Vom Ohr bis zur Fußsohle
Die Buchhandlung des Deutschen Bundestages, in der sich vorzugsweise Bonner Parlamentarier, Ministerialbeamte und Angehörige des Diplomatischen Korps mit einschlägiger Literatur eindecken, verzeichnet seit kurzem eine außergewöhnliche Nachfrage nach einer Neuerscheinung, die erst dieser Tage in das Buchsortiment aufgenommen wurde.
Jenes Buch, das sich unter der Bonner Prominenz derart regen Zuspruchs- erfreut, entstand unter der Mitarbeit der Vortragenden Legationsrätin und stellvertretenden Protokollchefin des. Auswärtigen Amts, Erica Pappritz, 63. Unter dem Titel »Das Buch der Etikette"* drückt die Legationsrätin der Bundesprominenz einen Leitfaden für hoffähiges Benehmen in die Hand.
Nach dem sicheren Urteil des CDU-Bundestagsabgeordneten Kurt-Georg Kiesinger, der dem Parlamentsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten vorsitzt, ist das Druckwerk geeignet, »bestehende Lücken auszufüllen«. Kiesinger genießt den Ruf, der Parlaments-Beau zu sein, und er wird in dieser Rolle bestätigt, wenn, seine Reden immer wieder durch Zwischenrufe wie »Primadonna!«, »Star-Allüren!« oder ähnlich schmückende Anmerkungen gewürzt werden.
Das Buch beschreibt, wie der feine Mann sich zu geben hat, und ein besonderer Absatz im Etikette-Buch der Vortragenden Legationsrätin Pappritz ist speziell dem männlichen Odeur gewidmet. Das Protokoll schreibt vor: »Der Duft, der den korrekten Adam umgibt, sollte nicht aus der Parfümflasche kommen. Er ist vielmehr das natürliche Ergebnis täglicher, intensiver Körperpflege, dem nicht mehr mit Moschus und Ambra nachgeholfen zu werden braucht. Wir begnügen uns mit herbem Rasierwasser, gestatten uns im Taschentuch ein wenig echtes Eau de Cologne, das auch nicht süßlich ist, und verzichten im übrigen auf betörende Wohlgerüche aller Art+mögen sie nun aus Paris kommen oder der Brillantine entsteigen.«
Das von der stellvertretenden Bonner Protokollchefin mitverfaßte Bildungswerk verrät noch mehr, was gleichermaßen den Gentleman wie die Lady auszeichnet: »Eine lückenlose Ganzwäsche - vom Ohr bis zur Fußsohle.« Für den Fall, daß Bedenken gegen eine tägliche Ganzreinigung bestehen, suggeriert Erica Pappritz: »Kennen Sie das erregende Gefühl, frisch gewaschen zu sein?«
Das Werk trägt der besonderen Vorliebe Bonner Diplomaten für das Tragen von Regenschirmen bei jedmöglicher Gelegenheit Rechnung: »Und wenn Sie im Hochsommer ohne Hut, ohne Mantel, ohne Handschuhe mit einer gutgeschnittenen Sportkombination (mit langer Hose natürlich) und Schirm durch die Straßen gehen, dann sind Sie nicht nur korrekt, sondern auch geschmackvoll angezogen.« Für die Anbahnung einer Straßenbekanntschaft empfiehlt die Autorin folgendes Anstandsbeispiel zur Nachahmung: Man ziehe den Hut, frage die gestellte Dame nach einer in ihrer Marschrichtung liegenden Straße und sage dann mit möglichst ernstem Gesicht: »Und jetzt, gnädige Frau, habe ich noch eine Bitte: Was halten Sie von verhältnismäßig gut erzogenen Männern, die eine Dame auf der Straße zwar nicht ansprechen dürften, weil sich das eigentlich nicht gehört - die es aber trotzdem tun, weil sie sich freuen würden, wenn sie diese Dame ein Stückchen begleiten dürften -, und zu diesem Zweck zu einer Notlüge greifen, die sie aber bereits nach einer Minute reuevoll eingestehen?«
Auch für den Fall, daß derart protokollgerechte Annäherungen erfolgreich enden, das heißt in eine »Bindung ohne Verbindung« auslaufen, hält »Das Buch der Etikette« eine gesellschaftsfähige Faustregel parat: »Etikette soll immer nur Rahmen sein, niemals beengende Fessel. Und Menschen, die da reif und selbständig sind, haben durchaus das Recht, sich jede Einmischung in ihre privatesten Angelegenheiten nachdrücklichst zu verbitten. Eine Frau, die für sich selber sorgt, im beruflichen Leben erfolgreich und zudem eine Persönlichkeit ist, darf sich sehr wohl ihr Leben nach ihrem Geschmack gestalten. Mit und ohne Partner. Es kommt nur auf das 'Wie' an.«
Auch für möglichst effektvolle wie gleicherweise standesgemäße Illuminationen ihrer Appartements findet die Bonner Hautevolee ein Rezept: »Von mir aus«, rät die Autorin, »brauchte es nämlich in Wohn- und Eßzimmern überhaupt keine Deckenbeleuchtungen zu geben. Sie sind mir zu hart. Dagegen tauchen indirekte, an verschiedenen Punkten des Zimmers angebrachte Lichtquellen den Raum, seine Einrichtung und die Anwesenden in ein weiches, streichelndes Licht. Und es dürfte feststehen, daß eine schöne Frau im zarten Schimmer indirekter Beleuchtung noch reizvoller aussieht als im harten Glanz direkten Lichtes.«
Lehrmaterial für Diplomaten
Nun werden freilich in dieser Anstands-Fibel selbst Lücken gestopft, die bislang keinem gesellschaftlichen Reglement unterlagen und der individuellen Eigenart des einzelnen freies Spiel ließen.
Unter der Rubrik »Toilette« erfährt man von der Vortragenden Legationsrätin Erica Pappritz: »Während und nicht erst nach der Benutzung wolle man sich der berühmten Kette bedienen. Dieses Gesetz gilt um so eiserner, je kleiner und hellhöriger die Wohnung ist. Danken wir der Technik, daß sie uns mit der Wasserleitung ein Mittel zur diskreten Neutralisierung unerwünschter Geräuschkulissen in die Hand gegeben hat. Womit Deutliches undeutlich, doch hoffentlich nicht unmißverständlich angedeutet werden sollte.«
Nach diesem schlichten Hinweis für stilgerechte Benutzung unerläßlicher Örtlichkeiten fehlt es auch nicht an einem kurzen Abriß der vorschriftsmäßigen Ausrüstung derartiger Nebengelasse: »Keinesfalls fehlen dürfen eine Stielbürste sowie jener mit Handgriff versehene Apparat, der der Sauberhaltung des Sitzes dient. Diese Utensilien sind unerläßlich, denn an diesem Ort - den sogar gekrönte Häupter zu Fuß betreten müssen - ist jeder für Reinlichkeit verantwortlich. Die Beseitigung irgendwelcher Benutzungsspuren von Dritten und sei es auch das Hauspersonal - verlangen, hieße das Gesetz der Menschenwürde mißachten.«
»Das Buch der Etikette« mit seinen Ausführungen über indirektes Licht, Straßenbekanntschaften und Menschenwürde dient der sogenannten »Diplomatenschule«, der Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amtes für die Anwärter des höheren auswärtigen Dienstes, bereits als offiziöses Lehrmaterial. Die Behauptung, daß dem deutschen Gesandten in der Schweiz, Dr. Friedrich Holzapfel, dessen protokollwidriges Auftreten wiederholt Ärgernis erregte, ein von der Autorin handsigniertes Exemplar überreicht wurde, konnte allerdings bisher nicht erhärtet werden.
* Erica Pappritz, Karlheinz Graudenz: »Das Buch der Etikette«; Perlen-Verlag, Marbach am Neckar; 510 Seiten; 26,80 Mark.