DDR-Spion Neue Stasi-Akte von Todesschütze Kurras entdeckt

Karl-Heinz Kurras war für die Stasi viel länger von Interesse als bekannt. Nach SPIEGEL-Informationen gibt es eine bisher verborgene Akte des früheren DDR-Top-Spions, die 1989 kurz nach dem Mauerfall vernichtet werden sollte. Der Vorgang war damals Chefsache - sogar Mielkes Vize war involviert.

Berlin - Die DDR lag bereits in den letzten Zügen, als in einem Büro im Ost-Berliner Bezirk Lichtenberg hektische Betriebsamkeit ausbrach. Drei Wochen zuvor war die Mauer gefallen, und jetzt, am 29. November 1989, versuchte Oberstleutnant Werner Eiserbeck zu retten, was zu retten war.

Der Führungsoffizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sorgte sich um das Wohl eines Agenten, der einmal zu seinen besten Quellen gehört hatte: Karl-Heinz Kurras, alias IM "Otto Bohl".

Ein letztes Mal ließ sich Eiserbeck den brisanten "Sicherungsvorgang" mit dem Decknamen "Vorstoß" kommen, in dem Kurras' Klarname, sein Geburtsdatum und seine Registriernummer bei der Stasi vermerkt waren. Dann spannte der Offizier ein Formblatt in seine mechanische Schreibmaschine und schrieb nach dem Vermerk "Wegfall der operativen Gründe!" den finalen Beschluss: "Der Vorgang ist zu vernichten."

Mit diesem Satz sollte die Stasi-Vergangenheit von Kurras, jenes Polizisten, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte, für alle Zeit aus der deutsch-deutschen Geschichte getilgt werden. Doch es kam anders: In den Wirren jener Wende-Tage, als bei der Stasi die Reißwölfe heiß liefen und die Heizanlagen mit Aktenordnern gefeuert wurden, blieb Eiserbecks Löschauftrag unerfüllt.

So fand der dünne Band, der sechs Seiten umfasst und vom MfS mit einer eigenen Registriernummer versehen wurde, seinen Weg in die Archive der Birthler-Behörde. Dort verstaubte er fast 20 Jahre lang unbeachtet in den Regalen, bevor er jetzt den abenteuerlichen Fall des Ost-Spions um zwei brisante Details erweitert: Aus den Papieren, die dem SPIEGEL exklusiv vorliegen, geht hervor, dass Kurras zeitweise Chefsache bei der Stasi war und sich das MfS wesentlich länger mit ihm befasste als bislang bekannt.

Bis vor wenigen Tagen war man bei der Birthler-Behörde davon ausgegangen, dass Kurras nur eine 17-bändige Stasi-Akte hatte, die dessen Umtriebe bis ins Jahr 1976 dokumentiert. Seine zweite Akte aber betrifft die Jahre 1987 und 1989 - und hat es in sich: Agent Kurras, von dem bislang angenommen wurde, dass er nach der Tötung Ohnesorgs vom MfS abgeschaltet worden war, hatte noch Jahre später das Interesse der obersten Stasi-Führung erregt.

Am 11. Dezember 1987 ordnete der Stellvertreter des DDR-Ministers für Staatssicherheit, Generalleutnant Gerhard Neiber, höchstpersönlich an, einen sogenannten "Sicherungsvorgang" zu Kurras einzuleiten. Als Begründung vermerke Mielkes Vize: "Aus operativen Gründen/Interesse".

Warum Kurras für die Stasi-Spitze "operativ" interessant geworden war, ist noch mysteriös - denn der Befehl stammt aus der Zeit, als der Beamte seinen West-Berliner Polizeidienst bereits quittiert hatte. Im Februar 1989 reaktivierte Generalleutnant Neiber dann auch noch Kurras' alten Führungsoffizier und übergab ihm den brisanten Vorgang. Dann klafft eine zeitliche Lücke - bis zu jenem Tag, an dem die Akte vernichtet werden sollte.

Die Entdeckung des Sicherungsvorgangs "Vorstoß" im Stasi-Archiv und die Tatsache, dass Kurras sogar die oberste Spitze des MfS beschäftigte, wirft einmal mehr die Frage auf, wie der Agent so lange unenttarnt bleiben konnte. Trotz des bundesweiten Wirbels, den der Fall seit Ende vergangener Woche auslöste, hatte die Birthler-Behörde die zweite Akte Kurras offenbar bislang übersehen.

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