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LEICHTATHLETIK / JUTTA HEINE 110 Zentimeter Beine

aus DER SPIEGEL 38/1962

Als sie 18 war, erklärte Sportmediziner Professor Reindell sie für blutarm. Er riet: »Sie müssen Eisen schlucken.«

Als sie knapp 20 war, rannte sie

so schnell über die Olympia-Piste von Rom, daß sie zur Verblüffung sämtlicher Experten zwei Silbermedaillen errang*.

Wer diese Erfolge des einst dünnblütigen Mädchens Jutta Heine aus Hannover noch als zufällig ansah, wurde alsbald eines Besseren belehrt. Die schlanke Blondine bewegte sich auf beiden Kurzstrecken, deren Weltrekorde über 100 Meter mit 11,2 Sekunden (1961) und 200 Meter mit 22,9 Sekunden (1960) Amerikas schwarze Laufkatze und dreifache Goldmedaillengewinnerin Wilma Rudolph hält, von Jahr zu Jahr flinker.

Mit 11,6 Sekunden für 100 und 23,7 Sekunden für 200 Meter beschloß Jutta Heine die olympische Saison. 1961 steif gerte sie sich auf 11,5 und 23,5 Sekunden und erreichte mithin in beiden Distanzen die deutschen Rekordgeschwindigkeiten für Damen.

Längst von den deutschen Leichtathletik-Schreibern zur »Sprinterkönigin« gekrönt, lief die schnelle Jutta in diesem Jahr zu noch eindrucksvollerer Höchstform auf. Mit 11,4 Sekunden stellte sie in Prag bei den Ausscheidungswettbewerben (zur Europameisterschaft) gegen die DDR-Sportschwestern einen neuen gesamtdeutschen 100-Meter -Rekord auf.

Und wenig später gelang ihr bei ähnlichen Wettbewerben in Malmö nochmals eine Steigerung: Sie legte die 200 Meter in der europäischen Rekordzeit von 23,3 Sekunden zurück. Damit rückte sie - vor allem im 200-Meter-Lauf und als Schlußläuferin der 4-mal-100 -Meter-Staffel - zwangsläufig an die Spitze der Sprint-Favoritinnen bei den Leichtathletik - Europameisterschaften zu Belgrad**, die letzten Sonntag beendet wurden - an Jutta Heines 22. Geburtstag.

Der Sprint, die hemmungsloseste Form des läuferischen Zweikampfes, hat im letzten Vierteljahrhundert wie keine andere leichtathletische Disziplin in Deutschland nationale Begeisterung entfacht. Kein Volk dieser Erde nahm je inniger Anteil an dem Hecheln und Keuchen der Kurzstreckenläufer über 100 und 200 Meter. Und der sportliche Auftrag des Sprinters entsprach dem

deutschen Mythos des 20. Jahrhunderts: unter maximalem Willens- und Kraftaufwand mit Höchsttempo ins Ziel zu stürmen.

Die neudeutsche Sprinter-Tradition reicht von Berlin 1936, wo den Deutschen ihre schon sicher gewonnen geglaubte erste olympische Goldmedaille einer Sprinter-Konkurrenz im letzten Moment entglitt, bis nach Rom 1960, wo sie die goldene Plakette tatsächlich bekamen.

In Berlin legte Adolf Hitler die Hand vor die tränenfeuchten Augen, und Gram verbreitete sich im Stadion, als die deutschen 4-mal-100-Meter-Sprinterinnen bei zehn Meter Vorsprung den Staffelstab und damit die Goldmedaille verloren.

Als in Rom 100-Meter-Läufer Armin Hary die erste Sprinter-Goldmedaille für Deutschland gewonnen hatte und eine Woche später auch die männliche 4-mal-100-Meter-Staffel einen deutschen Endsieg schaffte, da erscholl der Jubel von der Etsch bis an den Belt lauter als bei jedem anderen deutschen Olympia-Triumph.

Damit wurde »Amerika und den Negern die Krone der reinen Schnelligkeit geraubt«, merkte damals der »Messaggero« an. »Nach dunklen Jahren des Wartens hat Europa wieder die Initiative an sich gerissen.«

Eine Sprinter-Krone war den Amerikanern geraubt, aber ihre Überlegenheit im Kurzstreckenlauf blieb erhalten. Die Deutschen mußten sich mit der Herrschaft in Europa begnügen.

Die deutsche Sprinter-Hegemonie im Abendland begann unmittelbar nach dem demütigenden Stafetten-Pech von Berlin, das dem olympischen Schirmherrn Hitler das Wasser in die Augen getrieben hatte. Die anschließend von ihm persönlich getrösteten Läuferinnen errangen 1938 die Europameisterschaft. Und auch die deutschen Sprint-Männer wurden auf der letzten Meisterschaft vor dem Krieg Europas Sieger.

Erst 1952 durften die Deutschen nach dem Kriege wieder über olympische Pisten sprinten. In Helsinki behielten die deutschen Damen den dicken Staffelknüppel zwar fest in den Händen, aber sie wurden nicht Erste, sondern gewannen die Silbermedaille.

Dann brach - parallel zum deutschen Wirtschaftswunder - eine Hochkonjunktur deutscher Kurzstreckenläufer an, die - im Unterschied zum Wirtschaftswunder - bis heute nicht abgeflaut ist. Heinz Fütterer ("Der weiße Blitz") ersprintete sich 1954 zu Bern Europameistertitel über 100 und 200 Meter. Wenig später fegte er so schnell fiber eine Aschenbahn in Osaka, daß er die derzeitige Weltrekordzeit von 10,2 Sekunden erreichte und auf Jahre hinaus populärster deutscher Schnelläufer und nationaler Heros blieb.

Auch bei den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne war den Deutschen Sprinter-Ruhm beschieden. Die kleine, flinke DDR-Läuferin Christa Stubnik erflitzte zwei Silbermedaillen (100 und 200 Meter) für den Ulbricht-Staat.

Nun spurteten die deutschen Maximal-Beschleuniger mit Riesenschritten auf neue Höhepunkte deutscher Sprinterherrlichkeit zu. Armin Hary war herangereift und holte sich 1958 in Stockholm den Titel eines 100-Meter-Europameisters.

Die Überlegenheit der deutschen Kurzstreckenläufer war nun schon so groß, daß sie gleich zwei Favoriten in diesem Rennen hatten: Manfred Germar wurde Zweiter, und außerdem wurde er Europameister auf der 200 -Meter-Strecke.

Auch in der 4-mal-100-Meter-Staffel errangen die deutschen Läufer die Europameisterschaft. Der spurtstarke Germar ("Die Gazelle") war nun Chef -Sprinter anstelle des abgetretenen Alt -Sprinters Fütterer.

Hatten die Deutschen schon eine Fülle europäischer Rekorde verbessert, so war ihnen im Sommer 1960 der Weltrekord

vergönnt: In Zürich lief Hary als erster die 100 Meter in 10,0 Sekunden.

Auf diesen gelungenen Streich gegen Amerikas Läufer-Prestige - denn bisher hatten meist die Amerikaner den Weltrekordler gestellt - folgte wenig später ein zweiter: Beim römischen Olympia regnete es Gold und Silber auf die deutschen Sprinter und Sprinterinnen.

Außer den Goldmedaillen für Hary und seine Staffel fielen Silbermedaillen im 200-Meter-Lauf und in der weiblichen 4-mal-100-Meter-Staffel an Jutta Heine und ihre Mitläuferinnen.

Im 200-Meter-Finale lernte die niedersächsische Holzhändler-Tochter in etwas mehr als 24 Sekunden, was es bedeutet, sich auf olympischer Piste um den Fortbestand der deutschen Sprinter-Tradition verdient zu machen.

Gegen einen starken Wind mußte sie ihre letzten Kraftreserven mobil machen, ehe sie - völlig ausgepumpt - hinter der schwarzen Favoritin Wilma Rudolph durchs Ziel gehen konnte.

Die geschmeidige Negerin Rudolph und das glamouröse nordische Sprinter -Girl wurden nach diesem Lauf das meistphotographierte Paar der Spiele. Jutta Heine später: »Wenn die Leute wüßten, wie die ersten Bilder nach diesem Lauf entstanden sind. Wir waren dermaßen fertig - es war furchtbar.«

Jutta Heine ist sexy, flirtgeübt und hübsch, aber sie tanzt nicht - »es sei denn beim Fasching«. Ihr Vater ist Millionär, aber sie hat kein eigenes Auto. Zwölftonmusik ist nicht ihr Fall, hingegen: »Ein Superkleid und schicke Schuhe heben sofort meine Laune.«

Als sie in diesem Jahr ein Studium aufnehmen sollte, schwankte sie eine Zeitlang zwischen Kunstgeschichte und Volkswirtschaft. Dann entschied sich die Millionärs-Tochter aus praktischen Gründen für die Wissenschaft von Handel und Wandel: »Da habe ich bessere berufliche Chancen.«

Die Rekordläuferin ist ein Landkind. In Stadthagen geboren, lebte sie 13 Jahre lang auf dem Rittergut Binder, 20 Kilometer südlich von Hildesheim gelegen, bis Sägewerksbesitzer und Holzkaufmann Heinz-Ulrich Heine - seit 1952 von Juttas Mutter geschieden - den Besitz verkaufte. Als Kind zog sie ihren braunen Wallach »Fant« auf, den sie noch heute »um keinen Preis der Welt« verkaufen würde.

Zum Kummer Vater Heines, der selber früher »nur im Mantel geturnt« hatte, setzte Jung-Jutta mit 15 Jahren einen Entschluß durch, zu dem ihre beiden jüngeren Schwestern Susanne und Ingemarie bis heute keine Neigung empfinden konnten: Sport als Hauptfach. Sie trat in die Leichtathletik-Abteilung des »Deutschen Hockey-Clubs Hannover« ein.

Daß Jutta trotz permanenter Schwächen in Mathematik mit ungebrochenem Ehrgeiz daranging, den Stabwechsel zu drillen, statt Integral-Rechnung zu pauken, hatte zunächst ein eher negatives Ergebnis. Sie fiel zweimal durchs Abitur. Erst nach dem dritten Start, nachdem sie von der hannoverschen Käthe-Kollwitz-Schule zur Goetheschule übergewechselt war, erlangte sie das Reifezeugnis.

Darin stand dann allerdings: »Juttas hervorragende Leistungen in der Leichtathletik verdienen hervorgehoben zu werden. Sie wurde während der Schulzeit Olympiazweite.«

Als 17jährige Elevin der Athletik hatte Jutta Heine schon 1957 zur Spitzenklasse der Jugend gezählt - ein Jahr später galt sie bereits als unschlagbar und wurde Jugendmeisterin im 80-Meter-Hürdenlauf und im Fünfkampf. Und 1959, als sie in die Frauenklasse aufrücken mußte, peilte sie insgeheim schon einen Start auf den Olympischen Spielen 1960 an: »Ich hörte, daß in Rom kein Mehrkampf sein sollte. Das hieß also für mich: Einzeldisziplin, sonst fall' ich hinten runter.«

Diese Einzeldisziplin hatte damals der Sprinterinnen - Trainer des »Deutschen Leichtathletik - Verbandes«, Erich Fuchs (Jutta Heine: »Der schöne Erich"), bereits für seinen Schützling ausgesucht: Er hatte die spezielle Begabung des kräftigen Mädchens erkannt und riet ihr, den 200-Meter-Lauf zu trainieren.

Der Erfolg blieb nicht aus. Schon im ersten Jahr der Zugehörigkeit zur Frauenklasse wurde Jutta Heine Deutsche Meisterin im 200-Meter-Lauf. Im

olympischen Jahr 1960 verlor sie zwar ihren Meistertitel überraschend an ihre Nürnberger Sportfreundin Bruni Hendrix - in Rom war dafür selbst der Sportfeind Vater Heine auf seine Tochter stolz.

Daß die schnelle Jutta das 200-Meter -Rennen um den deutschen Titel 1960 gegen Bruni Hendrix verlor, hatte die gleiche Ursache wie eine Niederlage in der 100-Meter-Meisterschaft von 1961: Jutta Heine war und ist trotz ihrer olympischen Erfolge noch immer keine perfekte Starterin.

Der Grund ihrer Startschwierigkeiten: »Meine Größe - ich komme mitunter nicht glatt in den Lauf hinein.«

Jutta Heine steht bei jedem Start vor dem bei ihrer Lange von 1,805 Meter verständlichen Problem, den ersten Schritt nach dem Startschuß genau im

rechten Verhältnis zum Körper zu setzen - nicht zu kurz und nicht zu lang. Das vordere Bein soll den Körper in Streckung bringen, das hintere soll den Schritt einleiten.

»Es hapert an ihrem vorderen Bein«, sagt Trainer Fuchs, »die erwünschte Kraftentfaltung wird von ihm häufig nur unvollkommen eingeleitet. Dadurch geraten ihr die ersten Schritte zum Teil unregelmäßig wegen der verschieden starken Kraftentfaltung beim Weggehen vom Startblock. Das kann entscheidenden Zeitverlust bedeuten.«

Freilich vermag Jutta Heine aufgrund einer außergewöhnlichen Spurtkraft selbst verpatzte Starts meistens wettzumachen. »Wenn nur dieses Fräulein J. Heine nicht gewesen wäre - England hätte nicht so schlecht abgeschnitten«, zürnte der »Guardian« dem niedersächsischen Mädchen für seinen wackeren Spurteinsatz 1961 im deutsch-britischen Damen-Länderkampf. Denn: »Dreimal - über 100, über 200 Meter und auf der letzten Staffelstrecke - überholte sie englische Mädchen just dann noch, wenn der erste Platz für England schon sicher schien.«

Dabei trainiert Jutta Heine nicht sonderlich hart. Wie Sprinter-Senior Germar, dessen Verein, »ASV Köln«, die in der Rheinmetropole studierende Läuferin neuerdings angehört, schwört sie auf die »weiche Welle«. Sie hält nichts von dem speziell bei östlichen Sprinterinnen üblichen Krafttraining mit Gewichten zwecks Muskelbildung: »Ich habe Angst vor Gewichten. Außerdem finde ich das so dumm - allein, wie so ein Gewicht schon aussieht.

Ihr Training findet zweimal wöchentlich statt und umfaßt »ein ganz klein

wenig Gymnastik«, Startübungen und

etwa drei bis acht »ziemlich flotte« 200 -Meter-Läufe. Dreimal Training pro Woche kann sie nicht vertragen.

Trainer Fuchs prophezeite der Läuferin vor der Abreise nach Belgrad, sie werde eines Tages über 100 Meter die derzeitige Weltrekordzeit 11,2 Sekunden und im 200-Meter-Lauf 23,1 Sekunden erreichen, weil bei ihr »durch Training noch manches auszuschöpfen ist«.

Die bei den anstrengenden Wettkämpfen und dem Training eintretenden Energieverluste sind immerhin so spürbar, daß die Aquarell-Sonntagsmalerin im Sommer nicht malen kann, »weil ich keine ruhige Hand habe«.

Die Läuferin gleicht die Energieverluste durch einen überdurchschnittlichen Schokoladenverzehr neben ihrer sonst völlig normalen Kost aus. Sie ißt Schokolade »wahnsinnig gern« und deckt auf diese Weise zusätzlichen Eiweißbedarf: »Andere nehmen Sahne und Milch, um Eiweiß zu kriegen. Ich mag keine Sahne.«

Insgesamt hat die Schokoladenvertilgerin nach ihren letzten vor dem Start in Belgrad errungenen Titeln schon acht Deutsche Meisterschaften gewonnen. »In so jungen Jahren wies noch keine deutsche Leichtathletin eine so ansehnliche Erfolgsserie auf«, schrieb die »Deutsche Zeitung«.

Gelegentlich sind Mißerfolge der Olympiazweiten freilich auf ein biologisches Handikap zurückzuführen, dem alle Frauen periodisch unterliegen. »Unsere Sprint-Königin fühlte sich unpäßlich«, schrieb »Bild«, nachdem Jutta Heine unter solchen Bedingungen Ende August in Kassel ein 100-Meter-Duell gegen ihre britische Rivalin Dorothy Hyman (zeitgleich in 11,7 Sekunden) verloren hatte - gegen dieselbe Läuferin, der sie auch jetzt in Belgrad wieder zeitgleich (beide 11,3) unterlag.

Zwar haben die Sportmediziner bei einem Teil untersuchter Hochleistungssportlerinnen verschiedener Sparten festgestellt, daß gerade in den kritischen Tagen deutliche Leistungssteigerungen eintraten. Bei der Mehrheit der untersuchten Frauen wurde dagegen Leistungsabfall festgestellt.

Um wichtige Wettkämpfe nicht zu versäumen, nehmen manche Sportlerinnen Präparate, die verzögernd wirken. Solche Kunstgriffe lehnt die Medizin aus ethischen Gründen ab, weil es, wie der Hamburger Gynäkologe Dr. Napp darlegte, »für den verantwortungsbewußten Arzt keine 'sportliche Indikation' für Menstruationsverschiebungen gibt«.

Außerdem bestehen auch medizinische Bedenken. So werden innerhalb der deutschen Leichtathletik-Nationalmannschaft der Damen seit zwei Jahren keine Verzögerungs-Hormone mehr verabfolgt. Grund: Eine so behandelte Läuferin verlor zeitweilig ihre Reaktionsschärfe, fiel deswegen bei den Ausscheidungskämpfen durch und konnte nicht bei der Olympiade starten. Ein deutscher Leichtathletik-Funktionär: »Seitdem nehmen wir es hin, wie es kommt.«

Doch auch Jutta Heines größter Vorteil ist biologischer Natur: ihre Länge von 1,805 Metern.

Ein Vergleich mit der übrigen deutschen Spitzenklasse im Sprint der Damen zeigt, daß eine junge Riesin die Herrschaft über die deutschen Pisten übernommen hat. Von den drei schnellen Mädchen (alle laufen unter 12 Sekunden), die mit Jutta Heine die 4-mall00-Meter-Staffel bilden, ist Maren Collin mit 1,65 noch die längste. Erika Fisch folgt mit 1,62 Metern; nur 1,60 Meter mißt die kleinste, Martha Pensberger, geborene Langbein.

Das eigentliche Langbein ist Schlußläuferin Jutta. Sie ist die erste deutsche Läuferin von Weltklasse, die jenen neuen Ideal-Typ einer Sprinterin repräsentiert, der bisher nur im Ausland auftauchte.

Erstmals setzte sich dieser Typ bereits 1948 auf den Olympischen Spielen

in London in Gestalt der Holländerin Fanny Blankers-Koen durch. Sie gewann in den Läufen 100 Meter, 200 Meter, 80-Meter-Hürden und der Sprinter -Staffel die Goldmedaillen. Auffallendes Kennzeichen: ungewöhnlich lange Beine im Verhältnis zum Rumpf und 1,75 Meter groß.

Ähnlich war auch die zweifache Gewinnerin goldener Schnellauf-Medaillen der Spiele von Helsinki 1952 gebaut, die Australierin Marjorie Jackson: 1,73 Meter groß und gleichfalls ungewöhnlich langbeinig.

Die dritte war die eindrucksvollste von allen, die farbige Amerikanerin Wilma Rudolph. Sie errang, noch langbeiniger als die anderen und 1,81 Meter groß, drei Goldmedaillen; sie hält beide Sprint-Weltrekorde mit 11,2 Sekunden über 100 Meter und 22,9 Sekunden über 200 Meter.

Früher wurden die Sprintwettbewerbe der großen internationalen Sportfeste von Läuferinnen eines Typs beherrscht, der seit Beginn des modernen Kurzstreckenlaufs für Frauen als ideal galt. Diese Läuferinnen waren kurzbeinig und kompakt, wie geschaffen, um mit hoher Trittfolge rasch auf Höchsttempo zu kommen.

Schlanke, langbeinige, sogenannte athletisch-leptosome Läuferinnen setzten sich jahrzehntelang nicht durch. Der Grund: Ehe sie ihre größere Schrittlänge zur Wirkung bringen konnten, war das Rennen für die kürzer, dafür aber schneller und häufiger tretenden kurzbeinigen Sprinterinnen gewöhnlich schon gelaufen.

Diese Vorherrschaft wurde erst in dem Augenblick gebrochen, da langbeinige Läuferinnen wie Fanny Blankers-Koen, Marjorie Jackson und Wilma Rudolph durch intensives Training annähernd die gleiche Beinfrequenz (Tritthäufigkeit) erzielen konnten wie ihre kurzbeinigen Rivalinnen. Von diesem Augenblick an gab die größere Schrittlänge den Ausschlag.

Wie radikal sich die größere Schrittlänge bei gleicher Reaktionsfähigkeit, Kondition und Beinfrequenz zugunsten einer Läuferin auswirkt, macht ein zweiter Vergleich zwischen Jutta Heine und ihren Staffelkameradinnen deutlich: Jutta Heine erreicht bei ihrer höchsten Geschwindigkeit eine Schrittlänge von 2,10 Metern, Staffelläuferin Pensberger unter den gleichen Umständen dagegen nur 1,90 Meter. Der Heine -Vorsprung beträgt nach je fünf Schritten schon über einen Meter.

Als es 1960 in Erfurt für Jutta Heine darum ging, sich bei den Ausscheidungswettkämpfen zwischen ost- und westdeutschen Athleten für die Teilnahme am 200-Meter-Lauf in Rom zu qualifizieren, geriet die Läuferin durch ihren schwachen Start zunächst erheblich in Rückstand. Doch noch zeitig genug konnte sie ihre größere Schrittlänge ausspielen und an der DDR-Läuferin Hannelore Räpke vorbeiziehen, die dadurch ausschied. Wenig später hörte sie, wie die enttäuschte DDR-Sprinterin giftete: »Das hat dieses Biest nur mit ihren langen Haxen gemacht.«

Die Sportmedizin hat herausgefunden, daß die Beinlänge einer Kurzstreckenläuferin durchschnittlich 54 Prozent der Körpergröße ausmacht. Bei Jutta Heine sind es 61 Prozent. Ihre Beine sind 110 Zentimeter lang.

* Als Zweite im 200-Meter-Lauf hinter der Amerikanerin Wilma Rudolph und als Schlußläuferin in der deutschen 4-mal-100-Meter -Staffel, die hinter der USA-Staffel einlief.

** Über diesen Rekordlauf Jutta Heines wurde dem Internationalen Leichtathletik-Verband auf seiner Tagung vergangene Woche in Belgrad kein Rekordprotokoll unterbreitet, da der in Malmö verwendete Windgeschwindigkeitsmesser nicht den Vorschriften entsprach. Mithin kohnte der Lauf nicht offiziell als Europarekord anerkannt werden.

* Maria Dollinger und Ilse Dörffeldt bei

dem verunglückten Stabwechsel.

Rekordläuferin Jutta Heine: Vom »schönen Erich« entdeckt

Staffel-Malheur bei den Olympischen Spielen in Berlin (1936)*, Vom Führer getröstet

Sprinter Fütterer, Germar, Hary: Auf der Aschenbahn ...

... ein Mythos des 20. Jahrhunderts; Deutsche Belgrad-Staffel*

Heine-Trainer Fuchs

Dreimal in der Woche ist zuviel

Wallach »Fant«, Besitzerin: Im Sommer keine ruhige Hand

Hollands Fanny Blankers-Koen (1948)

Nach fünf Metern ...

Australiens Marjorie Jackson (1952)

... schon einen Meter Vorsprung

Amerikas Langbein Wilma Rudolph

»Das hat dieses Biest ...

Deutschlands Langbein Jutta Heine

... nur mit ihren langen Haxen gemacht«

* Von links: Erika Fisch, Martha Pensberger, Maren Collin, Jutta Heine.

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