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ABSCHRECKUNGS-URTEILE 17 Monate

aus DER SPIEGEL 6/1960

Wohlgelaunt kehrte der Westberliner Stadtinspektor Alfred Staats am Nachmittag des 6. Januar heim, versenkte sich in den Lehnstuhl und in die Abendpresse. Die gehobene Stimmung des 49jährigen Sachbearbeiters bei der Obdachlosen -Ordnungsstelle im Bezirkswohnungsamt Zehlendorf war kein Zufall: Bei einer Geburtstagsfeier im Kollegenkreis hatte er sich nicht als Schnapsverächter gezeigt.

Seiner Zeitung durfte der Inspektor entnehmen, daß rechtsradikale, neonazistische Jugendliche regelmäßig in einem Lokal der Schöneberger Siegfriedstraße zusammenkamen. Nach weiteren Gläsern Bier und Schnaps, die er beim Abendessen trank, fühlte der christlich gesinnte Mann sich plötzlich zum Missionar berufen. Sagte Staats zu seiner Frau: »Die Jungens sind verrückt, die muß man aufklären« - und marschierte promillegeladen los in Richtung Schöneberg.

Der Besuch des Lokals, in dem die Mitglieder der »Nationaljugend Deutschlands« nach Feierabend bei Bier und preußischen Märschen der vergangenen großdeutschen Zeiten zu gedenken pflegten, sollte dem Missionar Staats zum Verhängnis werden. An dem Tisch, auf den er zusteuerte, saßen nämlich nicht die erwarteten Nationaljugendlichen - sie waren teils verhaftet, teils zogen sie es vor, den gewohnten Treffpunkt zu meiden -, wohl aber zwei Beamte der Westberliner Kriminalpolizei.

Um sich bei den vermeintlichen Nazis richtig einzuführen, hob Alfred Staats verschämt den rechten Arm und erzählte, er habe in München in demselben Lokal gesessen, in dem der »selige Adolf und seine sieben Getreuen« am Anfang ihrer Karriere noch heimlich konspirierten. Sodann ließ der alte Zwölfender - Berufssoldat Staats wechselte 1938 zur Verwaltungslaufbahn über, brachte es bis zum Zahlmeister und wurde als 131er in den Westberliner Staatsdienst übernommen - seinen Wunsch durchblicken, künftig öfter mit »Gleichgesinnten« zusammenzusein. Er schlug vor, eine »Kameradschaft« zubilden, die zunächst als christlicher Sportverein beginnen solle.

Über derart schüchterne Ansätze hinaus wollte die Mission des Alfred Staats jedoch nicht recht gedeihen. Kaum erschien nämlich die besorgte Ehefrau in der Gastwirtschaft, als sich die zwei aufmerksamen Gesprächspartner plötzlich zu erkennen gaben und den »alten Kameraden« verhafteten. Vierzig Stunden später hatte sich der Stadtinspektor, inzwischen vom Dienst suspendiert, vor dem Schnellschöffengericht des Amtsgerichts Tiergarten wegen »Anwendung des deutschen Grußes« und »nationalsozialistischer Agitation« zu verantworten.

Als juristische Handhabe diente dem Vertreter der Anklage, Staatsanwalt Joachim Gast, das Kontrollratsgesetz Nummer 8 vom 30. November 1945, das die Unterschriften der siegreichen alliierten Feldherren Montgomery, Schukow, Koenig und McNarney trägt. Auf dieses antiquierte, in der Bundesrepublik längst außer Kraft gesetzte Dokument berief sich Gast, einst Mitglied der NSDAP, und forderte 21 Monate Gefängnis für Staats, der sich nachweislich nie politisch betätigt hat und der nicht zu den Belasteten aus jener Zeit zählt, die er beim Bier angeblich verherrlicht hatte.

Das Verfahren vor dem Schnellgericht - von dem gemeinhin auf frischer Tat ertappte Warenhausdiebe und Verkehrssünder ohne großes Zeremoniell abgeurteilt werden - entwickelte sich zu einem Schauprozeß, wie ihn Westberlin seit 1945 kaum erlebt hatte. Der kleine, mit drei kurzen Zuhörerbänken ausgestattete Gerichtssaal war schon eine halbe Stunde vor Beginn der Verhandlung überfüllt: Rundfunk-, Wochenschau- und Fernsehteams hatten Filmkameras und Mikrophone in Stellung gebracht.

Verstohlen zupfte Staatsanwalt Gast den koketten Schurrbart für die Fernsehaufnahme zurecht, während Angeklagter Staats zu Protokoll gab, daß er nur in bester Absicht das Extremisten-Lokal betreten habe: »Zur Abschreckung wollte ich den jungen Leuten die ganze verruchte NS -Geschichte erzählen, und zur besseren Demonstration habe ich einleitend auch den 'deutschen Gruß angewandt. Ich wollte nicht agitieren, sondern aufklären. Leider kam ich nicht mehr zu meinem eigentlichen Ziel, weil ich vorher festgenommen wurde.«

Es zeigte sich freilich bald, daß niemand willens war, dem suspendierten Stadtinspektor Glauben zu schenken. Mit der Aufklärung der Tathintergründe war das Schnellschöffengericht offensichtlich überfordert. Staats-Verteidiger Rechtsanwalt Heinz Meurin sah seine Möglichkeiten in dem beschleunigten Verfahren arg beschnitten: Amtsgerichtsrat Classe hörte nur solche Tatzeugen, die angaben, was Angeklagter Staats ohnedies nicht bestritt.

Nicht vernommen wurden Zeugen, die über Gesinnung und Leumund des Staats hätten Aufschluß geben können und gewiß einen Beitrag zu der in diesem Verfahren immerhin wichtigen, aber ungeklärten Frage nach den Motiven des Angeklagten geleistet hätten. Der Gemeindepastor, der dem Alfred Staats hätte bescheinigen können, daß er seit zwölf Jahren als eines der eifrigsten - und freilich auch naivsten - Mitglieder des evangelischen Männerkreises unermüdlich für seine Kirche wirkt, war nicht zu erreichen.

So wurde der Stadtinspektor Staats zu 17 Monaten Gefängnis verurteilt. Was deutsche Richter Dieben, die zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurden, zumeist ohne weiteres zubilligen - daß sie nicht sofort festgenommen werden, sondern in Freiheit die Rechtskraft des Urteils nach den Rechtsmittelinstanzen erwarten dürfen -, verweigerte der Amtsgerichtsrat Classe dem umstrittenen Neonazi Staats, obgleich dieser Berufung beim Landgericht eingelegt hat.

Der sozialdemokratische, nazifreundlicher Tendenzen gewiß unverdächtige »Parlamentarisch-Politische Pressedienst« aber sah sich ob dieses Verfahrens zu der Bemerkung veranlaßt: »Berliner Juristen sind sich darüber im klaren, daß Staats in der Revision freigesprochen werden muß.«

Freilich: Den Gefahren der Abschrekkungsjustiz ist nicht allein das Westberliner Schnellschöffengericht erlegen, das in Sachen Staat gegen Staats zumindest voreilig auf 17 Monate-Gefängnis erkannt hat Unter dem Druck von Regierung, Parlament und öffentlicher Meinung verhängen deutsche Richter seit einigen Wochen Strafen, die ob ihrer zuweilen außerordentlichen Härte zwar abschreckend auf angehende Hakenkreuz-Maler wirken, aber gewiß nicht dazu,beitragen, den noch in manchem Bundesdeutschen latenten Antisemitismus auszurotten.

So wurde der 52jährige-Taxifahrer August Brinker in Hamburg wegen Beleidigung des israelischen Kaufmanns Mordechai Shechter zu sechs Wochen Gefängnis ohne Bewährungsfrist verurteilt, obwohl der Vorsitzende, Amtsgerichtsdirektor Bock, dem Brinker bescheinigte: »Hier liegt keine antisemitische Äußerung vor«, und obwohl in dem scharfen Wortwechsel, der Gegenstand dieser Verhandlung war, die Judenfrage von dem Mann angeschnitten wurde, der selbst jüdischen Glaubens ist.

Die Vorgeschichte dieses für exemplarische Justiz exemplarischen Falles spielt lange vor der Kölner Synagogenschändung: Der jüdische Kaufmann hatte mit einem amerikanischen Wagen den Taxifahrer auf Hamburgs Rothenbaumchaussee überholt und gefährlich geschnitten. Der erboste Taxichauffeur jagte den Verkehrssünder bis zur nächsten, durch rotes Licht gesperrten Kreuzung, kurbelte das Fenster herunter, ballte drohend die Faust und schimpfte auf den fremden Fahrer ein, bis der sich diese Tonart verbat und wütend zurückgab: »So nicht mehr, Herr! Sie haben schon sechs Millionen meiner Glaubensbrüder ermordet.«

Worauf der Taxifahrer konterte: »Schade, daß man Sie vergessen hat.«

Vor Gericht gab August Brinker zu Protokoll: »Ich wollte mich nicht als sechsmillionenfacher Mörder beleidigen lassen. Meine beiden Brüder waren auch im KZ - als Politische.«

Indes: Amtsgerichtsdirektor Bock machte von dem Paragraphen 199 des Strafgesetzbuchs, wonach der Taxifahrer straffrei hätte ausgehen können, in diesem Falle keinen Gebrauch und erkannte auf sechs Wochen Gefängnis. Paragraph 199 bestimmt: »Wenn eine Beleidigung auf der Stelle erwidert wird, so kann der Richter beide Beleidiger oder einen derselben für straffrei erklären.« Taxifahrer Brinker muß die sechs Wochen absitzen.

Ähnlich verhandelte das Amtsgericht Lehrte im Schnellverfahren gegen jene drei Männer, deren frühere FDJ-Zugehörigkeit die Bundesregierung in alle Welt hinausposaunen ließ. Es sei nunmehr erwiesen, so verlautete aus Bonn, daß die antisemitische Schmieraktion aus dem Osten gesteuert werde. Die drei - Wolfgang Hulitschke, Kurt Thomas und Kurt Blank - wurden verhaftet, als sie »Juden raus!«, Hakenkreuze und SS-Runen an eine Mauer pinselten.

Blutproben ließen die Behauptung der Schmierer, sie hätten vor der Tat bei selbstgebrautem Obstwein gesessen und könnten sich nicht mehr erinnern, wie sie überhaupt zu Pinsel und Farbe gekommen seien, immerhin verständlich erscheinen: Sie ergaben einen Alkoholpegel von 1,5 bis 2,8 Promille.

Der üblichen Rechtsprechung zufolge gelten Verkehrssünder solch hoher Promille-Grade als trunken bis volltrunken. In Lehrte indes hatten die Promille keine bewußtseinsstörende Wirkung: Staatsanwalt und Gericht weigerten sich, den ausgiebigen Alkoholgenuß als mildernden Umstand anzusehen. Hulitschke wurde zu sieben, Thomas zu sechs und Blank zu fünf Monaten Gefängnis verknackt.

Von den 35 Urteilen, die bis zum letzten Donnerstag gegen antisemitische Sudler und Neonazis ergangen sind - die Strafen reichen von zwei Tagen Freizeitarrest für Jugendliche bis zu 17 Monaten Gefängnis -, legen einige die Frage nahe, ob sich alle Richter unter dem Eindruck einer offiziellen anti-antisemitischen Hysterie ihre Unabhängigkeit auch von politischen Tagesströmungen und ihr klares Urteil bewahrt haben.

Ein besonders krasser Fall: Der 35jährige Kraftfahrer Felix Braun aus Berlin -Wedding war von seiner Frau beschuldigt worden, er habe sie im Verlauf eines Ehekrachs nicht nur geschlagen, sondern zudem durch antisemitische Äußerungen beleidigt.

Die Polizei verhaftete den Kraftfahrer und entließ ihn auch dann nicht aus der Haft, als die inzwischen zur Besinnung gekommene Frau Braun anderntags den Strafantrag zurückzog. Von den Durchgreif-Parolen ihres obersten Dienstherrn, des forschen Innensenators Lipschitz, beeindruckt, fragten die Anti-Antisemiten des zuständigen Reviers auch nicht die Staatsanwaltschaft, ob sie wegen »besonderen öffentlichen Interesses« an diesem Ehezwist von Amts wegen einschreiten wolle.

Vielmehr hielten sich die Revierbeamten

- entgegen den Vorschriften - selbst für

befugt, »öffentliches Interesse« anzunehmen, und führten Kraftfahrer Braun dem Vernehmungsrichter vor, der Haftbefehl erließ,

- obwohl jene schriftliche Erklärung bei den Akten lag, mit der Brauns jüdische Frau ihren Strafantrag zurückgezogen hatte, und

- ohne die Staatsanwaltschaft überhaupt zu fragen.

Kaum erfuhr die Staatsanwaltschaft von dem Fall, ordnete sie die sofortige Haftentlassung an. Braun wurde augenblicklich auf freien Fuß gesetzt. Der Vernehmungsrichter, der sich in Unkenntnis der Paragraphen 232 und 194 des Strafgesetzbuchs* derart vergaloppierte, war freilich jener Amtsgerichtsrat Classe, der den Stadtinspektor Alfred Staats zu 17 Monaten Gefängnis verurteilte, ohne Entlastungszeugen zu hören.

Der Gedanke, daß ein Deutscher, der eine Jüdin heiratet, grundsätzlich antisemitischer Gesinnung wohl kaum verdächtig sein kann, ist dem Richter Classe offenbar nicht gekommen.

* Die Paragraphen 232 und 194 StGB schließen die Verfolgung des Kraftfahrers aus, weil die Voraussetzungen dafür durch die Rücknahme des Strafantrags weggefallen sind.

Angeklagter Staats: Das war in Schöneberg

Staatsanwalt Gast

Für deutschen Gruß 21 Monate Gefängnis?

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