Hiroshima-Serie Vernichtung, "sobald das Wetter es erlaubt"

Im zweiten Teil der Artikelserie zum Atombombenabwurf über Hiroshima: Wie europäische Wissenschaftler die technischen Probleme der ersten Nuklearwaffe lösten, was Truman bewog, die Bombe einzusetzen - und warum nur Japan als Ziel in Frage kam.

Die 60 Kilo Uran sowie einige Kilo Plutonium Pu-239 sind das Ergebnis von mehr als zwei Milliarden Dollar Kosten und vier Jahren Arbeit von 130000 Menschen, unter ihnen einige der brillantesten Physiker und Chemiker des 20. Jahrhunderts. Es ist die Ausbeute des geheimnisvollsten, teuersten und folgenreichsten Geheimprojektes des Zweiten Weltkrieges: des Manhattan Project.

Begonnen hatte alles wenige Jahre zuvor. Ende 1938 gelang den Deutschen Otto Hahn und Fritz Strassmann die erste Kernspaltung, indem sie Urankerne mit Neutronen beschossen. Dabei zerplatzten die Kerne in mehrere Teile, die zusammen weniger Masse als der Ausgangskern hatten. Die Differenzmasse war in Energie umgewandelt worden. Leó Szilárd, ein jüdisch-ungarischer Physiker, der 1933 das "Dritte Reich" verlassen hatte und schließlich in die USA emigriert war, erkannte, dass durch die Nuklearspaltung explosionsartig eine sich selbst in Gang haltende Kettenreaktion von Kernspaltungen entstehen kann, durch die innerhalb von weniger als einer Millionstel Sekunde eine ungeheure Energie freigesetzt wird. Eine Energie, welche das Naziregime in eine mörderische Waffe verwandeln könnte.

Überzeugungshilfe vom Kollegen Einstein

Aber wer sollte auf ihn, den unbekannten Exilanten, hören? Szilárd wählte den Umweg über Albert Einstein. Der berühmte Forscher war schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Princeton gegangen. Der Ungar brachte seinen Fachkollegen dazu, US-Präsident Roosevelt in einem Brief vor der Gefahr einer deutschen Atombombe zu warnen.

Dieser Brief war der Startschuss für das Manhattan Project - auch wenn es zu diesem Zeitpunkt noch niemand so nannte. 6000 Dollar flossen aus dem Etat der Navy an ein erstes Forschungsprojekt. Erst nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor wurden die wissenschaftlichen Anstrengungen potenziert: Jetzt arbeiteten Wissenschaftler in Dutzenden von Universitäten und Laboratorien an der Atombombe. Neben den US-Wissenschaftlern forschten Briten und einige der brillantesten Exilanten Europas - Leó Szilárd etwa oder der Italiener Enrico Fermi.

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Krieg in Bildern: Der Kampf im Pazifik

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Es waren vor allem drei Fragen, die die Forscher beantworten mussten:

- Wie kann eine kontrollierte Kettenreaktion gesteuert werden? Noch immer waren viele theoretische Fragen nicht geklärt. Etwa: Welche Materialien sind nutzbar, und welche Mengen müssen von ihnen gewonnen werden?

- Wie kann das fragliche Material in ausreichender Menge hergestellt werden?

- Wie kann aus dem schließlich gewonnenen Material eine Waffe gebaut werden?

Auf der Suche nach künstlichem Plutonium

Bei der Lösung dieser Probleme konnten die Wissenschaftler zum Teil auf schon bestehende Hypothesen aufbauen. So hatte der dänische Atomforscher Niels Bohr bereits eine Theorie der Kernspaltung entwickelt, wonach bei Uran nur das Isotop U-235 spaltbar ist. Isotope sind Atomarten, deren Kerne gleiche Protonen-, aber unterschiedliche Neutronenzahlen aufweisen. Die chemischen Eigenschaften sind jeweils sehr ähnlich, doch die Masse ist unterschiedlich. 99 Prozent des natürlich vorkommenden Uranerzes bestehen aus dem Isotop U-238, nur knapp ein Prozent entfällt auf U-235. Zum Bau einer Bombe müsste man demnach U-235-Isotope isolieren. Der US-Chemiker Glen Seaborg schlug 1941 das Plutonium-Isotop Pu-239 vor. Doch das muss künstlich erzeugt werden, und zwar indem Uran 238 mit Neutronen beschossen wird.

Das Prinzip war bei beiden Materialien gleich: U-235 und Pu-239 senden bei der Spaltung zwei bis drei Neutronen aus. Trifft eines dieser Neutronen einen anderen Atomkern, wird auch er gespalten, wobei abermals zwei bis drei Neutronen freigesetzt werden, die wiederum weitere Atomkerne spalten können, sodass, wie von Szilárd vorhergesagt, eine Kettenreaktion entsteht.

Allerdings müssen dafür genügend große Mengen des Materials auf einem begrenzten Raum vereint sein - die so genannte "kritische Masse". Bei der Überschreitung dieser Masse steigt die Neutronenstrahlung so sehr an, dass eine Kettenreaktion entsteht. 1942 kalkulierten Wissenschaftler, dass sie für eine Bombe etwa 50 bis 100 Kilo U-235 und rund zehn Kilo Pu-239 benötigen würden. Das war die Theorie - wie aber ließen sich die radioaktiven Isotope in derartigen Mengen gewinnen?

Ausbeute: Wenige Gramm Uran pro Woche

Ab dem 17. September 1942 setzte Colonel Leslie Groves, General und Koordinator des Projekts, die theoretischen Erkenntnisse der Wissenschaftler in praktische Resultate um. Als Erstes ließ er in Oak Ridge, Tennessee, einen gewaltigen Industriekomplex errichten. Hier wurde ab 1943 U-235 hergestellt, das man auf komplizierte Weise vom schwereren U-238 trennte. Ausbeute pro Woche: wenige Gramm. Und hier wurde auch ein Reaktor zur Produktion von spaltbarem Plutonium gebaut.

Den ersten funktionsfähigen Kernreaktor der Welt nahm der Physiker Enrico Fermi am 2. Dezember 1942 in einer Turnhalle der Universität Chicago in Betrieb. Fermi erzeugte damit die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion, indem er die Neutronen, welche die Uran-Isotope aussenden, mit Graphit abbremste. Mit dieser Form der Kernreaktion, die langsam und kontinuierlich ablief, konnte Plutonium Pu-239 hergestellt werden.

1943 wurde Julius Robert Oppenheimer zum wissenschaftlichen Direktor des Manhattan Projects ernannt. Die Forscher in den mehr als 30 Laboratorien und Produktionsstätten arbeiteten weitgehend isoliert von der Außenwelt. Keiner wusste: Wie weit waren die Deutschen?

Nur Japan blieb als Angriffsziel übrig

Was Groves und seine Männer nicht ahnten: Die deutschen Wissenschaftler um Hahn hatten nach 1938 nur noch geringe Fortschritte gemacht. Und das verwüstete Land war militärisch-industriell längst nicht mehr in der Lage, spaltbares Material herzustellen und es in eine Atombombe zu packen. Das Rennen um die Atombombe hatten die Amerikaner bereits 1942 gewonnen.

Im April 1945 war absehbar, dass bald ausreichend Material bereitstehen werde: Plutonium für zwei Bomben, Uran für eine Bombe. Doch zu diesem Zeitpunkt war die Kapitulation des "Dritten Reichs" nur noch eine Frage von Tagen. Die Angst vor der deutschen Bombe, das wichtigste Motiv zum Start des Manhattan Projects, hatte sich in nichts aufgelöst.

Blieb nur noch Japan.

Am 16. April 1945 trafen sich im Pentagon General Groves, Colonel Tibbets sowie einige Offiziere und Wissenschaftler. Zweck der Konferenz: Ziele festzulegen für die Atombombe. Nach langer Diskussion einigte sich die Runde auf vier, später drei weitgehend unverwüstete Städte: Kokura, Nagasaki und, mit oberster Priorität, Hiroshima.

An die Bomberverbände erging der Befehl, diese Städte auch fortan zu meiden. Die US-Militärs wollten die "Superbombe" auf unzerstörte Ziele abwerfen, um deren Wirkung besser studieren zu können. Da über Japan oft in 8000 bis 10000 Meter Höhe Schleierwolken ziehen, wurden Meteorologen befragt, wann mit bester Sicht zu rechnen sei. Ihr Rat: im August, am besten in der ersten Monatswoche.

An jenem Tag in Washington - neun Tage, bevor Präsident Truman überhaupt von der Existenz der Atombombe erfuhr, und drei Monate, bevor erstmals ein Testexemplar gezündet wurde - war das Schicksal von Hiroshima bereits besiegelt.

Lesen Sie im zweiten Teil: Was Truman zum Einsatz der Bombe bewog

Das neue Zeitalter begann am 16. Juli 1945 um 5.30 Uhr. In einer Wüstengegend New Mexicos, der die Militärs - auf Oppenheimers Vorschlag hin - den Codenamen "Trinity" gegeben hatten, "Dreifaltigkeit", zündeten Wissenschaftler eine der beiden Plutoniumbomben.

Ein Feuerball, so hell wie tausend Sonnen, schmolz den Wüstensand zu Glas. Der Blitz und der Rauchpilz waren noch Dutzende Kilometer weit zu sehen, die Zerstörungskraft von Hitze und Druckwelle übertraf die kühnsten Erwartungen von Militärs und Wissenschaftlern.

"Was für eine Explosion!"

"Was für eine Explosion", meldete Groves an den Präsidenten in einem Memorandum. Der Satz ist, untypisch für einen militärischen Bericht, freigestellt, unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen geschmückt.

Und noch etwas zeugt vom Optimismus und von der Ungeduld der Männer des Manhattan Projects: Der Zylinder mit dem U-235-Kern für die Uranbombe hatte bereits am 14. Juli die Waffenfabrik in Richtung Tinian verlassen - zwei Tage vor dem ersten Test. Die Atombombe war einsatzbereit. Wie würde sich der Präsident entscheiden?

Harry Truman befand sich an diesem Tag in Potsdam. Gemeinsam mit Winston Churchill und Josef Stalin entschied er in einer mehrwöchigen Konferenz über die Ordnung der Nachkriegswelt. Stunden nach der Explosion war ihm ein erster Rapport zugestellt worden.

Andererseits hatte er drei Tage vor der Zündung von seinen Diplomaten erfahren, dass sich die japanische Regierung diskret nach den Friedensbedingungen erkundigte. Das Kaiserreich war bereit, sich zu ergeben. Die einzige Bedingung der Japaner: Der Tenno dürfe auf keinen Fall abgesetzt oder gar, wie auf alliierter Seite gefordert, vor ein Gericht gestellt werden.

Die Bombe als Alternative zur Invasion?

Doch weder Truman noch Churchill oder Stalin dachten daran, diese Bitte zu erfüllen. Seit 1943 schon hatten die Alliierten die "bedingungslose Kapitulation" Deutschlands und Japans verlangt. Wenn Tokio dies nicht akzeptiere, so sah es Truman, dann werde ab Herbst 1945 die US-Invasion anrollen. Die wiederum, das versicherten ihm seine militärischen Berater, würde eine Million amerikanische Opfer fordern. Wäre es da nicht geradezu human, die Atombombe einzusetzen? Die Bombe als Alternative zur Invasion? Die nukleare Explosion, die im Bruchteil einer Sekunde vollbringt, was sonst nur durch einen monatelangen Landkrieg erreicht werden könnte?

Lieber einige zehntausend Opfer durch einen Blitz als einige hunderttausend durch einen Feldzug? So dachte Truman, so zumindest hat er bis zum Ende seines Lebens argumentiert. Und doch waren seine Motive - und die der Militärs - möglicherweise sehr viel komplexer. Oder sehr viel simpler.

Komplexer, weil sich Truman schon kurz, nachdem er von der Existenz des Atombombenprogramms erfahren hatte, Ratschläge geben ließ. Er berief ein Komitee aus Wissenschaftlern und Politikern ein, um sie zu fragen, ob die Bombe eingesetzt werden solle. Die Männer, unter ihnen Oppenheimer und Fermi, votierten dafür, Japan ohne Vorwarnung anzugreifen. Andere Atomforscher dagegen, etwa Leó Szilárd, sahen nach der deutschen Kapitulation keine Notwendigkeit mehr für einen Einsatz. In einem Memorandum vom 11. Juni 1945 rieten sie, japanische Beobachter zu einer Testexplosion einzuladen, damit die sich von der schrecklichen Wirkung der Waffe überzeugen konnten.

Die US-Militärs lehnten diesen Vorschlag ab: Was wäre, wenn diese erste Explosion einer nie zuvor getesteten Waffe scheitern würde? Statt Japan zu entmutigen, hätte eine Fehlzündung den Kampfeswillen des Feindes gestärkt. Ein mögliches weiteres Motiv für Trumans Entscheidung: Der spätere Außenminister James Byrnes hatte bereits am 3. März 1945 in einer Denkschrift daran erinnert, dass das Manhattan Project zwei Milliarden Dollar verschlungen hatte - und zwar aus Geheimfonds. Diese Ausgaben waren vor dem US-Kongress verheimlicht worden. Zudem waren zwei für das Projekt wichtige Firmen von staatlichen Ermittlungen wegen Kartellbildung verschont worden. "Wenn das Projekt ein Fehlschlag wird", warnte Byrnes, "wird es zu gnadenlosen Untersuchungen und zur Kritik führen." Mit anderen Worten: Wenn die Regierung ein Vermögen heimlich ausgibt, ohne dafür ein überzeugendes Resultat präsentieren zu können, riskiert sie ihre politische Existenz.

Der Sowjetherrscher zeigte sich freundlich interessiert

Zudem dachten manche amerikanische Politiker bereits nicht mehr an Japan - sondern an die UdSSR. Der US-Präsident hatte Stalin am 24. Juli in Potsdam eher nebenbei über die Existenz einer "neuen Bombe" informiert, der Sowjetherrscher hatte sich freundlich interessiert, aber nicht weiter beeindruckt gezeigt.

US-Kriegsminister Henry Stimson dagegen hatte bereits einen Tag zuvor in seinem Tagebuch notiert, dass die Sowjetunion ohne einen amerikanischen Einsatz der Atombombe im Pazifik ungeheuren Einfluss gewinnen werde. Die Bombe sollte also nicht in erster Linie Japan niederzwingen, sondern die UdSSR aus dem Fernen Osten heraushalten.

Vielleicht waren Trumans Motive aber auch viel simpler: Die Atombombe wurde abgeworfen, weil sie da war. Schließlich setzten im Zweiten Weltkrieg alle Kontrahenten fast jede Waffe, die einsatzfähig war, auch tatsächlich ein. Und warum sollte man ausgerechnet auf die Japaner Rücksicht nehmen, die den Krieg im Pazifik ja schließlich mit dem Angriff auf Pearl Harbor begonnen hatten - einem infamen Überfall ohne Kriegserklärung, der 2500 Amerikaner das Leben gekostet hatte?

Der britische Premier Winston Churchill jedenfalls, dem am 17. Juli ein codiertes Telegramm mit der Nachricht von der Atombombenexplosion ("Babys problemlos geboren") überreicht worden war, schrieb später über die entscheidenden Tage von Potsdam: "Nicht für einen Augenblick gab es eine Diskussion darüber, ob man die Atombombe einsetzen sollte oder nicht." Ob nun nach sorgfältigem Abwägen oder ohne lange nachzudenken: Am 25. Juli 1945 gibt Truman der Strategischen Luftflotte im Pazifik den Befehl, die "Spezialbombe" nach dem 3. August einzusetzen, "sobald das Wetter es erlaubt".

Das Wort "Atombombe" fällt im Briefing nicht

Tinian, North Field, Samstag, 4. August 1945, 15.00 Uhr. Sechs Crews der 509th Composite Group haben die Order, sich im Versammlungsraum einzufinden. In der Nissenhütte ist es stickig von Zigarettenqualm. Captain William Sterling Parsons, ein Marinetechniker, erhebt sich. "Ich habe an der Bombe, die Sie bald abwerfen werden, mitgearbeitet", beginnt er. Dann zeigt er Bilder der ersten Atombombenexplosion in New Mexico, die er selbst an Bord eines Beobachtungsflugzeuges miterlebt hat. Er gibt eine kurze Einführung in das Projekt. Das Wort "Atombombe" benutzt er nicht. Die meisten Männer in der Baracke wissen immer noch nicht genau, was sie bald abwerfen sollen. Doch immerhin dies: Parsons schätzt, dass die Sprengkraft ihrer Bombe der von 20 Kilotonnen TNT gleichkommt. Das entspricht der Zerstörungskraft zweier 1000-Bomber-Angriffe.

Dann werden neue Bilder an die Wand geworfen - und jetzt geht erstmals ein Raunen durch die Reihen. Luftaufnahmen einer unzerstörten japanischen Stadt! Niemand hätte es für möglich gehalten, dass es noch unverwüstete Orte beim Feind gibt.

"Das ist Hiroshima", sagt Tibbets. Stundenlang werden die Soldaten von Offizieren und Wissenschaftlern eingewiesen: Drei B-29 werden vorausfliegen, je eine nach Hiroshima, Kokura und Nagasaki. Es sind die Pfadfinder, die das Wetter und mögliche Flugabwehrreaktionen über den Zielstädten auskundschaften sollen. Eine Stunde später wird ihnen die B-29 mit der Atombombe folgen, begleitet von einer weiteren Maschine, welche Messinstrumente abwerfen soll, und einer dritten, von der aus Film- und Fotoaufnahmen gemacht werden.

Von Cay Rademacher, GEO Epoche 

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