Dieser Beitrag wurde am 14.06.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Wenn ich an YouTube denke, fallen mir nicht der Wettbewerb um die meisten Abonnenten, idealisierte Teenie-Idole oder Fail-Compilations ein. Ich denke an kreativen Content – die Tutorials.
Als ich YouTube für mich entdeckte und begann, ganze Nachmittage und Abende, allein oder mit Freunden auf der Plattform zu verbringen, war YouTube viel kleiner als heute. Kathrin Fricke alias Coldmirror war mit nicht einmal 100.000 Abonnenten einer der meistabonnierten deutschen Channels. Zu dieser Zeit gab es auf Youtube außerdem Twilight-Rezensionen, Strichmännchenfilme, amateurhafte Musikvideo-Parodien – und schon erste Tutorials: massenweise Make-Up-Videos in Handykamera-Qualität.
Auch heute gibt es diese Formate noch. Allerdings professioneller und oft mit der Absicht, einen möglichst großen Gewinn zu erzielen. Während es bei den verwackelten Aufnahmen damals vor allem auf den Inhalt ankam, geht es heute oft um den schicken Schein.
Ich habe in den letzten Jahren alle möglichen YouTube-Tutorials gesehen – und einige tatsächlich nachgemacht. Unter anderem diese:
- Wie man eine Heizung entlüftet und bei einer Waschmaschine das Wasser ablässt (Backblech drunter schieben!).
- Wie man Smokey-Eyes schminkt.
- Wie man sich auf Vietnamesisch begrüßt und verabschiedet.
- Wie man einen perfekten Biskuit-Teig backt.
- Wie man auf einer Tin Whistle ein irisches Volkslied spielt (fragt meine Nachbarn).
- Wie man häkelt und Hosen enger näht.
- Wie man einen Handstand trainiert.
- Wie man mit einem Vektorprogramm arbeitet.
- Alle möglichen Formen von "ganz einfachen" Flechtfrisuren. Sehr viele Flechtfrisuren.
Viele
Tutorials sehe ich mir an, ohne dass ich sie
tatsächlich nachmachen möchte. Flechtfrisuren zum Beispiel. Denn eigentlich habe ich nicht wirklich Lust,
morgens eine halbe Stunde früher
aufzustehen, nur um meine Haare zu frisieren.
Auch bei Backvideos passiert mir das immer wieder.
Ich stoße an einem Samstag
zufällig auf ein Video, in dem ein Schokoladenkuchen gebacken wird.
Während ich das Tutorial ansehe, denke ich, dass ich das ja auch mal
ausprobieren könnte. Statt zum Supermarkt zu laufen und die
Zutaten einzukaufen, sehe ich mir dann doch noch ein Tutorial für einen
Kuchen mit zwei verschiedenen Schokoladensorten an und "lerne", wie man
den Kuchenboden ganz einfach in der Mitte teilt (mit Zahnseide!).
Natürlich denke ich, dass ich das auch könnte. Trotzdem sehe ich mir lieber noch ein Backtutorial für Kekse und eines für Muffins an – bis ich überhaupt keine Lust mehr habe, selbst etwas davon nachzumachen. Das Ansehen hat meine Lust aufs Backen schon befriedigt, bevor ich überhaupt angefangen habe.
Warum schauen wir bei Tutorials oft nur zu?
Beim Anschauen eines Videos tritt eine mentale Simulation ein, sagen Forscherinnen und Forscher. Ohne aktiv zu werden, wird das Ansehen zur Ersatzbefriedigung. So wird die eigene Motivation manchmal eher gebremst als gesteigert. (bento)
Die eigenen Fähigkeiten werden durch das Ansehen eines Videos aber gar nicht verbessert. Logisch: Üben müsste man natürlich trotzdem. Sonst endet man wie diese Menschen, die sich an der "Invisible Box Challenge" versucht haben, die in den Videos immer ganz einfach aussieht:
Eine Studie hat diesen Effekt nachgewiesen.
Die beiden Wissenschaftler Michael Kardas und Ed O'Brien zeigten Gruppen zwei Videos: einen Dartspieler und einen Menschen, der den "Moonwalk" tanzt. Je länger die Versuchsgruppen den Menschen im Video zusahen, desto überzeugter waren sie, die Tricks ebenfalls zu können – wenn sie es nur probierten. Ihre Fähigkeiten verbesserten sich aber gar nicht: Sie überschätzten sich nur. (Psychological Science)
Das erinnert
mich an die Flechtfrisuren-Tutorials. Im Video sah alles so einfach aus, dass ich überzeugt war, das sofort
hinzubekommen. Ein Wutanfall, verknotete Haare
und nach 20 Minuten schmerzende Oberarme belehrten mich eines Besseren.
Wer sich, weil er in der letzten Mathestunde nicht so gut mitgekommen ist, ein
Video ansieht, in dem jemand eine bestimmte Gleichung löst, wird vielleicht
überzeugt davon sein, selbst auch auf das richtige Ergebnis zu kommen. Spätestens in der Prüfung
wird er feststellen, dass das ein Trugschluss ist.
Also nie wieder YouTube-Tutorials?
Tatsächlich funktionieren theoretische Anleitungen, beispielsweise schriftlich, besser. Die eigene Leistung schätzen Menschen danach weit realistischer ein. (Psychological Science) Trotzdem sind die YouTube-Tutorials in vielen Fällen besser als jede Anleitung zum Nachlesen. Wer wissen möchte, wie man die Teigtasche aus dem japanischen Rezept richtig zusammenfaltet, kann das mit einem YouTube-Tutorial anschließend auch besser lernen. Vorausgesetzt, er kann sich dazu aufraffen, die Technik auszuprobieren – und nicht noch zehn weitere Back-Videos im Zeitraffer anzusehen.
Unterricht, üben, ausprobieren – das ersetzen die Tutorials nicht.
Manchmal sorgen sie sogar dafür,
dass wir gar nicht erst mit dem Nachmachen beginnen. Wenn man sich einredet, genug für eine
Klausur gelernt zu haben, weil man sich zwei Erklär-Videos auf dem Sofa
angesehen hat. Oder wenn man sich die Yoga-Übungen lieber erst einmal ganz genau
ansieht, bevor man sie am nächsten Tag nachmacht. Oder am übernächsten Tag. Oder nächste Woche?
Aber obwohl ich sicher niemals in drei Handgriffen einen virtuos geflochtenen französischen Fischgrätenzopf hinbekomme: Ich sehe mir weiter die Tutorials zu den Flechtfrisuren an. Manchmal ist das einfach ein schöner Zeitvertreib – wie lesen oder fernsehen. Man schaut einem Menschen dabei zu, wie er etwas tut, das er gut kann. Und es fühlt sich einfach gut an, ein paar Minuten lang der Illusion zu erliegen, es genauso gut zu können, wenn ich wollte.
Dass es Menschen gibt, die einem etwas beibringen, das sie schon gut können, ist toll. Sie geben mir die Möglichkeit, alles zu lernen, was ich möchte. Sie helfen mir, Probleme schnell in den Griff zu bekommen, ohne immer gleich Handwerker oder Freunde dazurufen zu müssen.