Vermächtnis der RAF Die Untoten der Bonner Republik

Wer den Deutschen Herbst und dessen Bedeutung nicht versteht - der kann auch die Geschichte der Bundesrepublik nicht begreifen. Politisch ist die RAF zwar mausetot. Doch kulturell wirkt sie weiter, argumentiert Politologe Wolfgang Kraushaar in einem Exklusiv-Essay.

Kaum ein anderes Thema in der jüngeren deutschen Zeitgeschichte ist von einer derartigen Nervosität geprägt wie das Kapitel RAF. Ein ums andere Mal schlagen die Wellen hoch, wenn es um Baader-Meinhof und die Folgen geht. Sämtliche Irritationen, die aus der 28 Jahre währenden Gewaltgeschichte der "Rote Armee Fraktion" übrig geblieben sind, münden in die beklemmende Erinnerung an die Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer vor 30 Jahren, die nach 44 Tage blutig zu Ende ging.

Doch kaum jemand kann plausibel erklären, wo eigentlich der Auslöser für die ganze Aufregung sitzt. Daran, dass einige mehr als anderthalb Jahrzehnte zurückliegende Mordanschläge bis heute ungeklärt sind, wird es wohl nicht liegen, an der Uneinsichtigkeit einiger Ehemaliger noch weniger und an der Frage einer vorzeitigen Haftentlassung von Christian Klar oder Birgit Hogefeld ganz gewiss auch nicht.

Politisch mausetot, kulturell quicklebendig

Ebenfalls in die Irre geht es, die Emotionalisierung von Teilen der Öffentlichkeit auf den vermeintlichen Stellenwert der RAF für heutige Militante zurückführen zu wollen - jüngst wurde dies angesichts spektakulärer Bilder von Protesten gegen das G-8-Treffen in Heiligendamm mehrfach versucht. Vermutungen über RAF-Nachfolgeorganisationen sind nichts anderes als Gerede geblieben. Eine vergleichbare Gefahr scheint jedenfalls weder von ehemaligen Mitgliedern noch von jüngeren Bewunderern der RAF auszugehen.

Erleben wir also - wie inzwischen am häufigsten zu hören ist - nur ein geschickt inszeniertes Medienspektakel? Oder ist es ein Nachfolgekapitel der unendlichen 68er-Geschichte, deren einstige Aktivisten es nicht fertigbringen, sich endlich mit einer der Folgen ihrer gescheiterten Revolte konfrontieren zu lassen? Vielleicht auch nur ein geschickter Schachzug des Bundesinnenministers, um eine Law-and-Order-Politik in einem Land durchsetzen zu können, das vom islamistischen Terror bislang glücklicherweise verschont geblieben ist? An allen diesen Aspekten mag vielleicht etwas dran sein - erklären lässt sich damit nur wenig.

Kein Zweifel, politisch ist die RAF längst mausetot. Sie war es im Übrigen schon, als sie im Frühjahr 1998 ihre bombastisch anmutende Auflösungserklärung veröffentliche. Kulturell jedoch feiert die RAF immer wieder aufs Neue Urständ. In Filmen wie Christopher Roths "Baader", in Theaterstücken wie Elfriede Jelineks "Ulrike Marie Stuart" oder in Sequenzen wie Gerhard Richters "Stammheim"-Bilderzyklus entsteigen ihre Zentralfiguren noch einmal der Gruft, um das Publikum ein wenig zu erschrecken - diesmal allerdings in meist gut gepolsterten Sesseln oder aus sicherem Abstand. Auf der Bühne, vor der Kamera und in den Museen sind die RAF-Toten nicht wirklich tot. Das erzeugt ein merkwürdiges Klima.

Doch die RAF war zu ihrer Zeit kein kulturelles Projekt. Sie war, bei aller unfreiwilligen Theatralik und allem Wahnwitz, ein mit weltanschaulichem Entschlossenheitspathos gespicktes politisches Unternehmen mit destruktiver Dimension. Ihr Antifaschismus mochte hohl, ihr Antikapitalismus phrasenhaft und ihr Antiimperialismus größenwahnsinnig gewesen sein - das alles zielte auf die Nachkriegsdemokratie ab, auf das parlamentarische System, den Rechtsstaat und die Funktionsfähigkeit seiner Institutionen.

Bin Laden der siebziger Jahre

Die Hasstiraden der RAF auf die bundesdeutschen Machteliten und angebliche Kontinuitäten mit der NS-Vergangenheit, auch auf die einstige Besatzungsmacht USA, die durch ihren Krieg im fernen Vietnam Zweifel an ihrer politischen und moralischen Glaubwürdigkeit säte, trafen den Nerv der wirtschaftswunderseligen Nachkriegsgesellschaft. Die RAF deckte diese Legitimationsdefizite zwar nicht auf - das hatten andere schon längst vor ihr getan -, sie verstand es jedoch meisterhaft, sie für ihre Zwecke auszunutzen.

Die RAF war nicht zuletzt auch ein Phänomen des Kalten Krieges. Dies blieb lange Zeit durch eine merkwürdige Fixierung ihrer Beobachter auf die Bundesrepublik und deren Vorgeschichte verdeckt. Doch als 1989 die Berliner Mauer fiel, flogen nicht nur in der DDR untergetauchte Ehemalige auf. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts lösten sich wie von einer Geisterhand geführt auch die letzten Überbleibsel des Linksterrorismus auf. Selbst ein Serienkiller wie Carlos, der als der Bin Laden der siebziger Jahre über lange Zeit hinweg schier ungreifbar zu sein schien, konnte mit einem Mal geschnappt und nach Paris überführt werden.

Und Horst Mahler, der letzte Überlebende des einstigen Gründerquartetts der RAF, geistert inzwischen als politisches Schreckgespenst ganz rechts außen umher. Dabei galt der einstige APO-Anwalt, bei dem 1969/70 die Fäden für das Projekt Untergrund zusammengelaufen waren, nach Verbüßung seiner Haftstrafe einige Jahre lang als der einzige rationale Kopf der Bewegung; Linksliberale wie der damalige FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum trauten ihm zu, eine richtungweisende Selbstaufklärung der Szene in Gang zu setzen.

An Horst Mahler will sich keiner mehr die Hände schmutzig machen

Welch ein Irrtum! Mahler ist inzwischen zum hypernationalistischen, fremdenfeindlichen Agitator und bekennenden Holocaust-Leugner geworden. Was war es für eine gespenstische Konfrontation, als während der rot-grünen Ära SPD-Bundesinnenminister Otto Schily, Mahlers ehemaliger Anwaltskollege und spätere Verteidiger, beim Bundesverfassungsgericht das Verbot der NPD beantragte und dort auf einen Mahler traf, der nun seine neuen Genossen von der nationalen Front vertreten wollte. Kurz darauf platzte das Verfahren dank der ungeklärten Rolle von V-Männern bereits im Vorfeld und inzwischen hat Mahler die NPD längst schon wieder verlassen, weil sie ihm angeblich zu parlamentarismusfixiert ist.

Während sich ein Autor nach dem anderen an den Ikonen Andreas Baader oder Ulrike Meinhof abarbeitet, bleibt Mahler zumeist außen vor. In gewisser Weise ist der Mann, dem Gerhard Schröder ein paar Jahre bevor er Kanzler wurde vor Gericht die Anwaltslizenz zurückerstritten hat, zu einer Tabuperson der RAF-Geschichte geworden. An ihm will sich offenbar keiner mehr die Hände schmutzig machen.

Dabei steht Mahler wie kein anderer für das, was an der RAF möglicherweise so typisch deutsch gewesen ist und was nach wie vor so wenig verstanden wird: ihren als Internationalismus ausgegebenen Antiamerikanismus, ihren als Antifaschismus verbrämten Antizionismus und ihre aus angeblicher Freundschaft mit den Palästinensern begründete Feindschaft gegenüber Israel. Zur Zeit der Schleyer-Entführung saß Mahler noch im Gefängnis und hatte der RAF bereits den Rücken gekehrt: Als die Genossen ihn gegen den entführten Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz austauschen wollten, weigerte er sich.

Noch kein Ort im kollektiven Gedächtnis

Der sogenannte Deutsche Herbst ist gewiss kein deutsch-deutsches, sondern ein bundesdeutsches Datum. Die politische Krise vom Herbst 1977 lässt sich auch nicht mit epochalen Ereignissen wie dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 oder gar dem Mauerfall vom 9. November 1989 auf eine Stufe stellen. Gleichwohl sollte ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden. Schließlich war das, was die terroristische RAF als "Offensive '77" ausgegeben hat, die größte innenpolitische Herausforderung in der Geschichte der alten Bundesrepublik. Wer nicht begreift, was sich damals abgespielt hat, der wird auch nicht verstehen, was die Bonner Republik in ihrem Innersten mitgeprägt hat. Und die Berliner Republik ist schließlich kein Gegenentwurf zu ihrer Bonner Vorgängerin, sondern deren Erweiterung.

Sicher wäre es eine Übertreibung, im Nachhinein von einer ernsthaften Gefährdung der Nachkriegsdemokratie durch die RAF sprechen zu wollen. Jedoch ist unbestreitbar, dass der Staat nicht sonderlich souverän auf diese mit Entführungen und Mordanschlägen vorgetragenen Erpressungsversuche reagiert hat. Und Helmut Schmidt, der damals die politische Hauptverantwortung getragen und seine Entscheidung, einem Austausch von RAF-Gefangenen seine Zustimmung aus grundsätzlichen Erwägungen heraus zu verwehren, immer verteidigt hat, räumt inzwischen ein, "schuldhaft verstrickt" gewesen zu sein.

Bislang hat der damals nichterklärte, aber in mancherlei Hinsicht praktizierte Ausnahmezustand noch keinen Ort im kollektiven Gedächtnis der Bundesdeutschen gefunden. Die Irritation, die von den Eriegnissen des "Deutschen Herbstes" immer noch ausgeht, wird jedoch nur zu bewältigen sein, wenn das Bedrohliche ebenso wie das Faszinierende an der RAF entschlüsselt ist. Und dazu bedarf es jedoch noch erheblicher Anstrengungen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren