Zugexplosion in Viareggio "Wie ein Erdbeben, wie ein Tornado"
Rom - Kurz vor Mitternacht war ein Güterzug mit Flüssiggas unweit des Bahnhofs im Zentrum von Viareggio entgleist und in Flammen aufgegangen. Durch die Explosion gerieten mehrere Häuser in Brand, zwei Gebäude stürzten ein. "Wir haben gesehen, wie ein Feuerball in den Himmel aufstieg", sagte Augenzeuge Gianfranco Bini, der in der Nähe wohnt. "Wir haben dreimal ein lautes Grollen gehört, wie Bomben. Es sah aus, als ob ein Krieg ausgebrochen sei." Ein riesiges Gebiet stand in Flammen, überall waren Explosionen und Sirenen zu hören. "Wie ein Erdbeben, wie ein Tornado", sei es gewesen, berichtete ein weiterer Augenzeuge der römischen "Repubblica". Es habe eine Druckwelle gegeben und der Boden habe sich bewegt.
Die vorläufige Bilanz ist erschreckend: Mindestens 16 Tote gibt es bisher. Wie das städtische Behandlungszentrum (Asl) am Dienstag mitteilte, erlitten 36 Menschen schwere Verletzungen, 15 von ihnen schweben in akuter Lebensgefahr mit Verbrennungen von mehr als 90 Prozent der Körperoberfläche. Die Zahl der Opfer wird laut Angaben von Feuerwehr und Präfektur wahrscheinlich noch steigen. Es würden noch immer Menschen vermisst, hieß es. Unter den Toten sind dem "Corriere della Sera" zufolge zwei Kinder, deren Leichen bereits geborgen wurden.
Die Lokführer konnten sich retten, nachdem bereits Gas ins Führerhaus eingedrungen war. "Wir sind am Leben, das ist ein Wunder", sagte einer der Zugführer.
Ladenbesitzer Alessandro Del Lupo wohnt direkt neben den Gleisen. Er wollte gerade sein Schlafzimmerfenster schließen, als er das "Kreischen der Bremsen" hörte: "Ich sah, wie aus dem Güterzug, der gerade vorbeifuhr, eine riesige, weiße Wolke aufstieg. Ich habe erst später verstanden, dass es Gas war, das dann zu Feuer wurde, zu einer 200 Meter hohen Wand", sagte Del Lupo der "Repubblica". Er sei zurückgeschreckt und habe mindestens drei dicht aufeinanderfolgende Explosionen gehört. Er habe "keine Sekunde" nachgedacht und sei sofort über die Mauer gesprungen, um den Menschen zur Hilfe zu eilen, so der Augenzeuge.
Zwei tote Mädchen habe er unter den Trümmern gesehen, dann habe er die Schreie eines Jungen gehört, dessen Bein zwischen Steinen eingeklemmt war. Er habe kaltes Wasser auf die Trümmer gegossen, dann habe glücklicherweise die Feuerwehr den Verschütteten geborgen.
"Warum fährt er so schnell?"
"Ich habe gesehen, wie der Zug sehr schnell ankam und offenbar vergeblich versuchte zu bremsen", berichtete ein weiterer Augenzeuge, Carmine Rango, der "Repubblica". Ein Mann im weißen Hemd habe geschrien: "Warum fährt er so schnell?" Dann sei alles in die Luft geflogen.
Rund tausend Anwohner wurden evakuiert und in Zelten in der Nähe des Rathauses untergebracht. Viareggios Bürgermeister Luca Lunardini erklärte, 200 von ihnen seien in Notunterkünften untergekommen, andere hätten die Nacht im Rathaus verbracht.
Bergungskräfte versuchen jetzt, so schnell wie möglich das Gas aus den verbliebenen Waggons zu pumpen - eine aufwendige und gefährliche Prozedur. Feuerwehrchef Antonio Gambardella sagte, der Brand sei inzwischen eingedämmt, es bestehe aber die Gefahr, dass weitere Kesselwagen explodierten. Um dies zu verhindern, seien ABC-Experten im Einsatz.
"Die Gefahr ist noch nicht vorüber", warnte der der Leiter des italienischen Zivilschutzes, Guido Bertolaso, der noch in der Nacht nach Viareggio geeilt war und dort am Dienstag eine Pressekonferenz gab. "Es liegen noch 13 Gasbehälter mit jeweils 30 Kubikmeter Flüssiggas auf den Schienen, vier davon umgekippt. Die Zisternen müssen entleert werden. Das ist eine hochgefährliche Situation", erklärte Bertolaso.
Suche nach Verschütteten dauert an
Feuerwehrleute suchten derweil in den Trümmern der Häuser nach weiteren Opfern. Rund 300 von ihnen sind im Einsatz, außerdem Carabinieri, Polizisten, Vertreter der Guardia di Finanza sowie Notärzte.
Der aus 14 Waggons bestehende Güterzug kam aus La Spezia und war auf dem Weg nach Pisa. Kurz hinter dem Bahnhof von Viareggio entgleiste er. Die hinteren Waggons krachten daraufhin in mehrere Häuser. Sieben Menschen wurden in ihren Wohnungen bei der Explosion oder durch das Feuer getötet, wie ein Polizeisprecher in der nahegelegenen Stadt Lucca, Raffaele Gargiulo, erklärte. Einige der Leichen seien nur sehr schwer zu identifizieren.
Im Hospital Versilia suchen derzeit zahlreiche verzweifelte Angehörige nach Vermissten. Neun Tote konnten bisher noch nicht identifiziert werden, auch unter den Verletzten sind noch viele, deren Name unbekannt ist.
Wie die Nachrichtenagentur ANSA berichtete, wurden am Dienstagmorgen drei Kinder lebend aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen. Die beiden Zugführer wurden leicht verletzt. Im Krankenhaus erklärten sie, sie hätten 200 Meter vor dem Bahnhof einen Aufprall gespürt. Kurz danach sei das Zugende entgleist.
Eisenbahnervereinigung erhebt schwere Vorwürfe
Angehörige der italienischen Eisenbahnervereinigung erhoben schwere Vorwürfe gegen die Staatliche Eisenbahn FS. Demnach hätte diese die "extrem hohen" Risiken defekter Fahrwerke unterschätzt und die Gefährlichkeit vergleichbarer Vorfälle in der Vergangenheit schlicht missachtet.
"Der Achsenbruch eines Güterwagens ist ein typischer Vorfall, der niemals richtig eingeschätzt wurde", sagten die Delegierten des Verbandes. "So etwas ist unzählige Male passiert, glücklicherweise immer mit weniger schlimmen Folgen." Die Tatsache, dass viele Waggons im Besitz jener Unternehmen seien, welche die transportierten Waren herstellen, könne keine Entschuldigung sein, hieß es.
Ein Sprecher der Ferrovie dello Stato (FS) hatte kurz nach dem Unglück erklärt, ein Achsenbruch an einem der ersten Waggons des Zuges könne das Desaster verursacht haben. "Infolge des Schadens ist der Waggon entgleist und Flüssiggas ausgetreten, das dann im Kontakt mit der Luft zu einer Gaswolke geworden ist. Ein Funke könnte die darauffolgende, gewaltige Explosion verursacht haben", erklärte Sergio Basti, Ingenieur und Leiter der zentralen Notfallstelle der Feuerwehr. Der Unfall sei nicht auf überhöhte Geschwindigkeit zurückzuführen: Der Zug habe den Bahnhof mit einem Tempo von etwa 90 Stundenkilometern passiert - dies entspreche den Vorschriften.
Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft, der Minister für Infrastruktur und Transport, Altero Matteoli, hat eine Untersuchungskommission eingesetzt. Am Nachmittag wird Ministerpräsident Silvio Berlusconi in Viareggio eintreffen. Innenminister Roberto Maroni ist bereits vor Ort.
Papst betet für die Toten
Papst Benedikt XVI. hat den Opfern der Güterzug-Explosion sein Beileid ausgesprochen. In einem Telegramm an den Erzbischof von Lucca, Monsignor Benvenuto Castellani, übermittelte der Pontifex am Dienstag den Betroffenen "sein tiefes Mitleid". Der Papst "bete für die Toten" und für die "Gesundung der Verletzten", er teile den "Schmerz, der eine ganze Stadt getroffen hat", heißt es darin.
Nach der verheerenden Explosion kam es in der Toskana zu Behinderungen für Bahnreisende. Zwischen Pisa und Forte dei Marmi verkehrten keine Züge. Die Fernzüge auf der Strecke Turin-Genua- Florenz wurden über Florenz weitergeleitet, sagte Christiane Hübner von der Italienischen Zentrale für Tourismus (ENIT) in Frankfurt.
Es ist das schwerste Zugunglück seit Januar 2005, als ein Personenzug mit einem Güterzug bei Bologna zusammengestoßen war. Damals waren 17 Menschen ums Leben gekommen.
Viareggio ist einer der ältesten und bekanntesten Badeorte in der Toskana. Die Stadt liegt nordwestlich von Pisa am Ligurischen Meer und ist vor allem für ihre Jugendstilbauten und ihre Sandstrände bekannt. Der Tourismus in Viareggio geht laut der Italienischen Zentrale für Tourismus (ENIT) auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück.