
Historischer Blackout: New York im Chaos
Blackout von 1977 New Yorks dunkelste Nacht
New York - Es war eine typische Sommernacht in der City: brütend, stickig, schwer. "Die Luft war so dick vor Schmier und Schmutz", erinnert sich der Schriftsteller Ernesto Quiñonez, "ich konnte New York mit meiner Zunge schmecken." Quiñonez, damals elf Jahre alt, wohnte in Spanish Harlem, einem der ärmsten Stadtviertel. Und einem der am ärgsten betroffenen, als die Lichter ausgingen.
Das war um 21.36 Uhr an jenem Mittwochabend, den 13. Juli 1977. Und nicht nur die Lichter gingen aus. Wie ein Buschbrand raste das Unheil durch die Leitungen, von Norden nach Süden, von der Bronx bis zur Battery, unaufhaltsam. Bald stand alles still, was Strom brauchte in der Millionenmetropole: Laternen, Ampeln, Klimaanlagen, Aufzüge, Vorortzüge, U-Bahnen, Krankenhäuser. 25 Stunden dauerte der große Blackout von 1977. Neun Millionen Menschen saßen im Dunkeln.
Doch katastrophaler noch war die andere Folge - eine, die die Stadt auf lange Sicht in ihren Grundfesten erschüttern würde. Aufgebrachte Horden marodierten durch die Straßen, plünderten Hunderte Geschäfte, setzten ganze Häuserblocks in Brand. Der finanzielle Schaden reichte in die Milliarden, der psychologische blieb unermesslich. Es war, in mehr als einer Hinsicht, eine der dunkelsten Episoden in der Geschichte von New York City. "Die Nacht der Terrors", titelte "Time" am Montag darauf.
Und, so fürchten die New Yorker bis heute, eine Nacht, die sich gut wiederholen könnte - zumindest, was das marode Elektrizitätsnetz angeht. Schon vor zwei Wochen gab es einen kleinen Vorgeschmack: 49 Minuten lang waren eine halbe Million Menschen auf der East Side und in der Bronx ohne Strom. Der Grund: ein Blitzschlag - die gleiche Ursache wie 1977.
Auf dem Empire State Building gefangen
Genauer gesagt waren es damals zwei Blitzschläge, die einen Transformator der städtischen Elektrizitätsgesellschaft Con Edison und mehrere Hauptleitungen lahmlegten. Kombiniert mit Personalmangel, schlechter Kommunikation, einer kafkaesken Bürokratie und einer lockeren Schraubmutter in einer Schaltstelle führten die Kurzschlüsse zur Kettenreaktion. 59 Minuten später war das gesamte Stromnetz zusammengebrochen.
Die Stadt, die ohnehin unter einer Hitzewelle ächzte, versank im Chaos. Tausende mussten aus Hochhäusern und stecken gebliebenen Aufzügen gerettet werden. 35 Menschen saßen stundenlang auf dem Aussichtsdeck des Empire State Buildings fest. Broadway-Musicals brachten ihre Aufführungen im Licht von Taschenlampen zu Ende. Die Schauspieler der Nudisten-Show "Oh! Calcutta!" liehen sich anschließend vom Publikum Kleidungsstücke, weil sie nicht in ihre Garderoben fanden.
"Das hat man davon, wenn man seine Rechnung nicht zahlt", juxte Bürgermeister Abraham Beame, den der Blackout während eines Wahlkampfauftritts erwischte, anfangs noch. Dann erklärte er den Ausnahmezustand.
Alle Flughäfen und Bahnhöfe, darunter das Grand Central Terminal, schlossen die Tore. 15.000 Passagiere mussten allein am Kennedy-Airport zwangsweise übernachten. Auch die Wall Street machte komplett dicht. Taxifahrer verlangten plötzlich das Fünffache für die Tour.
Die Schattenseiten einer Stadt
Blackouts bringen Gutes, aber auch das Schlechteste im Menschen hervor. Auf der feinen Upper East Side stellten die Restaurants ihre Tische auf die Straße. Unter den Prominenten, die sich zur Open-Air-Blackout-Party einfanden: Woody Allen, Al Pacino, Andy Warhol und Calvin Klein.
Die meisten Krankenhäuser hielten ihren Betrieb mit Notstromaggregaten mühsam aufrecht. Nur im klapprigen Bellevue Hospital fielen auch die aus. Das Personal dort betätigte die Beatmungsgeräte per Hand, um die Patienten am Leben zu erhalten.
Auch die Dreharbeiten des Films "Superman" wurden unterbrochen. Kameramann Geoffrey Unsworth dachte lange, er sei schuld an dem Debakel gewesen, weil er einen Scheinwerfer an einer Straßenlaterne angeschlossen hatte.
Und dann enthüllte der Blackout die Schattenseiten einer Stadt, die sich sowieso schon länger auf dem absteigenden Ast befand. Denn soziale Unruhen, Arbeitslosigkeit, eine hohe Kriminalitätsrate und ein mysteriöser Serienmörder, der sich "Son of Sam" nannte, hatten New York seit Monaten zermürbt.
Überfüllte, überhitzte Gefängnisse
Vor allem in den Ghettos und "Barrios" der Minderheiten, wo die Arbeitslosigkeit oft 40 Prozent erreichte, kippte der Frust schnell in Gewalt. Zehntausende Latinos und Schwarze ließen ihrer Wut freien Lauf. 16 Viertel waren betroffen, darunter Harlem, Crown Heights, Bushwick und die South Bronx.
Eine Orgie der Gewalt erfasste die Stadt. 1616 Geschäfte wurden geplündert. Die Feuerwehr musste 1037 Brände löschen, sechs Mal so viele wie sonst. 3776 Menschen landeten in den überfüllten, überhitzten Gefängnissen von Downtown. 463 Polizisten, 80 Feuerwehrleute und 204 Zivilisten wurden verletzt. Zwei Menschen starben im Feuer.
"Es ist Weihnachten!", brüllten die Plünderer. Sie rückten mit Schubkarren, Einkaufswagen und Kleinlastern an. Männer, Mütter, Teenager griffen sich alles, was nicht niet- und nagelfest war: Fernseher, Kühlschränke, Öfen, Lebensmittel, Windeln, Schmuck, Alkohol, Möbel, Medikamente. "Wir sind arm", gab einer das Motto jener Nacht aus, "und dies ist unsere Art, reich zu werden."
Selbst Kinder wie der elfjährige Ernesto Quiñonez wurden vom Klaurausch und dem blühenden Schwarzmarkt der folgenden Tage mitgerissen. "Die Zeit während des Blackouts und seine Folgen", schrieb Quiñonez jetzt in einem Essay für die "New York Times", "war die unehrlichste meines Lebens".
Auf und davon mit 300 Spülbecken-Stöpseln
Die 8000 eingesetzten NYPD-Polizisten waren überfordert. Ladenbesitzer bewaffneten sich mit Pistolen, Gewehren und Baseballschlägern, um ihre Existenz zu verteidigen, waren aber ebenfalls hilflos angesichts der Meute. Bei "Ace Pontiac" in der Bronx stahlen die Diebe 50 Autos im Wert von insgesamt 250.000 Dollar. Unweit davon verlor ein Möbelgeschäft Ware für 55.000 Dollar. In Bedford-Stuyvesant schnappten die Cops einen Mann mit 300 Spülbecken-Stöpseln. Viele Plünderer wurden auf dem Heimweg selbst überfallen. "Dies ist die Nacht der Tiere", sagte ein Polizist.
Die Zerstörungswut machte auch vor Manhattan nicht halt. Teile des Broadways standen in Flammen. In Little Italy riegelten Mafiosi das Viertel vor Eindringlingen ab.
Der finanzielle Schaden betrug nach einer Studie des US-Energieministeriums mindestens 350 Millionen Dollar. Experten schätzen heute aber, dass er sich auf über eine Milliarde Dollar belief. Allein die Geschäfte verzeichneten Verluste in Höhe von 156 Millionen Dollar. Berichte, die Geburtenrate in New York sei neun Monate später um 35 Prozent gestiegen, haben sich allerdings als Legende entpuppt.
Am Abend des folgenden Tages gingen die Lichter wieder an, und die Plünderer zogen sich zurück: "Christmas is over." Bürgermeister Beame verlor kurz darauf die Vorwahlen und fiel schnell dem historischen Vergessen anheim. Sein Nachfolger wurde Ed Koch.
Antiquierte Infrastruktur
Wie wenig sich seither geändert hat und zugleich wie viel, das merkten die New Yorker am 14. August 2003. Da überrollte ein Mega-Blackout den gesamten Nordosten der USA und Kanadas. Abermals erreichte die Sommerhitze 35 Grad Celsius. Doch statt mit Plündern reagierten die New Yorker diesmal mit Feiern: Die Blackout-Nacht wurde zu einer einzigen Freiluft-Fete - ein Zeichen, dass es der Stadt längst viel besser geht als in den siebziger Jahren.
Der letzte Stromausfall im Juni war eine weitere Vorwarnung. Ebenso die neun Tage, während der im vergangenen Jahr 174.000 Queens-Einwohner im Dunkeln saßen. Con Ed bleibt, auch nach 90 Millionen Dollar Investitionen in die Reparatur und Verbesserung seines Netzes, berüchtigt für seine antiquierte Infrastruktur. "Probleme wird's nun mal geben", wiegelte Con-Ed-Chef Kevin Burke ab - und kündigte gleichzeitig eine Erhöhung der Strompreise um 17 Prozent an.
Am Montag erreichte die Temperatur in New York erstmals in diesem Jahr 36 Grad. Con Ed setzte zusätzliches Personal ein. Und bat seine neun Millionen Kunden, die Klimaanlagen vorsichtshalber etwas niedriger zu stellen.