
Zwangssterilisierungen in den USA: "Wir wollen endlich Gerechtigkeit"
Zwangssterilisation in den USA Die verdrängte Schande
Fast 44 Jahre ist es her, doch Elaine Riddick kommen immer noch die Tränen. "Man hat mich verleumdet", sagt sie und tupft sich mit einem Taschentuch die Augen trocken. "Man hat mich verspottet." Ihre Stimme bebt: "Sie haben mich aufgeschnitten wie eine Sau!" Ihr Sohn Tony, der neben ihr steht, streicht ihr tröstend über den Rücken.
Die Szene, als körniges Video aufgezeichnet, die Dialoge protokolliert, offenbart ein schreckliches Kapitel der US-Geschichte - und eines, das bislang kaum erforscht worden ist. Elaine Riddick ist darin ein Angelpunkt.
Riddick, heute 57 Jahre alt, war 14, als es geschah. Die Schwarze wuchs ohne Eltern auf, in Winfall, einem bettelarmen Dorf in North Carolina. Erst kam sie ins Waisenhaus, dann zur mittellosen Großmutter. Kurz darauf vergewaltigte sie ein älterer Bekannter. Riddick wurde schwanger, doch das Sozialamt hatte wenig Mitgefühl: Es erklärte Riddick für "minderbemittelt" und "promisk" und verhängte eine damals übliche Strafmaßnahme: Zwangssterilisation.
Die Großmutter, eine Analphabetin, unterschrieb die Einverständniserklärung mit "X". Der dramatische Eingriff erfolgte 1968 - während des Kaiserschnitts, mit dem Riddick ihr erstes und einziges Baby zur Welt brachte.
Riddick war kein Einzelfall. Mehr als 60.000 Amerikaner wurden zwischen 1907 und 1981 zwangssterilisiert. Die Begründung der Behörden: Sie seien geisteskrank, gemeingefährlich, der Fortpflanzung unwürdig. Zum Höhepunkt der sogenannten Eugenik-Bewegung gab es Sterilisierungsgesetze in 32 US-Bundesstaaten.
Nur sieben Staaten haben sich seither förmlich bei den Opfern entschuldigt. Doch jetzt sollen die Überlebenden endlich eine Wiedergutmachung erhalten. North Carolina geht, als bisher einziger Staat, noch einen Schritt weiter: Man erwägt, die gut 3000 noch lebenden Betroffenen zu entschädigen.
"Mehr bieten als nur eine verbale Entschuldigung"
"Wir wollen Wege finden, endlich Gerechtigkeit zu schaffen", sagt Charmaine Fuller Cooper, die Vorsitzende einer von North Carolinas Gouverneurin Bev Perdue eingesetzten Stiftung für Sterilisierungsopfer, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Wir wollen mehr bieten als nur eine verbale Entschuldigung." Doch die Herausforderung sei enorm: "Dies hat sich als ein sehr schwieriges Unterfangen entpuppt."
Bis zum 1. Februar soll eine Untersuchungskommission klären, wie verfahren werden soll. Dazu hielt sie unter anderem eine Anhörung ab, bei der Opfer wie Elaine Riddick zu Wort kamen. "Ich muss öffentlich machen, was der Staat North Carolina mir angetan hat!", rief Riddick da. Ihr Sohn Tony nannte das Sterilisierungsprogramm "vorsätzlichen Mord" und "nichts anderes als Genozid".
Im bevölkerungsarmen Südstaat North Carolina, in dem weniger Menschen leben als im Großraum New York City, fielen von 1929 bis 1974 rund 7600 Personen unter das Sterilisierungsprogramm. Andere Staaten, etwa Kalifornien und Virginia, ließen mehr Betroffene sterilisieren, doch nirgends waren die Vorschriften so rigide wie in North Carolina. Sozialarbeiter entschieden auf eigene Faust, wer unters Messer kam. Leiten ließen sie sich dabei von rassistischen Vorurteilen und meist fehlerhaften Intelligenztests.
Fast die Hälfte der Sterilisierten in North Carolina waren Angehörige von Minderheiten, die meisten waren Afroamerikaner. 85 Prozent waren Frauen und Mädchen, das jüngste Opfer war erst zehn. Mehr als zwei Drittel der Sterilisierungen erfolgten in den Nachkriegsjahren.
Die Ideologie stammte aus dem 19. Jahrhundert. US-Wissenschaftler behaupteten, soziale Probleme wie Armut und Kriminalität seien vererblich: Die "anglo-amerikanische Rasse" müsse davor geschützt werden. Eltern mit "guten Genen" wurden ermutigt, Kinder zu zeugen, "Minderwertige" dagegen daran gehindert - Behinderte, Alkoholiker, Prostituierte, Obdachlose, Straffällige.
1907 erließ Indiana das erste Sterilisierungsgesetz. Bald folgten Dutzende US-Staaten. Harry Laughlin, der langjährige Chef-Eugeniker der USA, propagierte die Eingriffe auch als Waffe gegen "moralisch und intellektuell minderwertige" Immigranten aus Europa, die angeblich den US-Genpool vergifteten. Es gab sogar Wettbewerbe, um die Zucht "reiner" Familien zu fördern ("Better Baby Contests").
US-Vorgehen als Grundlage der Nürnberger Rassengesetze
Da horchten selbst die Nazis in Deutschland auf: Die amerikanischen Sterilisierungsprogramme beeinflussten sogar die Nürnberger Rassengesetze. Die Universität Heidelberg verlieh Laughlin 1936 den Ehrendoktor.
Die letzte US-Zwangssterilisation fand 1981 statt. Einige Opfer klagten später vor Gericht. Die meisten unterlagen wegen Verjährung, andere bekamen läppische Summen. Erst 2002 entschuldigte sich der Bundesstaat North Carolina bei den Opfern. Viele arme Familien waren zur Sterilisierung ihrer Kinder gezwungen worden - mit der Drohung, ihnen werde sonst die Sozialhilfe gestrichen.
Etwa die heute 65-jährige Nial Ramirez, die 1965 mit 18 sterilisiert wurde. Sozialarbeiter hatten sie unter Druck gesetzt: "Sie drohten mir, dass meine Brüder und Schwestern auf der Straße landen würden", berichtete sie bei der Anhörung der Untersuchungskommission. "Entweder ich unterzeichnete, oder Mamas Scheck würde einkassiert." Ramirez war 1973 das erste Opfer, das den Staat verklagte. Sie bekam in einem Vergleich 7000 Dollar - von dem Arzt.
"Dies ist North Carolinas Holocaust", sagte Australia Clay, deren Mutter Margaret Check zwangsterilisiert worden war. "North Carolina, wir bedanken uns für die Entschuldigung. Aber das ist nicht genug. Wir bedanken uns für die 20.000 Dollar. Das ist nicht genug."
Dabei nimmt der lange als hinterwäldlerisch verrufene Staat heute eine Führungsrolle im Kampf um die Wiedergutmachung ein, unter Direktive der seit 2009 amtierenden demokratischen Gouverneurin Bev Perdue. "Wir wollen anderen Staaten zeigen, dass das falsch, grauenhaft, ungeheuerlich war", sagt die voriges Jahr berufene Stiftungschefin Cooper, eine erfahrene Bürgerrechtsaktivistin. "Und dass so etwas nie wieder geschehen darf."
Die Aufarbeitung ist eine Sisyphusarbeit. Die Stiftung durchforstet alte Akten des Eugenics Board, des 1974 geschlossenen Sterilisierungsamts, auf der Suche nach noch lebenden Betroffenen. Deren Zahl schätzt Cooper auf 3000, doch erst 68 konnten bisher identifiziert werden.
"Das reißt alte Wunden auf"
Viele wollten das Trauma auch nicht erneut durchleben, sagt Cooper. Die Akten enthielten oft schmerzliche Details über Behinderungen, Krankheiten, Elend, Armut, Missbrauch, Inzest. "Das reißt alte Wunden auf." Manche Opfer legten bei einem Anruf einfach wieder auf. Andere flüsterten nur, weil selbst engste Angehörige noch nichts von ihrer Sterilisierung wussten.
Die "schwierigste Frage" (Cooper) sei die der Wiedergutmachung. "Was bin ich wert?", fragt Riddick. "Die Kinder, die ich nicht haben konnte - was sind die wert?" Geld kann ein Leben nicht aufwiegen, sagt Cooper. Auch müsse der Staat seine geschrumpften Ressourcen beachten: Über die nächsten zwei Jahre droht North Carolina ein Haushaltsloch von 4,4 Milliarden Dollar. Eine Wiedergutmachung von 20.000 Dollar pro Opfer - der derzeit diskutierte Betrag - entspräche bei 3000 Überlebenden 60 Millionen Dollar. Deshalb erwägt die Stiftung auch andere Optionen, etwa freien Zugang zu Gesundheits-, Renten- und Sozialleistungen.
Das Stigma bleibt. Viele Menschen in North Carolina, berichtet Cooper, weigerten sich weiter, über die Sterilisierungen zu reden - aus Angst, dann als "promisk" oder als "Kinderschänder" zu gelten. Andere sähen die Sterilisierungen bis heute als einen "Dienst an der Allgemeinheit" an.
"Ich verstecke mich immer noch", sagt Elaine Riddick. "Es hat dazu geführt, dass ich mich selbst nicht leiden kann. Und ich glaube nicht, dass ich mich jemals wieder leiden kann."