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NATO / POLARIS-U-BOOTE 15 Minuten Vorsprung

aus DER SPIEGEL 1/1961

Eine Kapelle der US-Navy schmetterte Marschmusik. Langsam löste sich das schwarze, gedrungene Unterwasserschiff - mit seinen 6700 Tonnen fast so groß wie ein schwerer Kreuzer des Ersten Weltkriegs - vom Pier und glitt aus dem Hafen von Charleston im US-Bundesstaat Südkarolina.

Auf dem Kommandoturm der »George Washington«, des ersten kriegsmäßig mit sechzehn Polaris-Raketen bestückten amerikanischen Atom-U-Boots, kaute Kapitän James B. Osborn an seiner Zigarre. »Wir gehen in unser Operationsgebiet«, sagte er, »tauchen und bleiben unten, bis wir zurückkommen.« Damit begann - wie das US-nationale Magazin »Time« rühmte - »eine neue Ära in der kühnen Kunst des Kalten Krieges, den Frieden zu bewahren«.

In dieser Ära wird, so kalkulieren

Amerikas Marine-Strategen, die Kombination von Atom-U-Boot und Atom -Rakete die entscheidende Waffe sein: jene 45 Polaris-Boote mit 736 feuerbereiten Raketen an Bord, die bis 1965 gebaut werden sollen.

Für jedes dieser Unterwasserschiffe werden schon heute in den USA zwei Besatzungen gedrillt, eine »blaue« und eine »goldene«, die einander im 60-Tage -Turnus ablösen sollen, so daß - Reparaturen eingerechnet - mindestens 30 Boote ständig auf See sein können. Im »Holy Loch«, einei stillen Bucht am schottischen Clyde-Fjord, entsteht nach, britisch-amerikanischem Übereinkommen und heftigen Unterhausdebatten im Februar der erste Übersee-Stützpunkt für Amerikas Polaris-Flotte.

Fünf der mit Raketen bestückten Atom-U-Boote offerierte US-Außenminister Herter - offensichtlich nicht

ohne Einverständnis des neuen amerikanischen Präsidenten Kennedy - kurz vor Weihnachten auf der Pariser Atlantikpakt-Konferenz den Minstern der verbündeten europäischen Mächte für 1963 als Leihgabe. Doch Amerikas Alliierte, vor allem Briten und Franzosen, die eigene atomare Interessen verfolgen, zögerten über Gebühr, das Angebot zu akzeptieren. »Der (Nato-)Rat nahm den Vorschlag der USA mit großem Interesse zur Kenntnis«, hieß es nüchtern im Schlußkommuniqué, »und wies seine ständigen Vertreter an, ... die damit zusammenhängenden Angelegenheiten im einzelnen zu prüfen.«

Diese augenfällige Zurückhaltung entsprang nicht zuletzt vertraulichen Berichten über ein dramatisches Duell, das sich zur gleichen Stunde im nördlichen Atlantik zutrug, da Herter in Paris empfahl, die Nato in eine - auch über strategische Abschreckungswaffen verlügende - Leih-Atommacht zu verwandeln.

Sowjet-Admiral Sergej G. Gorschkow, 60 Jahre alt und seit 1956 Oberbefehlshaber der sowjetischen. Kriegsmarine, hatte eine riesige, nahezu tausend Fischdampfer zählende Flotte aufgeboten, die mit modernstem technischen Gerat versucht, die »George Washington« in der Tiefe des Ozeans aufzuspüren, ihren

Kurs zu ermitteln und ihre Funkgespräche abzuhören. Westliche Geheimdienste fürchten deshalb, die Sowjets seien darauf aus, einen Zwischenfall mit dem Atom-U-Boot zu provozieren.

Seit sich über Kapitän Osborn, kaum 100 Kilometer von der amerikanischen Ostküste entfernt, Mitte November die Turmluke schloß, nähert sich das von amerikanischen U-Boot-Jägern abgeschirmte Unterwasserschiff täglich nur einmal bis auf 30 Meter der Wasseroberfläche, um seine (für die Feuerleitung unentbehrliche) geographische Position zu ermitteln und mit der neuen Langwellenstation in Funkverkehr zu treten, die Amerikas künftige Polaris-Flotte dirigieren soll. Von dieser Station aus könnte, falls eines Tages der große Atomkrieg beginnt, auch der Feuerbefehl gegeben werden, der den Vereinten

US-Generalstabschefs vorbehalten ist.

Während Amerikas scheidender Präsident Dwight D. Eisenhower die erste Patrouillenfahrt der »George Washington« mit der triumphierenden Erklärung feierte, die große Feuerkraft und »relative Unverwundbarkeit« des Atom -U-Boots und seiner künftigen Schwesterschiffe machten »jeden Überraschungsangriff eines Aggressors gegen die freie Welt zu einem selbstmörderischen Unternehmen«, kamen aus Moskau grimmige Proteste.

Chruschtschows Stellvertreter, Vizepremier Frol Koslow, warnte: »Das amerikanische Oberkommando plant, diese Boote in der Nähe der sowjetischen Seegrenzen patrouillieren zu lassen ... Das ist ein sehr gefährliches Abenteuer, das die internationale Situation verschlechtern muß.« In der Tat umfaßt das offiziell geheimgehaltene Operationsgebiet der »George Washington« und ihres in den nächsten Wochen auf Fahrt gehenden Schwesterschiffs »Patrick Henry« das europäische Nordmeer zwischen Grönland und Norwegen sowie die Barentssee.

Von diesen Meeresteilen aus können, so hatten der für das Polaris-Projekt verantwortliche US-Vizeadmiral William Raborn (SPIEGEL 33/1960) und sein Team errechnet, die unter Wasser schwimmenden Raketenbatterien mit ihren 2000 Kilometer weit reichenden Polaris-Geschossen jedes Ziel zwischen Moskau und dem sibirischen Industriezentrum Omsk innerhalb von zehn bis fünfzehn Minuten zerstören. Ihre Feuerleitanlagen werden von Elektronengehirnen gesteuert, in denen die geographischen Positionen der im voraus bezeichneten Ziele gespeichert sind. »Ein Schuß - eine Stadt«, kommentierte Hanson W. Baldwin, Militärexperte der »New York Times«, diesen neuen, offenbar perfekten Mechanismus der Massenvernichtung, »eine fürchterliche Waffe und ein mächtiges Abschreckungsmittel«.

Die USA scheinen der mit überlegenen Langstreckenraketen ausgerüsteten Sowjet-Union auf diese Weise einen Wichtigen, wenn auch nur nach Minuten zählenden Vorsprung im nuklearen Rüstungsrennen abgerungen zu haben: Während Rußlands interkontinentale

Raketen von ihren ortsfesten Abschußrampen etwa 30 Minuten Flugzeit zu ihren amerikanischen Zielen benötigen, könnten die USA aus der schützenden Tiefe des Ozeans in der Hälfte dieser Zeit zurückschlagen. Hoffte der britische »Guardian": »Die Amerikaner können nun den Finger am Drücker ein wenig entspannen.«

Nicht so die Sowjets, die nun fürchten müssen, eine in wenigen Jahren rings um den eurasischen Kontinent patrouillierende Polaris-Flotte werde ihre eigenen atomaren Abschreckungswaffen neutralisieren, solange sie nicht ebenfalls raketentragende Atom-U -Boote besitzen. Dazu US-Militärexperte Baldwin: »Erst dann wird das Zeitalter des nuklearen Patts wirklich beginnen.«

Zwar verfügt Sowjet-Admiral Gorschkow - »Eine Flotte, die den Anforderungen des modernen Krieges genügen will, muß eine U-Boot-Flotte sein« - über 430 U-Boote, weit mehr als alle anderen seefahrenden Nationen insgesamt, doch befindet sich noch kein atomgetriebenes sowjetisches U-Boot auf See. Wohl aber sind sechs in Bau. Raketen können Gorschkows U-Boote - wie das Londoner »Institute for Strategie Studies« ("The Communistic Bloc and the Free World - the Military Balance 1960") in einer soeben veröffentlichten Untersuchung feststellt - bisher nur von der Wasseroberfläche aus abfeuern.

Bis dieser technische Rückstand aufgeholt ist, muß sich das sowjetische Oberkommando darauf beschränken, die herkömmlichen Mittel der U-Boot-Jagd zu verbessern und den Funkverkehr zwischen dem US-Hauptquartier und den Polaris-Booten zu stören. Das bedeutet, daß sowjetische U-Boote, Überwasserschiffe und Flugzeuge Kapitän Osborn und seine »George Washington« oder deren spätere Schwesterschiffe so lange verfolgen werden, bis sich das ereignet, was auch die amerikanischen Aufklärungsflüge über der Sowjet -Union unmöglich gemacht und die USA zum internationalen Störenfried gestempelt hat: ein spektakulärer Zwischenfall, von dem Moskau zumindest behaupten kann, er habe sich in sowjetischen Hoheitsgewässern ereignet.

»Eine verbrecherische Politik am Rande des Krieges«, schimpfte Sowjetboß Chruschtschow bereits vorsorglich über die amerikanische Polaris-Strategie, die der US-Marine -Stabschef Admiral Arleigh A. Burke als »eine der bedeutsamsten Operationen der Kriegsgeschichte« rühmte.

Der britische »Daily Express« aber prophezeite: »Es besteht die Gefahr, daß die Sowjets ein Polaris -Boot zu versenken

suchen, wie sie auch den amerikanischen Fernaufklärer RB-47 abschossen ... Wenn dieses U-Boot von Holy Loch kommt, dann wird sich Großbritannien in einen gefährlichen internationalen Konflikt verwickelt sehen.«

Der Gedanke an solche Konsequenzen einer Polaris-Boot-Leihgabe mag nicht nur die Briten, sondern auch die kleinen Nato-Mächte bewogen haben, Herters Offerte zunächst nur mit höflichem Interesse zu den Akten zu nehmen.

»George Washington« im Atlantik: Ein Schuß - eine Stadt

Raborn

Gorschkow

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