Neue Aktenfunde Mit Kurras auf dem Klo

"Ohne Mitleid und Reue": So beschrieb sein Führungsoffizier den westdeutschen Stasi-Spitzel Karl-Heinz Kurras. 1976 kam es in Ost-Berlin zum wohl letzten Treffen der Männer. Dabei fotografierte die Stasi, ohne dass der Spion es bemerkte - jetzt hat die Birthler-Behörde die historischen Bilder freigegeben.

Berlin - Der Bericht von Major Werner Eiserbeck ist ein Prachtbeispiel für jene Stasi-Prosa, die das Studium von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für Historiker und andere Interessierte immer wieder zum Vergnügen macht. Mit Datum vom 26. März 1976 schilderte der langjährige Führungsoffizier des West-Berliner Kripo-Mannes Karl-Heinz Kurras ein Treffen mit seinem einstigen Schützling in Ost-Berlin.

Die beiden hatten sich zu diesem Zeitpunkt knapp neun Jahre nicht mehr gesehen. Nachdem Kurras am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte, bekamen Eiserbeck und seine Genossen kalte Füße und schalteten den Todesschützen aus Angst vor Entdeckung umgehend ab.

Doch Kurras war seinen geheimen Herren offenbar vollkommen treu geblieben. Als Eiserbeck ihn in der Gaststätte im "Haus des Lehrers" unweit des Alexanderplatzes in Ost-Berlin traf, stellte er erstaunt fest: "Der Kurras verhielt sich so, als ob das letzte Zusammentreffen erst vor einigen Tagen stattgefunden hat."

Kurras hatte sich offenbar zuvor telefonisch angekündigt. Die Stasi hatte zumindest Zeit, einen Fotografen in Stellung zu bringen. Der lichtete Kurras und seine Frau auf dem Weg zum und vom Treffen diskret ab. Die für die Stasi-Unterlagen zuständige Birthler-Behörde gab am Freitag fünf Fotos frei, die Kurras in der Hauptstadt der DDR zeigen, zumeist mit seiner Frau.

Zunächst "wurden mehrfach direkte Sichtverbindungen hergestellt" - so beschreibt der Stasi-Mann das Treffen in seinem Bericht. "Kurz darauf wurde gegen 14.15 die Gaststätte verlassen. Kurze Zeit danach verließ Kurras die Gaststätte ebenfalls und folgte unauffällig dem Unterzeichnenden zur Toilette."

So war das Agentenleben im Berlin des Kalten Krieges. Man ging nicht aufs Klo, um seine Notdurft zu verrichten, sondern um ein paar vertrauliche Worte zu wechseln.

Die Örtlichkeit mag dazu beigetragen haben, dass der Ton "sehr vertraulich" gewesen sei. Kurras habe sich im Toilettenraum nach dem "Wohlbefinden" seines Stasi-Kontaktmannes erkundigt und ihm mitgeteilt, er sei "bei bester Gesundheit".

Kurras berichtete, dass er inzwischen bei der Kfz-Fahndung der Kripo tätig sei. Und: "Seine Entwicklung sei durch das damalige Vorkommnis nicht mehr beeinträchtigt." Er sei inzwischen zum Kommissar befördert worden, und bald bestehe die Möglichkeit, Oberkommissar zu werden, "nach seinen Darlegungen hat er alte Gönner verloren, aber neue gewonnen".

Zum Todesschuss auf Benno Ohnesorg äußerte sich Kurras laut Stasi-Bericht so: "Die Situation wurde zu einer reinen Existenzfrage, zu der Frage: Leben oder Tod. Aus diesem Grunde hat er so gehandelt. Sein Leben war durch das Angreifen der Radikalen mit einem offenen Messer gefährdet." Kurras habe erklärt, "dass er sich nichts vorzuwerfen hatte und nichts bereut". Außerdem machte er den Einruck, dass er "von der Richtigkeit seiner Handlungsweise überzeugt" sei und "kein Mitleid in irgendeiner Form" habe.

Die Einreise von Kurras zusammen mit seiner Frau über den Bahnhof Friedrichstraße war problemlos verlaufen. Major Eiserbeck sagte seinem einstigen Top-Agenten, dass das MfS ihn möglicherweise künftig wieder kontaktieren werde. Der zweimal vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochene West-Berliner Polizist erklärte, dass seine Einstellung zum MfS sich nicht geändert habe. Kurras war ein treuer Genosse.

Doch der mit der Schattenwelt der Geheimdienste vertraute Stasi-Major traute seinem einstigen Informanten nicht ganz über den Weg. Zwar schlug er vor, die "Verbindung zu dem Kurras schrittweise wieder aufzubauen" und zu prüfen, was er Interessantes liefern könnte. Im letzten Punkt des Berichts von Major Eiserbeck aber heißt es: Es seien "Überprüfungsmaßnahmen einzuleiten, um Anzeichen einer evtl. feindlichen Tätigkeit rechtzeitig zu erkennen".

Es ist unwahrscheinlich, dass Kurras ein Doppelagent war. Über weitere Treffs mit Stasi-Offizieren sind in den 17 Bänden der MfS-Akten zu Kurras keinerlei Hinweise zu finden. Er selbst schweigt.

Was bleibt, sind die Fotos eines 49 Jahre alten, gut gekleideten Herrn. Er fällt durch seine aufrechte Haltung auf, sein Tweed-Mantel und sein Halstuch geben ihm einen englischen Touch. Das dezente Outfit passte perfekt zum Berliner Agentenleben.

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