Wie die Pest
Der amerikanische Top-Designer Ron Doud, Gestalter der New Yorker Schickeria-Disco »Studio 54«, lag im Sterben. Doch die Ärzte traten nur widerwillig an sein Bett, das Pflegepersonal wollte ihn nicht waschen, die Putzfrauen weigerten sich strikt, das Klinikzimmer zu reinigen. »Als er tot war«, erinnerte sich sein Lebensgefährte, »atmete das ganze Hospital auf.«
Auf Long Island mußte ein Kranker, nachdem sein Siechtum in der Nachbarschaft bekanntgeworden war, seine Tochter von der örtlichen Schule nehmen - keiner wollte mehr etwas mit ihr zu tun haben. Selbst die Mülltonnen der Familie blieben ungeleert.
In Denver (US-Bundesstaat Colorado) warfen Eltern ihren todkranken 24jährigen Sohn aus dem Haus; nachdem er qualvoll gestorben war, lehnten sie die Annahme der Leiche ab.
Die drei Männer waren Opfer einer in den USA um sich greifenden, nachgerade hysterischen Angst vor Aids (Acquired Immune Deficiency Syndrome) - jener rätselhaften Krankheit, von der die Wissenschaftler bislang nur eines sicher wissen: daß sie vornehmlich Homosexuelle, neuerdings aber auch Kinder und Frauen befällt und fast stets tödlich verläuft (SPIEGEL 23/1983).
»Angst, Paranoia, Aberglaube«, summierte das Magazin »New York« die Gefühle und Einstellung vieler Amerikaner zu den Aids-Kranken. In den USA grassiere »eine Epidemie der Furcht«, beobachtete die »International Herald Tribune«.
Aufgeregt riefen Mütter in Krankenhäusern und bei Ärzten an, ob ihre Kinder in Bussen und U-Bahnen Handschuhe tragen müßten; Piloten weigerten sich, Aids-Patienten ins Flugzeug zu lassen; Polizisten und Gefängnisaufseher versehen sich mit Schutzanzügen und Spezialhandschuhen, wenn sie mit Aids-Kranken umgehen; Photomodelle lehnen es ab, sich von homosexuellen Maskenbildnern schminken zu lassen; in Büros und Fabriken sträuben sich Angestellte und Arbeiter, neben Aids-kranken Kollegen zu arbeiten.
»Einer unserer Mitarbeiter hat Aids. Was sollen wir nur machen?« fragten ratlos Mitarbeiter eines New Yorker Unternehmens beim örtlichen Vicent's-Hospital an. Lakonische Antwort: »Schlafen Sie nicht mit ihm.«
Erste Anzeichen der Aids-Furcht gibt es inzwischen auch in Europa: So wurde auf einem Expertentreffen in München die Forderung erhoben, bei der Herstellung bestimmter Impfstoffe die dafür nötigen Blutkonzentrate nicht mehr aus dem Ausland zu beziehen - unter den Spendern dieses Blutes könnten möglicherweise Aids-Kranke sein.
Obwohl die Gesundheitsbehörden immer wieder betonen, die überwiegende Mehrheit der Amerikaner habe »nichts zu befürchten«, obwohl Mediziner versicherten, Aids werde ausschließlich durch Blut oder innigen Schleimhautkontakt (etwa durch Geschlechtsverkehr) übertragen, verbreitet sich in den USA die Angst vor der Seuche schneller als die Krankheit selbst - als sei Aids eine moderne Version der Pest: *___In San Francisco lehnte es kürzlich eine ____Geschworenen-Jury ab, zur Beratung zusammenzutreten, ____weil eines ihrer Mitglieder an Aids erkrankt war; der ____Richter entließ den Geschworenen. *___Im kalifornischen Coronado stellte die Feuerwehr ihre ____Erste-Hilfe-Kurse ein, weil die Teilnehmer fürchteten, ____sich an der Übungspuppe zu infizieren. *___Als kürzlich in New York gegen einen mutmaßlichen ____Aids-kranken Angestellten verhandelt wurde, ließ der ____Richter den Saal räumen. Er selbst, der Staatsanwalt ____und die Geschworenen hatten sich vorsorglich mit ____Chirurgenmasken vermummt. *___TV-Techniker in San Francisco weigerten sich, einen ____Aids-Kranken ins Studio zu lassen - ausgerechnet für ____eine Sendung, in der »Aids demystifiziert« werden ____sollte; der Patient mußte telephonisch interviewt ____werden.
»Wir werden behandelt wie Aussätzige, wie früher die Pest- oder Leprakranken«, klagte Rick Crane, Vorsitzender der Aids-Stiftung in San Francisco. In New York forderten Homosexuelle mit einer »Mahnwache«, bei der für jeden Aids-Toten symbolisch eine Ziffer aus Pappe hochgehalten wurde, größere Unterstützung im Kampf gegen die Krankheit. Schon hat der Volksmund eine neue Bezeichnung für Aids gefunden - »Gay Plague«, die Schwulenpest.
Weitgehend erfolglos blieb bislang die Suche der Forscher nach dem Erreger der Krankheit, der das Immunsystem des Körpers lahmlegt - die Patienten sterben unter anderem an Lungenentzündung, Durchfall sowie einer bislang selten auftretenden Krebsart (Kaposi-Sarkom). Drei Jahre nachdem das Leiden bei ihnen diagnostiziert wurde, sind 86 Prozent der Aids-Opfer tot.
Ein erster Verdacht der Mediziner richtete sich gegen das T-Zellen-Leukämie-Virus (HTVL), das beim Menschen eine seltene Form der Leukämie auslösen kann: Bei einem Viertel der untersuchten Aids-Kranken fanden sich Antikörper gegen das Virus im Blut (Normalbevölkerung: ein Prozent).
Ein New Yorker Forscher-Team hingegen tippt auf den sogenannten Adeno-Virus 35 - einen Erregerstamm, der akute Entzündungen der Atemwege und der Lunge verursacht. Zu dieser Vermutung gelangten die Experten, nachdem sie Urin von 20 Aids-Patienten untersucht hatten - in 17 der Proben fanden sie die Adeno-Viren vom Typ 35. »Natürlich müssen wir noch wesentlich mehr Patienten untersuchen, um festzustellen, ob sich unser Verdacht erhärtet«, so Marshall Horwitz, einer der Experten.
Ebenso nebulös wie die Ursachen der Krankheit ist auch die wahre Zahl ihrer Opfer: In den USA registrierten die Centers for Disease Control (CDC) bislang 1641 Aids-Fälle, vorletzte Woche starb der 644. Aids-Patient. »Diese Zahlen jedoch verschleiern das wahre Ausmaß der Epidemie, da viele Fälle dem CDC gar nicht gemeldet werden«, behaupteten die Mediziner Jerome Groopman und Michael Gottlieb in einer Juni-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins »Nature«.
Ein sprunghaftes Anwachsen der Seuche befürchten Ärzte durch die Gay Pride Parades, zu denen sich Ende letzten Monats einige hunderttausend Homosexuelle in US-Großstädten trafen. Um das Schlimmste zu verhüten, durchkämmten etwa in San Francisco Ärzte und Krankenpfleger die Homosexuellen-Bars und Badehäuser - die Hauptgefahrenquellen für mögliche Ansteckung - nach stadtbekannten Aids-Patienten.
Doch so kunterbunt durcheinander wie einst geht es in den Etablissements nicht mehr zu: Statt massenhafter anonymer Sexkontakte - Ursache der schnellen Verbreitung von Aids in der Schwulen-Szene - begnügen sich Homosexuelle zunehmend mit einem festen Partner. Besonders in Homosexuellen-Hochburgen wie San Francisco und New York bleiben die traditionellen Homo-Treffs neuerdings halbleer. »Aids hat unseren Lebensstil radikal verändert«, so ein New Yorker Homosexueller.
Zusätzlich geschürt wird die Aids-Hysterie von Amerikas Konservativen, denen das in den siebziger Jahren gewachsene Selbstbewußtsein der Schwulen noch nie so recht gepaßt hat. So forderten etwa Fundamentalisten-Prediger, homosexuellen Verkehr zum Gesundheitsrisiko zu erklären; im texanischen Parlament wurde eine Gesetzesvorlage eingebracht, die vorsieht, homosexuelle Beziehungen wieder mit Strafe zu belegen.
Und der stellvertretende Vorsitzende der rechten amerikanischen Bürgerbewegung Moral Majority in Lynchburg (US-Bundesstaat Virginia) Ronald Godwin, kritisierte, daß die Suche nach Heilmitteln für die Aids-Krankheit mit öffentlichen Geldern finanziert werde: »Wir erlauben diesen durchseuchten Homosexuellen damit doch nur, zu ihren perversen Praktiken zurückzukehren. Und damit werden sie dann die ganze Nation infizieren und so Amerika zerstören.«