In "Heidi M.", jenem Film, der sie zurück ins Leben holte, gibt es eine Szene, die alles über Katrin Sass erzählt. Über sie als Schauspielerin, über sie als Ostdeutsche, über sie als Alkoholikerin, die sie über viele Jahre hinweg war.
Es ist die Nachwendezeit, das Leben ist aus den Fugen geraten, und Katrin Sass geht in der Rolle der Heidi M. in eine Bar, um sich abzulenken. Sie bestellt einen "Moskito" und zieht lasziv an einer Zigarette, um den anwesenden Handelsvertreter auf sich aufmerksam zu machen. "Sie meinen Mojito?", fragt der Barkeeper. "Hm", murmelt Heidi M. verschämt und spricht den Barkeeper ungerührt mit "Herr Ober" an. Alte Ostgewohnheit. Und Mojito gab's halt früher nicht.
Für Katrin Sass verschwimmen in dieser Szene Rolle und Realität. Eine Frau kommt aus einem geordneten Leben, dem politischen Umsturz folgt ein privater Absturz, mühsam versucht sie Anschluss zu finden an das neue System. Und erträglich ist das alles nur mit exotischen Drinks, die es von nun an im Überfluss gibt.
Genauso ist es Katrin Sass ergangen. In der DDR war sie eine begehrte Theater- und Defa-Schauspielerin, zählte zum Ensemble der Bühnen in Frankfurt (Oder), Halle und Leipzig. Schon 1982 wurde sie für ihren Film "Bürgschaft für ein Jahr" bei der Berlinale mit dem "Silbernen Bären" als beste Schauspielerin neben Michel Piccoli ausgezeichnet, da war sie noch Studentin, durfte sogar zur Verleihung nach West-Berlin fahren. "Dennoch schnitt man mich nach meiner Rückkehr in die DDR zwei Jahre lang." Adäquate Rollenangebote wurden ihr verweigert.
Sie hatte den richtigen Preis im falschen Land gewonnen. Wie vieles in der DDR war auch die Film- und Theaterlandschaft politisch beeinflusst, und wer zu weit ausscherte, wurde umso enger eingehegt. Ihren Frust versuchte sie im Alkohol zu ertränken.
Heute zählt Katrin Sass, 62, wieder zu den gefragtesten Schauspielerinnen des vereinten Landes. "Heidi M.", "Good Bye, Lenin!", die regimekritische Liedermacherin Dunja Hausmann in der mehrteiligen Saga "Weissensee" und schließlich ihre Rolle als Neonazi-Mutter in der Netflix-Serie "Dogs of Berlin" haben sie zurückgeführt in ein geordnetes Leben. "Vor ein paar Wochen habe ich gefeiert, 20 Jahre trocken zu sein", erzählt Sass.
Gerade kam sie mit ihrem schwarzen Beetle aus Köpenick in die Stadt zur Verabredung, parkt aus lauter Not direkt vorm Café im Halteverbot. Mit dabei Hundewelpe Lucky, über den sie sich freut wie über ein kleines Baby. An den Nachbartischen tuscheln die Leute: "Das ist doch die Dunja Hausmann".

Dieser Artikel stammt aus dem SPIEGEL SPEZIAL 30 Jahre Mauerfall: Ziemlich beste Deutsche - Warum es uns so schwerfällt, ein Volk zu werden.
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Wieder verschwimmen Rolle und Realität. Doch diesmal ist Sass mit sich im Reinen, sie bewohnt ein Haus am Ufer des Müggelsees, hat neuerdings einen Sportbootführerschein und mischt sich in politische Dinge ein, wenn es ihr wichtig ist. Für den 5. November lud sie "Cinema for Peace" nach Moskau ein, um Michail Gorbatschow für seine Rolle in der Wendezeit zu danken. Und wenn sie merkt, dass in ihrer Bekanntschaft SUV-fahrende Unternehmer mit der AfD sympathisieren, dann stellt sie die zur Rede: "Hör mal, bist du verrückt? Willst du '33 zurück?"
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