1995 im SPIEGEL
Krisen gab es immer, doch meistens anderswo. Ob Ungarn- oder Kuba-, Nahost- oder Erdöl-Krise - bei den Deutschen machte das Schlagzeilen und manchmal etwas Sorge, aber sonst war weiter nichts. Die Grundbedingungen ihres Lebens blieben unverändert, und selbst ihre Berlin-Krisen, die ihnen wirklich nahekamen, erledigten sich mit der Krise des Kommunismus.
Im Jahr 1995 aber kommt eine Krise zum Vorschein, die seit langem im eigenen Innern schwelt und nun die tragenden Wände ihrer sozialen Heimstatt bedroht. Es rüttelt an Kernbeständen, die im Selbstverständnis der Deutschen unangreifbar schienen - Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie, Rentensicherheit und Krankenversorgung, die Attraktivität des Industriestandorts und selbst das Allerheiligste: die deutsche Mark. Das Zusammenspiel von ökonomischen Erfolgen und sozialen Wohltaten, auf das sich die Deutschen so vortrefflich verstanden, scheint nicht mehr zu funktionieren. Die Arbeitslosenzahlen steigen und steigen - »eine Schande für eine Industrienation«, heiît es in bürgerlichen Blättern.
Die politischen Desaster und die Katastrophen dieses Jahres - die Kriege in Tschetschenien und Bosnien, die Ermordung Rabins oder Giftgas-Terror in Japan - liegen den Deutschen unter diesen Umständen buchstäblich fern. Ihre eigene Krise ebbt nicht ab, wie der Nahost-Konflikt, oder ist einfach vorüber, wie das Erdbeben in Kobe. Die deutsche Malaise setzt sich fest - und die Politik bietet keine Perspektive, ihr zu begegnen.
Jeder weiî was: Die Lohnnebenkosten sollen gesenkt, die Subventionen abgebaut, der »Soli« soll beseitigt, der Industriestandort gesichert werden. Die Beamten sollen länger arbeiten und die Studenten schneller studieren, die Unternehmen sollen innovativer und die Frührentner wieder rüstig werden. Der Staat soll sparen, seine Haushaltslöcher stopfen, die Gesundheitskosten niedrig halten und die Steuern endlich senken. Die Arbeitslosigkeit muî beseitigt und der Sozialstaat muî umgebaut werden - und das alles möglichst so, daî dabei keinem was verlorengeht.
So kann es, und auch das müîte jeder wissen, nicht gehen. Wenn Reformen greifen sollen, muî Gesichertes zur Disposition gestellt, müssen Einschnitte in Kauf genommen werden. Doch weder bei den Parteien noch bei den groîen gesellschaftlichen Gruppen ist Bereitschaft erkennbar, diesen Konsens der Besitzstandswahrung aufzubrechen. Die Schmerzgrenze, das zeigte sich, ist noch nicht erreicht.
Die Krise des Wohlstandsstaates wird die Bundesbürger ins neue Jahr begleiten. Für die anderen drauîen freilich war das Deutschland 1995 eine immer noch ziemlich heile Welt - ganz sicher eine zutreffende Einschätzung, gemessen an den Turbulenzen, die dem Erdball und seinen Bewohnern auch im vergangenen Jahr keine Ruhe lieîen.