RAF-Geisel Schleyer "Sie haben Schach gespielt und Gesellschaftsspiele"
SPIEGEL ONLINE: Herr Hachmeister, war Schleyer ein Opfer der RAF oder der Staatsräson?
Hachmeister: Er war sicher beides. Die RAF hat ihn hingerichtet, und der Staat hat ihn in einer zugespitzten historischen Situation geopfert. Aber es wäre falsch, Hanns Martin Schleyer nur in der Opferrolle zu sehen. Sein Leben bestand nicht nur aus den 44 Tagen in der Gewalt der RAF.
SPIEGEL ONLINE: Mit der Entführung Schleyers wollte die RAF ihre in Stammheim inhaftierten Kumpane freipressen, doch der Versuch scheiterte. Hatten sich die Terroristen mit dem Präsidenten der Arbeitgeberverbände den Falschen ausgesucht?
Hachmeister: Sie hätten damals gefangen nehmen können, wen sie wollten, der Staat hätte ihn nicht ausgetauscht - mit Ausnahme vielleicht von Helmut Schmidt selbst. Aber unterhalb dieser Ebene war 1977 die Entscheidung klar. Schleyer hat vor seiner Entführung ja mit Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf und anderen darüber geredet, was passieren würde, wenn einer von ihnen gekidnappt würde. Sie waren sich einig gewesen, dass sie nicht ausgetauscht werden wollen und können. Das war eine gemeinsame Linie bei den damaligen Führungskräften der Bundesrepublik. Dass man dann anders reagiert, wenn man tatsächlich den Tod vor Augen hat, ist sehr verständlich.
SPIEGEL ONLINE: Und wenn das Opfer Ex-Kanzler Willy Brandt gewesen wäre? Dass die RAF ihn auch im Visier hatte, ist kürzlich noch einmal in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten.
Hachmeister: Für Willy Brandt hätte wohl gegolten, was für Helmut Schmidt galt. Aber das ist auch eine sehr hypothetische Frage, weil die RAF-Leute selber gemerkt haben, dass das eine noch absurdere Strategie gewesen wäre, als die dann von ihnen tatsächlich realisierte Aktion.
SPIEGEL ONLINE: Besonders Schleyers SS-Vergangenheit faszinierte die RAF-Leute. Überwog für sie Schleyers vermeintlich hoher "Marktwert" bei dem Erpressungsversuch, oder war es vor allem eine Abrechnung mit der NS-Vergangenheit?
Hachmeister: Für die RAF kamen alle möglichen Faktoren zusammen. Zum einen war Schleyer formell der wichtigste Repräsentant der deutschen Wirtschaft: Zum anderen war er SS-Offizier, und er hatte diese Vergangenheit auch nie abgestritten, keine Reue gezeigt. Im Gegenteil, es gab diese Home-Story im "Stern", unter dem Titel "Boss der Bosse", in der Schleyer sehr nonchalant die Haltung vertrat: Was passiert ist, ist passiert, und ich habe da nichts zu entschuldigen. Diese Geschichte war eigentlich der Katalysator für die Entführung. Schleyer war zwar schon auf der Liste der RAF, aber diese Geschichte hat ihn eigentlich zum Kandidaten Nummer eins für eine Entführung gemacht. Insofern kam der "Marktwert" zusammen mit einer verspäteten moralischen Entrüstung über den Lebenslauf dieses Mannes.
SPIEGEL ONLINE: Es gab ja auch den Plan, Schleyer mit seiner SS-Nummer um den Hals zu fotografieren.
Hachmeister: Das wurde diskutiert unter den Mitgliedern des Kommandos, von denen einige ja durchaus medienerfahren waren und die Wirkung abschätzen konnten. Man war sich dann aber sehr schnell klar, dass dieses Vorgehen den Wert Schleyers als Tauschobjekt eher weiter herabgesetzt hätte.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrer Biografie schildern Sie Schleyer eher als einen Mann der zweiten Reihe, der mit der bundesrepublikanischen Wirtschaftselite zwar bestens vernetzt, aber eher Ausführender als Entscheider war. Hat die RAF sich in ihrem Anschlagsziel vertan?
Hachmeister: Das RAF-Kommando bestand ja nicht aus ausgewiesenen Sozialwissenschaftlern und gelernten Historikern, sondern zum Teil aus Drop-outs oder Leuten, die ihre Zeit in Heimen verbracht hatten, die eigentlich sozialisiert waren durch die Empörungswelle, die durch Stammheim ausgelöst worden ist. Und wenn sie genauer recherchiert hätten, dann hätten sie herausgefunden, dass Schleyer in dem Moment, als sie ihn entführt haben, eher ein Verlierer war - er hatte den Kampf um den Vorstandsvorsitz bei Daimler Benz verloren, er hatte große Schwierigkeiten damit, diese beiden sperrigen Verbände BDA und BDI gleichzeitig zu führen, es gab schon Spekulationen, dass er eines der beiden Ämter würde aufgeben müssen.
SPIEGEL ONLINE: Der mächtige "Boss der Bosse" eher ein Loser?
Hachmeister: Jedenfalls eher ein Mann der "Old School" des Managements. Er sah zwar aus wie der Chefkapitalist und Ausbeuter. Aber er war jemand, der auch durchaus ein Interesse daran hatte, dass die Daimler-Arbeiter überdurchschnittlich viel verdienten, damit die Loyalität zur Betriebsgemeinschaft gewahrt blieb. Das war seine Welt: Betriebssportvereine, geselliges Beisammensein, Trinken bis spät in die Nacht mit Gewerkschaftsführern. Ende der siebziger Jahre wandelte sich das deutsche Management sehr stark, es kamen gelernte Betriebswirte und Technokraten ans Ruder. Schleyer dagegen hatte eigentlich keine Spezialqualifikation, außer der Intuition fürs Verhandeln, für den richtigen Zeitpunkt, für bestimmte Projekte. Insofern wusste die RAF von der Persönlichkeit Schleyers nicht viel.
Haareschneiden in der Geiselhaft
SPIEGEL ONLINE: Als die RAF-Leute die Symbolfigur dann gefangen hatten, waren sie mit dem Menschen Hanns Martin Schleyer konfrontiert. Wie kann man sich diese Situation vorstellen?
Hachmeister: Bei der physischen Nähe von Entführen und Geisel stellen sich unweigerlich eine gewisse Familiarität und wechselseitige Identifizierungsprozesse ein. Das ist auch im Fall Schleyer passiert. Die Entführung hat mit sechs Wochen viel länger gedauert, als die RAF jemals geplant hat, samt mehreren Umzügen mit der Geisel. Außerdem hat Schleyer es sehr schnell verstanden, das RAF-Kommando auf seiner Ebene anzusprechen, nach dem Motto: Auch ich war einmal jung und radikal. Er hat sie in Diskussionen verwickelt, und dem kann man sich sehr, sehr schwer entziehen. Wie wir aus glaubwürdigen Aussagen damaliger RAF-Bewacher wissen, hatten sie nur klischeehaftes Wissen über reale Wirtschaftsprozesse. Schleyer konnte ihnen belehrende Vorträge halten, denen sie irgendwann nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Sie hatten sich aus der Presse so ein Bündel an Vorwürfen angeeignet, und nachdem sie das abgearbeitet hatten, waren sie wirklich im Wortsinne ganz alleine mit dem Menschen Schleyer.
SPIEGEL ONLINE: Eine der Terroristinnen hat ihm sogar die Haare geschnitten.
Hachmeister: Sie hat ihm die Haare geschnitten, sie haben Schach miteinander gespielt und Gesellschaftsspiele. Man kann sich ja vorstellen, wie diese Dinge ablaufen, wenn man 44 Tage so eng zusammen ist.
SPIEGEL ONLINE: Schleyer war als junger Mann auch in einer "Studentenbewegung" aktiv, der nationalsozialistischen. Hat Schleyer da Parallelen entdeckt? Wie hat er die 68er Studentenbewegung gesehen, wie wird er, Ihrer Meinung nach, seine Entführer gesehen haben?
Hachmeister: Schleyer war in den sechziger Jahren sehr eindeutig im bürgerlich-konservativen Milieu verankert. Dieses Milieu, von konservativen Professoren an den Universitäten bis hin zu Unternehmensführern in der Wirtschaft, fühlte sich real bedroht durch die Studentenbewegung und ihre radikalen Ausläufer. Man fühlte sich real bedroht durch Entführungen, durch Übernahmen von Betrieben durch Arbeiter, durch kommunistische Gruppen. Das war eine Art von Paranoia, die man ernst nehmen muss. Schleyer hatte dieselben Gefühle. Auf der anderen Seite hat er sich, glaube ich, durch die protestierenden Studenten und die radikalisierten Terroristen schon an seine eigene Jugend als NS-Studentenführer erinnert gefühlt. Das kann man nie ganz ausblenden.
SPIEGEL ONLINE: Durch Papiere, die Fahnder bei dem im November 1976 verhafteten Terroristen Siegfried Haag gefunden hatten, wusste das Bundeskriminalamt, dass Schleyer auf der Liste der RAF stand. Keine zwei Wochen vor der Entführung hatte Generalbundesanwalt Kurt Rebmann im Rechtsausschuss des Bundestages Schleyer als den Höchstgefährdeten bezeichnet. Schleyer bekam Sicherheitsstufe 1 und drei Leibwächter. Er erhielt aber keinen gepanzerten Wagen, und die tägliche Fahrtroute wurden auch nicht regelmäßig geändert. Warum?
Hachmeister: Fragen Sie Daimler Benz. Das ist einer der bis heute unaufgeklärten, dunklen Punkte der Schleyer-Entführung. Es gibt auch ernstzunehmende Hinweise, dass es beim BKA noch weitere Videos mit Schleyer-Botschaften gibt, die nie veröffentlicht wurden.
SPIEGEL ONLINE: Helmut Schmidt, der damals die Entscheidung zum Sturm der Lufthansa-Maschine in Mogadischu gab und damit die Entscheidung der Entführer zur Ermordung Schleyers auslöste, spricht heute davon, er sei "in Schuld verstrickt". Kann ein politischer Entscheidungsträger in solcher Situation überhaupt ohne Schuld bleiben?
Hachmeister: Man muss zwischen individueller Schuld und dem, was man Staatsräson genannt hat, unterscheiden. Ich sehe keine individuelle Schuld bei Helmut Schmidt, auch wenn er diese heute betont. Das ist eine Entscheidung, die ein Bundeskanzler, ein Staatslenker in dieser Situation treffen muss. Ich verstehe den Sohn, Hanns-Eberhard Schleyer, der sagt, man hätte eine Art Bluff wagen können, man hätte die Stammheimer ausfliegen lassen und sie nach der Freilassung seines Vaters in der somalischen Wüste wieder einfangen können. Diese Möglichkeiten sind vor allem durch München vereitelt worden, durch die sehr dilettantische Operation während der Olympischen Spiele 1972. Die deutsche Regierung hatte seither einen Horror vor allen komplizierten Aktionen mit vielen Variablen und Unwägbarkeiten. Die einzige Möglichkeit für sie war, die "Landshut" direkt zu erstürmen, und auch das erforderte ein großes Maß an Überwindung, diesen Befehl zu geben. Aber Schleyer war damit geopfert.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es mit dem Abstand von 30 Jahren so etwas wie Lehren aus dem Fall Schleyer?
Hachmeister: Man kann schon sagen, dass es diese Generation, die Generation Schleyers, versäumt hat, frühzeitig offener mit ihrer eigenen Geschichte umzugehen. Das sagt sich heute natürlich leicht, mit dem kühlen Blick des Zeithistorikers. Aber dieses gegenseitige Beschweigen, auch in den Familien, hat zu sehr viel Unheil geführt. Wenn man früher angefangen hätte, öffentlich darüber zu reden, wie die deutsche Geschichte seit den zwanziger Jahren bis in die fünfziger Jahre verlaufen ist, dann hätte das zu einer Art Entspannung im Inneren geführt. Im Grunde kann man sagen, dass der Entspannungspolitik im Äußeren lange Zeit keine Entspannungspolitik im Inneren gefolgt ist. Und das diese harten Verwerfungen in der bundesdeutschen Gesellschaft bewirkt.
Das Interview führte Hans Michael Kloth