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KRIMINALITÄT 1/2-1/2 mit der Bank

Sprachwissenschaftler entlarven per Computer die Verfasser von Erpresserbriefen. Das Bundeskriminalamt hinkt der Entwicklung hinterher. *
aus DER SPIEGEL 21/1988

Du warst der erste vernünftige Typ, und im Bett bist Du super«, schrieb die Aushilfskellnerin Monika ("Moni") Baumhardt in einem Brief an ihren Freund Rainer. Doch wichtiger als Monis Komplimente und »heiße Bussy''s war dem Freund ein Dementi der Geliebten: »Du bist nicht der Vater meiner Tochter, ich werde das klarstellen.«

Der Text war ein Diktat unter Zwang. Stunden später war Monika Baumhardt, 22, tot - erstickt in einer über den Kopf gezogenen Plastiktüte. Ein Bauer, der auf einem Feld bei Bonn mit dem Mähdrescher Getreide erntete, entdeckte ihre Leiche im August vorigen Jahres auf einem vier Meter hohen Strohhaufen, daneben vier Kanister Benzin.

Monikas letzte Briefe an Rainer und an ihren Arbeitgeber, den Kioskinhaber Heinz Kremer, sind die wichtigsten Beweisstücke, mit denen ein Bonner Schwurgericht den mysteriösen Tod aufklären will. Auf linguistische Textanalysen per Computer, eine noch weithin unbekannte Disziplin der Kriminaltechnik, stützt die Staatsanwaltschaft ihre Anklage wegen »Freiheitsberaubung mit Todesfolge« gegen Monikas Chef.

Unter der Last der Analysen und Argumente, die der Kölner Sprachwissenschaftler Raimund Drommel, 42, nach Lektüre von Tagebüchern, Liebesbriefen und Kassibern zusammentrug, legte Kremer ein erstes Geständnis ab. Ex-Liebhaber Rainer, der zunächst auch unter Tatverdacht stand, geht vermutlich straffrei aus.

Ihm, dem zeitweilig inhaftierten »herzaller Liebsten«, hatte das Opfer zärtliche Post in den Knast geschickt und vom Laufenlernen der Tochter Jessika berichtet:"Wir haben ein Wunderkind. Das ist Wahnsinn, was sie schon alles kann.«

Doch das Wörter-Stakkato und die sonderbaren Schreibweisen ("mieße Typen«, »immer nur Pesch«, »Liebkosungen zu geniesen") paßten überhaupt nicht zu jenen Briefen, die in Monika Baumhardts Handschrift sowohl an Freund Rainer wie an Arbeitgeber Kremer gegangen waren. Gutachter Drommel entdeckte eine Sprachmelodie, die er aus sichergestellten Briefen Kremers kannte.

Die Post Kremers, die Tagebücher der erstickten Kellnerin Monika, aber auch Erpresserbriefe an einen Kardinal und einen Kaufhauskonzern zählen inzwischen zum Lehrmaterial der Studenten, die sich unter Drommels Leitung an der Siegener Gesamthochschule auf einen neuen Beruf vorbereiten: »Geprüfter Textsachverständiger«.

Als vereidigte Gutachter von Industrie- und Handelskammern (IHK) und als Sprachexperten der Kriminalpolizei wollen die zwei Dutzend Schriftgelehrten nach ihrem Linguistik-Studium all jene Schreiber entlarven, die aus der Anonymität Firmen und Privatpersonen schmähen und schurigeln, beleidigen und bedrohen. Längst sei es an der Zeit, meint Drommel, einer »einäugigen Kriminaltechnik« zu neuer Einsicht zu verhelfen: »Bei Klebstoff - und papieranalysen sind die Kriminalisten auf dem neuesten Stand, in Sachen Sprache dagegen bewegen sie sich auf dem Niveau der Steinzeit.«

Welche Möglichkeiten die Computer den Linguisten bieten, demonstriert der Polizeikritiker mit voluminösen Text-Gutachten für Versicherungskonzerne, Staatsanwälte und Privatdetekteien. Die Basis sind Balkendiagramme für syntaktische Profile und Konkordanzausdrucke eines EDV-Rechners, in denen typische Vokabeln und ihr Satzzusammenhang ähnlich geordnet sind wie Zitate in Büchmanns »Geflügelten Worten«.

Aus anonymen Anwürfen und Vergleichstexten von Verdächtigen sucht Drommel Besonderheiten in Orthographie und Satzbau und prüft, ob stereotype Sprachmerkmale wiederkehren. Eine »linguistische Differentialdiagnose« definiert in sieben verschiedenen Arbeitsgängen Alter, Geschlecht und Beruf des Schreibers, sein soziales Umfeld und seine regionale Herkunft.

So wurde ein Anonymus, der in Briefen ans Mainzer Innenministerium und an die Staatsanwaltschaft einen Polizeichef verleumdet hatte, an seiner Polizistensprache entlarvt. Standardisierte Formeln, wie sie auch in Vernehmungsprotokollen stehen ("wohnhaft«, »mir ist bekannt«, »weitere Angaben kann ich nicht machen"), lenkten den Verdacht auf ein rheinisches Kleinstadt-Revier.

Dort sitzt ein Beamter, der in Ermittlungsberichten eine eigene Orthographie pflegt ("Pkw« statt »PKW«, »z. H.d.« statt »zu Händen von") - dieselbe wie der Briefschreiber. Mancher falsche Dativ anstelle eines Akkusativs in den Protokollen wie in den anonymen Texten bestätigte die Vermutung: Der Autor der Schmähpost war ein Ostpreuße; demnächst steht der Polizeibeamte vor Gericht.

Nicht nur bei Privatfehden, auch im Auftrag von Firmen helfen Drommel und seine Linguistik-Kollegen mit Gutachten (Preis: 3000 bis 5000 Mark) aus. So hatte im Rheinland ein Hersteller von Lautsprechern als Originalverpackung Kartons mit dem Firmensignet eines Konkurrenten verwendet, die noch aus _(Bergung der Leiche am 12. August 1987. )

früherer geschäftlicher Zusammenarbeit vorrätig waren. Ein Rundschreiben an zahlreiche einzelhändler und an Testzeitschriften, aufgemacht als angeblicher »Branchen-Pressedienst FAZ«, verwies auf »Schadensersatzklage« und »Strafantrag wegen meineidlicher Falschaussage« gegen den Karton-Klau.

Das 56-Seiten-Gutachten, in dem sich Drommel ausgiebig mit Kasus- und Satzbaufehlern auseinandersetzte, ließ »nicht den geringsten Zweifel« aufkommen, daß der geschädigte Konkurrent der Verfasser der fingierten Rundum-Post war. »Linguistische Fingerabdrücke«, ein überflüssiges Komma etwa oder das Wort »kreativ« mit »c«, deckten sich mit Schreibweisen im Firmenprospekt des Elektronikproduzenten, in dem anglizistische »c«-Varianten ("excellent«, »Oscillograph«, »scriptum") besonders häufig vorkamen.

In Bayern waren anonyme Briefe an den Geschäftsführer einer Versicherung mit einer so auffälligen Syntax verschickt worden ("Du hast den Staat mit Steuer betrogen, du hast 1/2-1/2 mit der Bank gemacht, sollen wir weiter aufzählen?"), daß alles auf eine jugoslawische Verfasserin hindeutete, die wenige Wochen zuvor gekündigt hatte. Sie forderte vom Chef, auch im Namen einiger Vertriebskollegen, »mindestens 300 000 pro Nase«.

Kriminaltechniker des Bundeskriminalamts (BKA) sind entsetzt, daß Drommel das polizeiliche Know-how über Droh- und Erpresserbriefe so freimütig in Uni- und IHK-Veranstaltungen ausplaudert. »Wenn jeder Anonymus lesen kann, wie wir ihm auf die Schliche kommen«, klagt BKA-Mathematiker Ulrich Perret, »dann schreibt er vielleicht bald nur noch kurze Standardsätze, und der Fahndungsansatz geht flöten.«

Perret hat in Wiesbaden das EDV-Programm »Textor« entwickelt, das jedes Wort, jede Sequenz aus anonymen Schreiben in seine Grundformen zerlegt. Jeder Schreibfehler, jede typographische Eigenheit wird in die BKA-Dateien eingegeben. Eine Lexikon-Datei macht die Suchbegriffe allzeit verfügbar, ein Wörterbuch verweist auf Fundstellen, denen sie entstammen.

Über diesem Verfahren der Textanalyse brütete schon der frühere BKA-Präsident und RAF-Verfolger Horst Herold, der stets darüber lamentierte, daß »die sprachliche Komponente« bei der Analyse von Kommando-Erklärungen »unberücksichtigt bleibt«.

Doch Perret kam nicht sehr weit bei seinen Versuchen, hinter den Absonderungen der Revolutionären Zellen, der Roten Zora oder der RAF spezielle Federn zu erkennen: »Die Vergleichbarkeit der Texte«, entschuldigt sich der BKA-Analytiker, sei »durch das weitgehende Fehlen individual-sprachlicher Merkmale sehr erschwert«. In der praktischen Fallarbeit reicht es denn auch oft nur zu »BKA-internen Ermittlungshinweisen«.

Höchstens »alle 14 Tage« (ein Insider) wird das BKA-System »Textor« in einem Ermittlungsfall eingesetzt. Selten gelingen Gutachten bis zur Beweisreife.

Die BKA-Wortstatistik, behauptet Gutachter Drommel, sei längst noch keine linguistische Textanalyse, sondern »das reinste Erbsenzählen«, das Ergebnis mithin für eine Auswertung »völlig wertlos«. Wenn der Kölner Wissenschaftler im Wiesbadener Amt zum Fachsimpeln weilt, fühlt er sich »wie ein Bote, der Menschen auf einer einsamen Insel die Errungenschaften moderner Zivilisation und Technik nahebringen will«.

Die BKA-Kriminaltechniker machen auch nicht allzuviel Reklame für das »Textor« -Modell. Sie wollen nicht von Lawinen anonymer Post überschüttet werden, die als neuer Vergleichsstoff in den Computer eingegeben werden müßten. Perret rät den Opfern alltäglicher Schmähbriefe, die Corpora delicti »von privaten Sprachschulen« analysieren zu lassen. Das BKA möchte »nur harte Nüsse« knacken und wenige Gutachten abgeben. »Dazu«, meint Perret, »reicht systematisierter Common sense.«

Was Perret und zwei seiner BKA-Kollegen gelegentlich im Fachblatt »Kriminalistik« über die »sehr begrenzten Erfahrungen« des Wiesbadener Amtes auf dem Gebiet des forensischen Textvergleichs referieren, bewerten akademisch geschulte Linguisten abfällig als »Etikettenschwindel« und »Dornröschenschlaf«. Es sei »ein Politikum«, so Drommel, daß sich die kriminologische Forschung im BKA anmaße, »auf eine Unmenge von Verfahren und Prozeduren der Linguistik zu verzichten«.

Während BKA-Vizepräsident Hans Zachert es für »undenkbar« hält, die BKA-Nachwuchsschulung in Drommels Seminaren zu absolvieren, sieht Drommel

selber für Sprachwissenschaftler reale Berufschancen im Kriminal-Milieu. Bei Mordkommissionen in Nordrhein-Westfalen hat sich herumgesprochen, wie clever Linguisten Fälle klären können - so etwa die Sache Monika.

In Briefen, die eindeutig echt waren, hatte die erstickte Monika Baumhardt ihrem Rainer »echt herbe Dinge« gestanden: daß sie mit »Valium 10« auf die abschüssige Drogen-Bahn geraten sei und daß ihr Chef Heinz Kremer sie mit immer höheren Dosen »auf dem Strich« haben wollte. Um ihre Schulden bei ihm »auf andere Weise« zu begleichen, habe sie schließlich mit Kremer einen Überfall auf den Kiosk fingiert: »Er räumte es aus, sperrte mich in den Toiletten ein, und als er fort war, schrie ich um Hilfe.«

Weil nach den Recherchen der Staatsanwaltschaft Kremer diese Vorwürfe entkräften und Ex-Freund Rainer andererseits seine Vaterschaft leugnen wollte, sollen die beiden Männer verabredet haben, »Plaudertasche Moni mal ins Gebet zu nehmen« (ein Kripo-Ermittler), und zwar jeder für sich.

Nach der Aussprache über die Vaterschaft habe Kremer unter einer Autobahnbrücke die Ex-Freundin seines Schwagers Rainer zu »weiterer Seelenmassage« übernommen. In seinem Wohnmobil habe Kremer seiner früheren Kioskangestellten dann entlastende Briefe diktiert - an den mutmaßlichen Vater von Tochter Jessika, dann an sich selber: »Du hast mit dem Raub nichts zu tun, und was meine anderen Aussagen betrifft, so habe ich auch gelogen.«

Danach will Kremer die für ihn gefährliche Zeugin gefesselt haben, um sie aus dem Gesichtskreis der Bonner Kripo nach Süddeutschland zu bringen. Damit sie nicht schrie, will er ihr den Mund verklebt und einen Plastiksack übergestülpt haben - mit einem Atemschlitz. Anderntags, nach einem Nickerchen auf einem Parkplatz bei Nürnberg, entdeckte der Kidnapper, daß seine Geisel sich nicht mehr regte: »Sanfter Erstickungstod«, befanden später Bonner Gerichtsmediziner.

Drommel stellte fest, daß die Anrede »Hallo, Rainer« und Wendungen wie »eigentlich bin ich«, »schwer sauer« oder »blöd, was« nicht zum Brief- und Tagebuch-Stil Monika Baumhardts passen. Just jene Floskeln fanden sich aber in einem Kassiber Kremers an seine Frau ("Hallo, Sternchen").

Einen entscheidenden Anhaltspunkt dafür, daß der tatverdächtige Kremer das Opfer im Wohnmobil zum Schreiben nach Diktat gezwungen haben muß sah Drommel in der Ahnlichkeit der Formulierungen »Vater meiner Tochter« (Brief an Rainer) und »Mutter meines Sohnes« (Kassiber).

Der Angeklagte gab sich geschlagen. Am Dienstag vor Pfingsten begann vor einem Bonner Schwurgericht der Prozeß. Hauptbelastungszeuge wird der Linguist Drommel sein.

Bergung der Leiche am 12. August 1987.

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