgeprägt bei mir, aber doch gerade so weit fühlbar, daß ich ahne, was die jungen Brandstifter meinen, wenn sie sagen: Geschmeiß, das außer Landes getrieben gehört oder gereinigt oder desinfiziert oder entgiftet durchs Feuer.
Wenn der Volkskörper reagiert wie ein Kinderkörper, muß man vor Krankheiten auf der Hut sein, vor Auszehrung und Blutarmut. Infektionen und Läuse bedrohten unsere frühen Schulklassen. Vielleicht waren es die Flüchtlinge mit den komisch östlichen Namen, die sie immer wieder mitbrachten. Im Dorf gab es früher nie Läuse, sagte man. Der alltägliche Rassismus war selbstverständlich. Er ist später durch viele Filter gegangen. Aber im Unterbau der Seele gibt es ihn, und wer ihn nicht spürt, dem glaube ich nicht.
Martin Walser nannte im SPIEGEL die jungen Rassisten und Rechtsradikalen »unsere Kinder«, die wir nicht verleugnen, nicht als bloße Prügelknaben mißbrauchen sollten. Sie sind mir durch und durch zuwider, als Zerrspiegelbilder. Aber niemand hat ihnen Filter mitgegeben, oder historisches Wissen oder Einfühlung in sich selbst und andere.
Wie ich über den Rassismus heute denke und fühle, weiß ich. In der jüngeren Steinzeit meiner Kindheit und Jugend sah es ganz anders aus. Daß die junge Donau nicht weit von ihrer Quelle versickert und ganz woanders wieder zum Vorschein kommt, was man mit Salz- und Farbexperimenten nachgewiesen hat, schien im Heimatkundeunterricht eine rein geologische Denk- und Sehenswürdigkeit. Inzwischen sehe ich, daß dieses Versickern und wieder Aufsteigen von Affekten und Vorurteilen, im einzelnen und zwischen den Generationen, auch ein sozialpsychologisches Rätsel ist, unheimlich und schwer zu orten, vielleicht eine soziale Erkrankung. Die Erinnerung an das eigene verdorbene Gewebe ist ein kleiner historischer Selbstversuch, zur klareren Diagnose. Y
*VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:
Lädierte Lebensläufe *
entdeckt Tilmann Moser, 55, nicht nur bei jugendlichen Gewalttätern der rechten Szene. Auch in sich selbst ist der Freiburger Psychoanalytiker fündig geworden. Denn »Politik und seelischer Untergrund«, so der Titel seines jüngsten Buches, seien in jedem Menschen von Kindheit an verknüpft. Um Vorurteile aufzulösen, hat Freud-Kritiker Moser ein eigenes Therapie-Verfahren aus Seelendiagnose und Körperheilung entwickelt - mit Couch-Gesprächen allein komme man den sprachlosen Urängsten nicht bei.