Von Florian Gathmann, Christoph Hickmann, Veit Medick, Ralf Neukirch, Lydia Rosenfelder und Christian Teevs
Bei
"Vogt's Bier-Express" sind schon viele Siege gefeiert worden, aber wohl noch
keiner wie dieser. Wenn in der Kneipe in Berlin-Kreuzberg gefeiert wird, geht
es meist um Fußballspiele, die hier übertragen werden, doch an diesem späten
Samstagabend steigt hier eine politische Siegesfeier. Eine, deren Folgen das
Land noch länger beschäftigen werden.
Im "Bier-Express" hängen alte Werbeschilder für Zigaretten oder Berliner-Kindl-Bier an
der Wand, unter einem Bildschirm baumelt eine einsame, wohl adventlich gemeinte
rote Glitzergirlande, in der Ecke daneben steht eine Dartscheibe. Und am Tisch
gegenüber hat sich eine Runde versammelt, die künftig nicht nur die SPD,
sondern die Regierung prägen wird. Zumindest solange die noch hält.
Es sitzt
dort gegen 23 Uhr am Samstagabend, umgeben von seiner Partnerin, seiner Tochter
und Unterstützern: Norbert Walter-Borjans, fünf Stunden zuvor als Sieger der
Stichwahl um den SPD-Vorsitz ausgerufen. Einen Tisch weiter, zusammen mit ein
paar ziemlich fröhlichen Jusos, sitzt Saskia Esken, die mit ihm künftig die
Partei führen soll. Eine Jungsozialistin bringt eine Runde Pfefferminzlikör,
zack, runter damit. Muss ja. Heute wird gefeiert, morgen wartet Arbeit. Viel
Arbeit.

Walter-Borjans, Esken: Zack, runter damit. Muss ja
Das Ergebnis der Stichwahl – der Sieg von Esken und Walter-Borjans, die klare Niederlage von Klara Geywitz und Vizekanzler Olaf Scholz – markiert eine Zäsur, nicht nur für die SPD. Hier hat eine Parteibasis laut und vernehmbar Nein gesagt, "nicht mehr mit uns", hat gegen das Establishment gestimmt, gegen sämtliche Wahlempfehlungen der Parteiprominenz. Das eherne Gesetz der SPD, wonach die Mitglieder am Ende doch immer der Partei- und Staatsräson folgen – es ist seit Samstag Geschichte.
Und nun stehen sie da, Esken und Walter-Borjans, die Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg und der ehemalige Landesfinanzminister aus Nordrhein-Westfalen, und müssen entscheiden, wie es mit der Koalition weitergehen soll, wie sie eine gespaltene Partei wieder zusammenführen und ihr nach den Jahren der Formelkompromisse wieder eine Identität geben wollen. Sie müssen Posten besetzen, Personalfragen klären, den Parteitag überstehen.
Es ist ein
Programm, an dem auch regierungserfahrene politische Vollprofis scheitern könnten.
Deshalb ist das, was Esken, Walter-Borjans und ihre Partei nun wagen müssen,
ein hochinteressantes Experiment. Es geht um die Frage, ob das funktionieren
kann: dass zwei Neulinge (und das sind die beiden ganz vorn auf der großen
Berliner Bühne) mal eben die älteste deutsche Partei übernehmen und die Dinge
einfach mal anders machen, als sie all die Jahre zuvor gemacht wurden. Die
Skepsis im Berliner Betrieb ist nicht groß, sie ist erdrückend.
Gelingt
das Experiment, ist damit ein zentrales Argument entkräftet, mit dem sich das
Parteiestablishment in den vergangenen Jahren immer wieder gegen allzu radikale
Versuche der Erneuerung gewehrt hat, personell wie inhaltlich: Das Berliner
Geschäft, so lautete der Zirkelschluss, sei eben nur etwas für Profis, die das
Berliner Geschäft verstünden.
Dadurch
speiste sich das Spitzenpersonal der SPD seit Jahren aus einem engen Kreis.
Hubertus Heil, der Arbeitsminister, war schon 2005 Generalsekretär, Olaf Scholz
war es von 2002 bis 2004. Hin und wieder kamen neue Gesichter dazu, wohl eher
aus der Not heraus, weil man zum Beispiel mehr Frauen brauchte. Das ist jetzt
anders. Die Neuen sind von der Basis gewählt und gewollt, und auch hinter ihnen
wird es neue Gesichter geben. Es ist eine echte Disruption.

Esken (l.), Kühnert: Und wenn das Experiment scheitert?
Und wenn
das Experiment scheitert? Dann hätte das Establishment recht behalten. Und die
SPD müsste sich womöglich bald vor der Fünfprozenthürde fürchten.
Wie also schlagen sich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in ihren ersten Stunden und Tagen als designierte Vorsitzende? Was müssen sie bis zum Parteitag leisten, wer sind ihre Unterstützer? Wie verläuft die Startphase dieses Experiments?
Noch
einmal zurück in "Vogt's Bier-Express", neben der berühmten Wurstbude "Curry
36". Es ist 0.40 Uhr, Norbert Walter-Borjans macht sich gerade auf den Heimweg,
als noch ein besonderer Gast eintrifft. Kevin Kühnert, das riecht man, hat vor
der Tür offenkundig noch eine geraucht. Warum er so spät kommt? Er habe, sagt
Kühnert, gerade mehrere Stunden lang telefoniert.
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