Restaurantprojekt Die Farben aus der Asche des Terrors

Die gesamte Frühschicht des "Windows on the World", des Restaurants ganz oben im World Trade Center, starb am 11. September 2001, 73 Menschen. Überlebende Kollegen haben ein eigenes Lokal eröffnet: soziales Projekt und Toprestaurant zugleich.

New York - Die Eröffnung eines neuen Restaurants in Manhattan vollzieht sich genauso wie die Premiere eines neuen Broadway-Musicals. Erst gibt es endlose, nervenaufreibende und meist unbefriedigende Proben, dann eine Generalprobe, einen Testlauf für arglose Gäste, eine offizielle Vorpremiere für Kritiker und Presse - und danach erst die "Opening Night".

So was zehrt an der besten Kondition. Fekkak Mamdouh, eigentlich ein ziemlich kräftiger Kerl, lehnt erschöpft am Tresen. Seine schwarze Hose ist mit Soßenflecken verschmiert, sein Haar ungekämmt. Trotz seiner olivbraunen Haut sieht man die Ringe unter seinen Augen, seine Wangen sind eingefallen, sein Blick ist müde. Seit Wochen hat er nicht mehr ordentlich geschlafen. Und das Schlimmste kommt ja erst noch. Heute Abend. Opening Night.

Nur Stunden vor dem Debüt des Restaurants "Colors", dessen Teilhaber und Co-Manager Mamdouh ist, ist natürlich nichts fertig. In der kleinen Küche und im Treppenhaus zum Weinkeller hängen Warnschilder: "Frisch gestrichen." Hobelspäne übersäen den Parkettboden, Kreissägen kreischen, Hammerschläge pochen durch den langgestreckten Speisesaal, an dessen weiß gedeckten Tischen heute Abend schon bis zu 120 Gäste Platz haben sollen.

Der Hauptraum ist im Art-déco-Stil gehalten: Wände aus dunklem Holz und Marmor, Bänke mit Mohair-Polstern, Original-Lampen von der New Yorker Weltausstellung 1939. Eine Skulptur aus Glas, Spiegeln und Metall nimmt die gesamte rechte Wand ein - eine Weltkarte nach der Peters-Projektion, die jeden Erdteil in seiner tatsächlichen Größe abbildet und nicht nach dem westlichen Zerrbild. Teile der Dekoration wackeln noch.

Neue Hoffnung aus altem Leid

Doch diese Restaurantpremiere ist sowieso anders als jede andere. "Colors" ist aus der Asche des 11. September 2001 erwachsen.

"Colors" gehört überlebenden Angestellten von "Windows on the World", dem untergegangenen Nobelrestaurant auf der Spitze des World Trade Center. 73 der 423 "Windows"-Mitarbeiter - die gesamte Frühschicht jenes Morgens - kamen am 11. September 2001 um. Die meisten waren arme Immigranten aus Lateinamerika und Südostasien. Viele der Überlebenden haben sich seither wieder in alle Welt zerstreut. Eine Gruppe jedoch ist in New York geblieben - und in ständigem Kontakt miteinander als eine Art verschworener Bruderschaft.

Und nach vielen Fehlstarts und vergeblichen Anläufen, ist ihnen also im Januar endlich gelungen, was der gebürtige Marokkaner Mamdouh die "Erfüllung eines Traumes" nennt: Sie haben, im Andenken an die toten Freunde und Kollegen, gemeinsam ihr erstes, eigenes Restaurant aufgemacht - mit eigenem Kapital, eigener Arbeitskraft und eigener kulinarischer Kreativität. Und so ist die Einweihung dieses Lokals in NoHo, dem stillen In-Viertel zwischen Greenwich Village und East Village, nicht nur für sie ein hochdramatischer, emotionaler Moment - Neubeginn ebenso wie Schlusspunkt eines langen Traumas.

Besser lässt sich die neue, optimistische Vision New Yorks wohl kaum realisieren: 60 Einwanderer aus 22 Ländern, vereint in einem sozialbewussten Projekt, das Hoffnungslosigkeit in neue Hoffnung verwandelt. "Aus all dem Leid ist etwas Wundervolles entstanden", sagt Mamdouh. "Aus Tod wird Leben."

Die zweite Katastrophe nach 9/11

Fekkak Mamdouh lebt noch, weil es sein Dienstplan so wollte. Am 11. September sollte er seine Schicht als Kellner im "Windows of the World" erst um 14 Uhr beginnen. "Ich lag noch im Bett, als mich meine Schwester aus Italien anrief", sagt er. "Sie schrie, ich sollte den Fernseher anmachen. Ich sah, wie das Gebäude, in dem ich arbeitete, in Flammen stand."

Die fast 5000 Quadratmeter große Lokalität war damals nicht nur das höchstgelegene, sondern mit zuletzt 37,5 Millionen Dollar Umsatz im Jahr auch das rentabelste Restaurant der USA. Das Interieur war modern, doch edel, mit unvergleichlichem Ausblick. Die Speisekarte bot feinste "American fare" wie glasierte Ente oder Taube in Salzkruste, an der Bar gab es 16 Sorten Cognac und 27 Sorten Whiskey. Einen besseren Platz zum Essen und zum Feiern gab es in ganz Manhattan nicht.

Doch Mamdouh hatte im "Windows" immer schon Angst. "Ich habe damals oft gescherzt, dass die uns Gefahrenzulage zahlen sollten, wegen der Höhe", sagt er. "Doch sie sagten uns, die Türme seien absolut sicher. Selbst wenn ein Flugzeug sie treffe."

Nachdem das Unfassbare geschehen war, verloren alle Überlebenden ihre Jobs. Für viele war das die zweite Katastrophe: Sie hatten Verwandte in ihren Heimatländern, die auf die Geldüberweisungen aus New York angewiesen waren.

"Wir sind nur Arbeitsmaschinen"

Neue Stellen zu finden war nach den Anschlägen aber schier unmöglich. New Yorks Gastronomie- und Tourismusbranche war zusammengebrochen. Am meisten litten darunter die Immigranten, ungelernt und kaum des Englischen mächtig. An ihnen verlor man schnell das Interesse. Ein paar Rührbeiträge im Fernsehen, ein paar sentimentale Porträts in der "New York Times", dann wurde es wieder still um sie. Zumal viele von ihnen aus dem Nahen Osten stammten, und wer hier in jenen Tagen auch nur ein bisschen nach al-Qaida aussah, der hatte wenig zu lachen.

Es war eine harte Zeit für Mamdouh und seine Freunde. Barkeeper Patricio Valencio, der eine Frau und drei Kinder zu versorgen hat, fand in den Wochen nach dem 11. September nur an zwei Tagen Gelegenheitsarbeit. An dem einen Tag verdiente er 35, an dem anderen 30 Dollar. "In diesem Land werden wir nicht gut behandelt", erkannte Mamdouh. "Wir sind nur Arbeitsmaschinen."

Bittere Ironie: 9/11 öffnete ihnen die Augen über die Stadt ihrer Träume. Der Schock über den Terror wich der deprimierenden Einsicht, dass selbst New York City im Stande war, seine Schwächsten allein zu lassen - obwohl die Freiheitsstatue auf ihrer Kupferblechtafel doch verspricht, den Müden, Armen und "geknechteten Massen" ein neues Leben zu bieten.

Doch Mamdouh und eine Handvoll seiner "Windows"-Kollegen weigerten sich aufzugeben. Stattdessen griffen sie zur Selbsthilfe. Gemeinsam mit der jungen Arbeiteranwältin Saru Jayaraman, einer kleinen, quirligen, lauten Aktivistin, gründeten sie die Initiative "Restaurant Opportunities Cooperative" (ROC), um für bessere Arbeitsbedingungen in New Yorks Gastronomiebranche zu kämpfen.

Garantiert fair und gerecht

Sie trafen sich jeden Montag im dritten Stock eines alten Bürohauses an der Hudson Street, nur wenige Blocks von Ground Zero entfernt, unter Postern von Mahatma Gandhi und Ché Guevara. "Wir hielten zusammen und kämpften um jeden Zoll", erinnert sich Mamdouh. Sie schwelgten in den alten Zeiten, schimpften über die neuen und nährten ihren größten Traum - ein eigenes Restaurant aufzumachen.

Dank ROC, das inzwischen zu einer einflussreichen Aktivistengruppe gewachsen war, brachten sie es schließlich zustande. Im Januar 2005 unterschrieben sie einen 15-jährigen Pachtvertrag für ein ganzes Gebäude in der Lafayette Street, direkt neben dem Public Theater. Der charaktervolle Industriebau aus dem 19. Jahrhundert mit seiner gusseisernen Fassade schien ihnen ideal für ein Restaurant.

Mit Hilfe einer italienischen Lebensmittel-Kooperative und einer Reihe kleiner Geldgeber - darunter katholische Wohlfahrtsverbände und eine Gruppe Dominikaner-Nonnen - brachten sie das Startkapital auf: 2,2 Millionen Dollar.

Doch nach all ihren bitteren Erfahrungen wollten sie nicht in die gleiche Falle tappen wie andere Restaurantbesitzer. Ihr Geschäft sollte garantiert fair und gerecht sein, sozialverträglich und immigrantenfreundlich. Also ersannen sie eine für New York unerhörte Unternehmensstruktur. Die beteiligt alle, von der Putzfrau über den Kellner bis hin zum Chefkoch und Manager, gleichermaßen zu insgesamt 20 Prozent an dem Projekt. Gegenleistung: 100 "Schweißstunden" pro Kopf, also Arbeitseinsatz beim Aufbau des Restaurants. Außerdem wurde ein Mindestlohn für alle ausgemacht: 13,50 Dollar - doppelt so viel wie der Branchendurchschnitt.

Wie Kinder auf dem Spielplatz

Im Sinne der Demokratie durfte jeder einen Namen für die Unternehmung vorschlagen. Am Ende wurde abgestimmt, und heraus kam der Name "Colors". Wegen ihrer kunterbunten Hautfarben: Die über 50-köpfige Belegschaft kommt unter anderem aus Haiti, Jamaika, Mexiko, Kolumbien, Italien, Ägypten, Bangladesch, Thailand und China. Und, so Mamdouh, "wegen der vielen Farben der Lebensmittel".

Jeder Mitarbeiter durfte außerdem ein Rezept seiner Familie oder seines Heimatlandes für die Speisekarte beisteuern - globale Cuisine im wahrsten Sinne des Wortes. Da gibt es nun "langsam geröstetes Schwein" mit Reis, Bohnen und Kochbananen (Kolumbien), einen Salat mit Rettich, Limettenblättern und Muschelstreifen (Haiti), ein Kürbis- und Pilzrisotto mit Parmesan (Italien). Die philippinischen Hummerröllchen stammen von Barkeeper Silverio Moog; auch der erfüllt sich hier, wie er sagt, "meinen Lebenstraum: Mitinhaber eines Unternehmens zu sein, das von Immigranten geführt wird".

Wird das Experiment glücken? New Yorks Gastronomiebranche, ein Megageschäft mit über acht Milliarden Dollar Jahresumsatz, ist berüchtigt für seine erbarmungslose Konkurrenz. Über die Hälfte der rund 18.000 Restaurants hier machen innerhalb der ersten drei Jahre wieder dicht.

Kurz vor dem großen Moment versammelt sich das gesamte "Colors"-Team noch einmal zum Gruppenfoto im Speisesaal. Und plötzlich ist es, als löse sich die ganze Spannung der letzten Jahre, als fielen alle Sorgen von ihnen ab, wenn auch nur für wenige Sekunden: Sie lachen, albern, balgen sich wie kleine Kinder auf dem Spielplatz. Ein idealistischer Schnappschuss: New York, vereint in Trauer, Hoffnung und Wiederaufbau.

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