Dieser Beitrag wurde am 18.12.2016 auf bento.de veröffentlicht.
Kellner, Verkäufer, sogar seine Nachbarn neigen dazu, Dennis anzustarren oder zu ignorieren, oft überhören sie auch, was er sagt. Weil sie es nicht besser wissen; weil sie nicht anders können, weil Dennis ihnen Angst macht.
Dabei kann man viel von ihm lernen über Familie und Liebe, über Demut und Lebensfreude. Und über den Tod.
Dennis Schoolmann, 22 Jahre, blondierter Pony, braune Augen, zarte Haut, Schnäuzer, sitzt seit 14 Jahren im Rollstuhl. Dennis wird sterben, er weiß nicht wann, er weiß nur, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Und die will er nicht trauernd verbringen, sondern lachend.
Er lacht, wenn er seine Freunde im Hospiz sieht, er lacht, wenn ihm der Nordseewind Sand ins Gesicht pustet, er lacht, wenn er von seinem Traum erzählt, einmal Corvette zu fahren, so schnell, dass sein zarter Körper sich tief in den Sitz presst. Er sagt: "Wenn ich traurig wäre, dann könnte man mich gleich vergessen."
Die meisten Menschen verdrängen den Tod so lang wie möglich aus ihrem Leben, Dennis ist mit dem Gedanken ans Sterben erwachsen geworden.
Seit zehn Jahren macht er Urlaub im Hospiz Löwenherz in Syke, ein 25.000-Einwohner-Dorf südlich von Bremen, meist vier Wochen im Jahr, soviel bezahlt die Krankenkasse. Hier, irgendwo zwischen Pool und Playstation, hat Dennis fast die Angst vor dem Tod verloren.
Das Hospiz hat heute zwei Eingänge, einen für todkranke Kinder und einen für todkranke Jugendliche wie Dennis. Er hat gekämpft für die Trennung, denn irgendwann hatte er keine Lust mehr auf Benjamin Blümchen und Schlafengehen um 19 Uhr. Er wollte bis in die Nacht Computer spielen, laut Musik hören, feiern. Er wollte sich abgrenzen von den Kleinen, wie das eben so ist, wenn man erwachsen wird.
Viele Hospizgäste können nicht mehr sprechen, manche konnten es nie. Dennis kann noch reden, wenn auch langsam und undeutlich. Deswegen durfte er erzählen, was er sich wünscht, eine kleine Bar zum Beispiel, auch ohne Alkohol, Bier mag er eh nicht. Er sagte, in welcher Farbe die Zimmer gestrichen werden sollen. Heute heißen sie Paris, Berlin, New York, an den Wänden die Skyline. Städte, über die viele Menschen sagen: Irgendwann einmal fahre ich dorthin.
Hier, in Paris, hat Dennis auch schon mit seiner großen Liebe Ramona, 20, gesessen, auch sie hat ihm lange Kraft gegeben. Einmal lag er auch schon mal wegen ihr im Krankenhaus, da konnte er vor Kummer nichts mehr essen. Dennis musste künstlich ernährt werden, er ist ohnehin schon so dünn.
Im Video: Durch das Jahr mit Dennis
Als Dennis anfing, laufen zu lernen, merkte seine Mutter, dass etwas nicht stimmt: Er schwankte hin und her wie ein kleiner Clown. Louis-Bar-Syndrom, eine vererbte und "lebenslimitierende Erkrankung", sagten die Ärzte. Dennis sagt:
Von Jahr zu Jahr fällt es ihm schwerer, Arme, Beine, Kopf und Hände zu koordinieren, fällt es ihm schwerer, zu sprechen.
Durch das Louis-Bar-Syndrom steigt das Risiko, dass Dennis an Krebs erkrankt, sein Immunsystem ist heruntergefahren, außerdem fehlen ihm Wachstumshormone. Deswegen wirkt er so zerbrechlich, deswegen trinkt er viel Cola und isst oft Fast Food. Viele Kalorien, wenig Aufwand.
Als der Arzt der Mutter damals das Louis-Bar-Syndrom erklärte, sagte er: 14 Jahre, vielleicht ein bisschen mehr. "Machen Sie ihm das Leben so schön wie möglich, wir können nichts für ihn tun." Danach gab sie ihr eigenes auf. Vielleicht lacht Dennis auch deswegen so oft, seine Mutter soll schließlich auch ein schönes Leben haben.
Eine zeitlang sammelte sie Pfandflaschen, heute lebt sie von Hartz IV. Entweder Geld verdienen oder Dennis pflegen, beides passt nicht, so erzählt sie es heute.
Als Dennis zum ersten Mal mit seiner Mutter in den Urlaub fuhr, rund zehn Jahre war er da alt, da hatte sie noch nicht mit ihm über den Tod gesprochen, um ihn zu schonen, sagt sie. Wahrscheinlich auch sich selbst.
Gespürt hat Dennis trotzdem schon früh, dass er sehr krank ist, genau wie alle anderen Kinder im Hospiz. Damals, sagt er, wollte er noch nicht darüber sprechen, es machte ihm Angst, er dachte, er würde noch etwas spüren nach dem Tod. Heute habe er nur noch Respekt. "Ich habe die Krankheit und fertig", sagt er. "Warum noch so ein Getue darum machen?"
Im Slider: Wie Dennis lebt und wo er arbeitet
Dennis Schoolmann Hospiz
Im Hospiz zeigen sie ihm, wie das geht, das Leben und den Tod leicht nehmen. Genießen und sterbenskrank sein. Eigene Grenzen erkennen und akzeptieren.
Dennis’ Grenze liegt in der Mitte des Hospiz’: Er kann den Raum nicht betreten, in dem Kinder manchmal auf Wunsch ihrer Eltern nach ihrem Tod aufgebahrt liegen, damit alle sich verabschieden können. Den Raum, sagt Dennis, den könne er nicht gut ab, da bekomme er dann doch ein bisschen Angst.
Syke, im Sommer 2015. Dennis sitzt jetzt an dem großen Esstisch im Aufenthaltsraum, neben ihm Ramona, seine Freundin. Es riecht wie fast überall im Löwenherz leicht nach Desinfektionsmittel. "Stinkt wie frisch geimpft", sagt Ramona.
"Ich habe so eine Art Schweizer Käse im Oberschenkel", erzählt sie sofort. "Deswegen werde ich manchmal operiert. Mein Kiefer ist fast komplett weg."
Was sie denn für eine Krankheit habe?
"Schau ihr doch mal ins Gesicht", sagt Dennis. "Total verformt."
Er will sie damit nicht beleidigen, er liebt sie ja, er mag es, dass sie, wie er sagt, für jeden Quatsch zu haben sei. Die Betreuer mit Wasserpistolen abschießen zum Beispiel.
Ehrlichkeit gehört im Löwenherz dazu. Viel angenehmer als dieses Drumherumreden, Ignorieren, Verstummen.
Später an diesem Tag sitzt Dennis neben einem Betreuer im Garten vor dem Trampolin, darauf drei Betreuerinnen und drei Kinder.
"Als Kind bin ich auch gern gesprungen", sagt der Betreuer.
"Als ich noch alleine stehen konnte, habe ich das auch gern gemacht", sagt Dennis.
"Setz dich doch einfach mit drauf, Dennis! Ich darf auch nicht hüpfen wegen meiner Beine", sagt Ramona.
In dem langen Gang, der Jugend- und Kinderhospiz verbindet, hängt Dennis "Dream-Box", jeder Hospiz-Gast hat aufgeklebt und aufgemalt, wovon er träumt. Dennis träumt von "dicken Schlitten". Wenn er von Autos spricht, dann grinst er. Er würde gern Reifen und Zahnriemen wechseln, er möchte sich Öl aus dem Gesicht wischen und Motoren heulen hören.
Emden, im Sommer 2015. Stattdessen sitzt er an diesem Dienstagmorgen in der Ausbildungsküche vor einem Anzeigenblatt und soll ausrechnen, wie viel das Puddingpulver kostet: vier Packungen á 80 Cent. Das macht?
Dennis kocht nicht gern, da sei er Macho, sagt er. Frauensache. Er muss trotzdem ran, denn auf dem Stundenplan der "Ostfriesischen Beschäftigungs- und Wohnstätten" (OBW) steht Spaghetti Bolognese und zum Nachtisch "Blumenerde", Vanillepudding mit zerbröselten Keksen.
Dennis kann rechnen, aber manchmal ist er ein bisschen bequem, schließlich war von klein auf fast immer jemand da, der ihm hilft. In der Schule weigerte er sich deswegen auch, Lesen und Schreiben zu lernen.
Wahrscheinlich lag es aber auch an einer Lehrerin: Die schob ihn mal auf den Flur, als er nicht schnell genug las. Seiner Freundin Ramona möchte er trotzdem lieber allein E-Mails schreiben, ohne die Hilfe seiner Mutter. Deswegen bringt er es sich jetzt selbst bei.
In Emden gehört Dennis zu den Mitarbeitern mit Behinderungen, wobei ihn Fachkräfte unterstützen, insgesamt arbeiten mehr als 1150 Menschen in der Werkstatt, einer der größten Arbeitgeber in der Region. Eine Fachkraft sorgt jetzt dafür, dass Dennis sich nicht ausruht im Kopf: vier Packungen á 80 Cent. Dennis? 3,20 Euro, sagt er. Sehr gut.
Dennis und die anderen sechs Mitarbeiter in der Küche arbeiten im Berufsbildungsbereich, hier machen sie eine Art Ausbildung. Nach zwei Jahren entscheiden Personal und Mitarbeiter, wie es weitergeht: Holzverarbeitung? Montage? Gartenbau? Oder Hauswirtschaft? Bleiben sie bei den OBW oder schaffen sie es auf den ersten Arbeitsmarkt, zu Volkswagen zum Beispiel?
Der Bundesagentur für Arbeit liegen keine Zahlen vor, wie viele behinderte Jugendliche deutschlandweit diesen Sprung schaffen, auch bei den OBW schaffen es nur wenige. Manche Wissenschaftler und Experten kritisieren solche Werkstätten deswegen, denn die Uno-Behindertenrechtskonvention verlangt:
Menschen wie Dennis gehören nicht auf Förderschulen, nicht in speziell für sie eingerichtete Werkstätten, sondern mitten in die Gesellschaft.
Nur ist die Gesellschaft damit eben oft überfordert. Dennis’ Krankheit zum Beispiel hat ihn inkontinent gemacht, Zuhause wechselt seine Mutter die Windeln, bei den OBW das Personal. Wer würde das bei Volkswagen, seinem Traumarbeitgeber, übernehmen?
Zwar müssen in Deutschland Betriebe ab 20 Mitarbeiter auch behinderte Menschen einstellen. Doch können sie sich davon auch freikaufen. 2013 zahlten rund 60 Prozent der betroffenen Betriebe lieber die Ausgleichsabgabe.
Wenn Dennis nicht gerade rechnet, dann verpackt er zum Beispiel kleine Holzstäbchen, gemeinsam mit anderen Schwerstbehinderten, die permanent Pflege brauchen. Wie das für ihn ist? "Ich sag mal so, bin der einzige, der noch sprechen kann."
Dennis weiß, was er kann, und was die Krankheit ihm nimmt. Das macht ihm das Genießen nicht unbedingt einfacher. Das zeigt ihm, der erwachsen werden und seine Grenzen austesten will, wie abhängig er ist, vor allem von seiner Mutter. Einerseits. Andererseits sagt Dennis:
Und zum Leben gehört eben auch der Alltag, mit all jenen Aufgaben, die nicht immer so viel Spaß machen. Mit Kollegen, die ihn mal necken, aber vor allem so nehmen, wie er ist. Dazu gehört auch ein strukturierter Tagesablauf mit Dienstbeginn, Feierabend, Urlaub und eigenem Gehalt, auch wenn sich Dennis mit rund 80 Euro monatlich eher ein Taschengeld verdient.
Am Nachmittag steht Dennis vor der Werkstatt und wartet. Dutzende Busse, Autos und Bullis fahren vor und bringen Alte, Junge, Männer, Frauen zurück in die Gesellschaft. Wie zur Rushhour am Busbahnhof.
Später sagt Dennis, er wolle nur bis zu seinem Rentenanspruch arbeiten. Das sei gar nicht mehr so lang, nicht mal 20 Jahre, rechnet er vor. "Und vielleicht", sagt er, "verwirkliche ich mir ja doch noch meinen Traum und werde KFZ-Mechaniker."
Dennis weiß, dass er nie das Rentenalter erreichen wird, trotzdem übt er noch ein bisschen. Zwar nur Autorennen an der Playstation, aber da ist er fast unschlagbar.
Februar 2016, Oldenburg. Dennis spricht zusammen mit einer Mitarbeiterin vom Löwenherz beim "Tag der ambulanten Kinderhospizarbeit". Während des Vortrages lacht Dennis wieder viel, das Publikum lacht mit.
Er sagt, dass der Urlaub nicht nur ihm gut tue, sondern auch seiner Mutter. Die sei schließlich auch "angeknackst" bei so viel Pflegearbeit, deswegen brauche sie auch mal eine Auszeit von ihm. Er sagt auch, das Löwenherz habe ihm geholfen, seinen Platz zu finden im Leben.
Und eine Aufgabe, sonst wäre er heute nicht hier. Er will auch anderen die Angst vor dem Tod nehmen. Er will, dass sie behinderte Menschen wie ihn behandeln wie einen normalen Erwachsenen, deswegen hat er sich irgendwann auch den kleinen Schnäuzer stehen lassen: Das verschafft ihm Respekt, hofft er.
"Ich bin doch auch ein Mensch", diesen Satz sagt Dennis oft, nicht nur in Oldenburg.
Am Ende fragt einer, was Dennis sich wünscht, wenn eine Fee vor ihm stünde. "Mein erster Wunsch: einen Bugatti fahren", sagt Dennis. "Mein zweiter Wunsch ist schon etwas realistischer: Ford Mustang. Und mein dritter: ein Nissan Skyline."
Nach dem Vortrag lacht Dennis nicht mehr so viel. Ramona, seine Freundin, hat sich getrennt.
Dennis reichte es irgendwann nicht mehr, nur mit ihr rumzualbern. Ramona aber wollte nicht mehr.
Juli 2016, Hamburg. Dennis und seine Mutter schauen sich das Musical "König der Löwen" an, Dennis hat sich das gewünscht. "Er baut ganz schön ab", sagt sie. "Ich baue ganz schön ab", sagt Dennis.
Er kann nicht mehr richtig schlucken. Und wenn er Nudeln oder Taschentücher aufs Einkaufsband im Supermarkt legen will, fallen sie ihm jetzt oft runter. Computer spielen geht aber noch, sagt er und lacht.
Seine Mutter leidet, das sieht Dennis. Er versuche dann ruhig zu bleiben oder einen Witz zu machen. Aber: "Mich nimmt die Situation ja auch mit."
Noch immer trägt er das halbe Herz, von dem er Ramona die andere Hälfte geschenkt hat, da waren sie noch zusammen. Er habe sich mit der Trennung abgefunden, sagt er. "Aber tief drinnen liebe ich sie noch."
August 2016, Frankfurt. Dennis und seine Mutter fahren zusammen in die Klinik zum MRT-Termin, sie wollen wissen, warum er sich so oft verschluckt. Sie wollen wissen, ob sie was tun können, denn eine Lungenentzündung würde Dennis wohl nicht überleben.
Als der Arzt nach der Narkose die künstliche Beatmung beenden will, atmet Dennis nicht mehr selbständig. Er bleibt bis zum Abend auf der Intensivstation.
Die MRT-Bilder zeigen, dass sich Dennis’ Kleinhirn beidseitig abgebaut hat; es kann den Körper immer schlechter steuern. Die Ärzte schicken Dennis mit Parkinson-Medikamenten nach Hause, sie machen ihn in den Wochen danach psychisch fertig und können die Krankheit doch nicht aufhalten. Er setzt sie ab.
Dennis geht jetzt nicht mehr regelmäßig zur Arbeit.
Anfang Oktober 2016, Syke. Im Hospiz sehen Dennis und Ramona sich wieder. Sie hat einen Neuen. "Zu allem übel ist er auch noch Bayern-Fan", sagt Dennis. Dabei feuerten Ramona und Dennis doch immer gemeinsam Dortmund an.
Ende Oktober 2016, Facebook. Dennis' Mutter teilt eine zwei Jahre alte Erinnerung.
November 2016. "Es sieht alles gar nicht gut aus", sagt die Mutter. "Ich wusste es ja immer. Es ist nicht so, dass ich es verdrängt habe. Aber jetzt wird es auf einmal… Ich weiß gar nicht, wie ich damit umgehen soll."
"Ich bin dem Tod ein großes Stück näher gekommen", sagt Dennis. "So fühlt es sich an. Aber was soll ich dagegen machen? Witze helfen jetzt auch nicht mehr. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken.
Es ist wie es ist.
Mein größter Wunsch ist, dass Ramona zu mir zurückkommt."