
Rückschau: Was aus berühmten Sommerlochtieren wurde
Mysteriöses Monster Was wurde aus Lotti, der Alligatorschildkröte?
Wo versteckt sich eine mächtig gepanzerte Schildkröte von mindestens 40 Zentimeter Durchmesser und 14 Kilogramm Gewicht? Bewaffnet mit einem gezackten, messerscharfen Schnabel, stark genug, Zehen oder Finger zu amputieren?
Das ist die Frage, die die bayerische Gemeinde Irsee über zwei Jahre in Atem hielt. Am 5. August 2013 hatte irgendetwas die Achillessehne eines achtjährigen Jungen durchschnitten, der im Oggenheimer Weiher planschte, einem beliebten Badesee.
Die Wunde war erheblich, die Ärzte waren ratlos, wodurch die Verletzung - ganz nah am Ufer - verursacht worden war. Andreas Lieb, seit 2002 Bürgermeister der Gemeinde, zu der auch der Badesee gehört, wollte Klarheit und schickte Fotos der Wunde an das Zoologische Institut in München.
Drei Tage nahmen sich die Experten dort Zeit. Dann warnten sie: Ja, dieser Biss könne unter Umständen von einer Alligatorschildkröte stammen. Die vorsichtige Ferndiagnose schlug ein wie eine Bombe: Wenige Stunden später war das verschlafene Irsee weltberühmt - und Mittelpunkt einer mitunter aberwitzigen Hatz.
Kein Fall für die GSG9
Der Badeweiher wurde gesperrt und durchsucht, vergeblich. Dann ließ man das Wasser ab: Helfer zogen Elektrozäune um den See, retteten die Fische. Andere mähten den Uferbereich auf Golfrasenkürze. Warnschilder wurden aufgestellt, Biber- und andere Tierfallen, in denen sich Lotti, wie die "Monsterschildkröte" inzwischen von den Medien getauft worden war, verfangen sollte.
Nach zwei Tagen war vom Badesee nicht mehr als ein Schlammkessel übrig, der eifrig durchsucht wurde - ohne Ergebnis. Freiwillige durchkämmten nun auch die Felder im Umkreis, Hunde suchten Fährten: Hatte sich das Monstrum abgesetzt, weil ihm der Menschenauflauf auf den Wecker ging? Lotti blieb unauffindbar.
Man müsse jetzt nicht gleich die GSG9 rufen, kommentierte damals Markus Baur von der Reptilienauffangstation in München, denn solche Schildkröten seien ja auch "enorm bewegungsfaul". Da könne es Monate dauern, bis das Tier auffällig werde.
An mangelnder Beobachtung lag es jedenfalls nicht, dass Lotti nicht gefunden wurde. Medien aus dem In- und Ausland schickten Kamerateams und bewachten den nun trockenen Tümpel über Wochen. Auch die Gemeinde und ihr Bürgermeister zeigten keine Ermüdungserscheinungen, und so füllte sich das "Sommerloch" 2013 mit Schlamm, umstellt von Schaulustigen.
Rückblick: Die Suche im August 2013

Suche in Irsee: Lotti, das Sommerphantom
Nachts, berichtete Baur, musste man dort mitunter "Tier-Esoteriker" mit Taschenlampen verscheuchen. Doch auch der professionelle Fangversuch des Reptilienexperten endete nur mit der erfolgreichen Bergung einer verwaisten Badehose.
War Lotti also nur ein Hirngespinst?
Das, sagt heute Patrick Boncourt von der Münchner Reptilienauffangstation, sei auch rückblickend sehr schwer einzuschätzen. "Wir haben immer wieder Fälle von ausgesetzten Tieren, die dem Menschen potenziell gefährlich werden können. Insofern lässt sich die Existenz von Lotti nach wie vor nicht völlig ausschließen."
In Irsee wollte man an das Monster glauben. Bäckereien begannen mit dem Verkauf von süßem Lotti-Gebäck, während andere T-Shirts und andere Souvenirs produzierten. Die "mediale Massenhysterie", wie Boncourt das in Rückschau nennt, wurde durch vereinzelte Sichtungen wach gehalten - Lotti wurde zu einer Art bayerischen Nessie.
Auf dem Höhepunkt der Lotti-Hatz setzte Bürgermeister Lieb ein Kopfgeld von 1000 Euro aus. Auf dem Schwarzmarkt allerdings, orakelte er, bringe so eine Exotenkröte weit mehr als das. Hatten also fiese Tierräuber die geliebt-gefürchtete Lotti entführt?
Vergraben, entführt oder ausgewandert?
Für eine Weile sah es so aus, dann kam es im folgenden Frühsommer zu einer weiteren Sichtung - in einem Karpfenteich! Eine Bürgerin wollte beobachtet haben, wie eine Ente im Dorfteich "vom Untergrund aufgesaugt" wurde. Das würde passen, frohlockte der Bürgermeister und ließ dort Tierfallen installieren.
Die Schwimmer am längst wieder freigegebenen Badeteich mag das fast so sehr erleichtert haben wie die Souvenirverkäufer im Ort: Lotti lebte!
Oder eben auch nicht. Dass man beim Abpumpen des Teiches im Juni 2013 einen rund 20 Zentimeter langen Flusskrebs gefangen hatte, der durchaus ebenfalls als "Täter" für die Verletzung des Jungen infrage gekommen wäre, war im medialen Blitzgewitter irgendwie untergegangen. Stattdessen jagte Irsee zwei Jahre lang einem Phantom hinterher, das für jede Menge Publicity sorgte - bis es beerbt wurde.
Denn tatsächlich landen ja immer wieder hoch gefährliche Schnappschildkröten in deutschen Gewässern - weil ihre Haltung in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen illegal ist. Wenn den Besitzern dann auffällt, dass sie die Tiere nicht beherrschen können, setzen sie sie oft einfach aus, weil sie rechtliche Konsequenzen fürchten, wenn sie die Tiere irgendwo abgeben.
Suárez, die nächste Phantomschildkröte
Warum aber machte dann eine nie gesichtete Alligatorschildkröte weltweit Schlagzeilen, während das Gros der jährlichen Fundmeldungen unbemerkt bleibt?
Boncourt: "Für die Medien ist das nicht immer von Interesse. Manchmal sind Wahlen, Naturkatastrophen oder Krisen verständlicherweise wichtiger, so dass unsere Meldungen schlicht unbeachtet bleiben."
Für eine mediale Karriere braucht eine Schnappschildkröte also ein passendes Sommerloch. Im Sommer 2014 wurde Lotti von Suárez daraus verdrängt, der angeblich in einem See bei Erlangen schwamm: Diese Schnappschildkröte hatte man nach dem beißfreudigen Nationalstürmer Uruguays benannt. Da konnte Lotti nicht mehr mithalten.
Auch Suárez wurde nie gefunden. Angler wollen seine Spuren Ende August 2014 im Schlamm gesehen haben, sie führten weg vom See. Vielleicht leben er und Lotti nun glücklich bis ans Ende ihrer Tage im Phantomreich der Sommerlochtiere.
Man weiß es nicht.

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