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SPIONAGE 2 X U-2

aus DER SPIEGEL 38/1962

Machtlos mußten die militärischen Führer Rotchinas monatelang zusehen, wie in regelmäßigen Abständen Aufklärungsflugzeuge vom amerikanischen Typ Lockheed U-2 über ihrem Land kreisten. Aus über 25 Kilometer Höhe sammelten die elektronischen und photographischen Geräte der Spionage -Maschinen militärische Geheimnisse. Einen Teil der Informationen konnten Maos Marschälle wenig später in der westlichen Presse lesen. So gelangten noch in diesem Sommer Meldungen über chinesische Truppen-Verschiebungen in die Schlagzeilen, kaum daß die Beobachtungsergebnisse der U-2-Maschinen ausgewertet worden waren.

Am vorletzten Wochenende jedoch konnte Peking triumphieren. Und in Washington beklagte Pentagon-Staatssekretär Paul Nitze »ein sehr unglückliches Ereignis": den Abschuß eines U-2 -Aufklärers über dem östlichen China.

Zum zweitenmal innerhalb von zwei Jahren hatte damit ein Flugzeug dieses Typs die Regierung der Vereinigten Staaten in eine diplomatische Zwangslage gebracht.

Bereits 1955 war Eisenhower von bösen Vorahnungen erfüllt, als ihn Experten des Pentagons und des Geheimdienstes in das Projekt einweihten, mit den von den Lockheed-Werken entwickelten U-2-Düsenmaschinen in 25 000 Meter Höhe Luftaufklärung über der Sowjet-Union zu betreiben.

»Und was geschieht, wenn eines von diesen Flugzeugen abgeschossen wird?«, fragte Eisenhower auf einer Geheimkonferenz im Weißen Haus. »Dann kommt das alles auf meinen Kopf. Dann wird die Hölle los sein ...«

Die Hölle brach erst fünf Jahre später los, als die Sowjets am 1. Mai 1960 erstmals U-2-Aufklärer vom Himmel holten. Bis dahin hatten U-2-Maschinen in etwa 150 Flügen die Sowjet-Union ungehindert überquert und - wie der damalige US-Verteidigungsminister Gates später vor einem Untersuchungsausschuß des Senats bestätigte - unschätzbare Informationen über »Flugplätze, Flugzeuge, Raketen, Raketenversuche, Waffenvorräte, U-Boot-Bau, Atomwaffenproduktion und den Aufmarsch der (sowjetischen) Luftstreitkräfte gesammelt«.

Die im Mai 1960 in Washington für den abgeschossenen Francis G. Powers vorbereitete Ausrede (Pilot eines Wetterforschungsflugzeugs aus Sauerstoffmangel »zufällig in sowjetischen Luftraum eingedrungen") war allerdings so dürftig, daß es Sowjetpremier Chruschtschow gelang, Amerikas Präsidenten und seine Regierung in ein Netz von Lügen zu verstricken. Eisenhower, vor aller Welt bloßgestellt, wurde damit zum Sündenbock für die gescheiterte Pariser Gipfelkonferenz.

Eisenhower-Nachfolger John F. Kennedy gedachte klüger zu sein. Die US -Version für den zweiten U-2-Abschuß sollte sich eng an das anschließen, was einerseits die rotchinesische Regierung in Peking, andererseits der nationalchinesische Alliierte in Taipeh verlautbart hatte.

Sechs Stunden lang konferierten die diensthabenden Beamten des Weißen Hauses, des State Departments, des Verteidigungsministeriums und der Geheimdienst-Zentrale. Dann wurde der in Newport (Rhode Island) das Wochenende genießende Präsident eingeschaltet: Kennedy billigte die kurz danach veröffentlichte Erklärung.

Ihr Inhalt: »Im Juli 1960 schlossen die Lockheed-Flugzeugwerke und die chinesische Regierung (auf Formosa) einen Vertrag über den direkten Verkauf zweier U-2-Flugzeuge durch Lockheed; dafür wurde eine Exportgenehmigung erteilt.«

Die Formosa-Chinesen bestätigten den Kauf bei Lockheed (den noch die Eisenhower-Regierung zu verantworten hatte) und meldeten zugleich triumphierend, daß ihre U-2-Maschinen seit Dezember 1960 über dem chinesischen Festland operiert hätten. Peking sprach von einem »in den USA hergestellten U-2-Aufklärungsflugzeug der Tschiang -Kai-schek-Bande«.

Ungeklärt blieb der Abschuß selbst, den die Rotchinesen »mit nicht-konventionellen Mitteln« (Pekings Kriegsminister Marschall Lin Piao) erzielt haben wollen. Ungeklärt blieb auch das Schicksal des Piloten.

Die amerikanische Darstellung war freilich nicht vollständig genug, als daß im mitteilungsfreudigen Washington nicht weitere Fakten durchgesickert wären, die Tschiangs Flieger beinahe in der Rolle von US-Söldnern erscheinen ließen:

- In den USA waren mindestens sechs Nationalchinesen zu U-2-Piloten ausgebildet worden;

- der amerikanischen Regierung standen sämtliche Erkundungsergebnisse der von Formosa startenden U-2-Maschinen zur Verfügung.

In der Sowjet-Union, deren Regierung wenige Tage zuvor gegen das Überfliegen der sowjetischen Insel Sachalin durch eine U-2 protestiert hatte, tönten nun die Propagandatrommeln ebenso laut wie in Peking. »Die Tatsachen beweisen«, so attackierte die »Iswestija« die Kennedy-Regierung«,wer die wahren Urheber der neuen Provokation sind.«

Während die US-Regierung den Fauxpas bei Sachalin mit »extrem schwierigen Flugbedingungen« erklärte, kündigte die Sowjetregierung an, sie werde die USA vor der Uno-Vollversammlung in New York der Aggression anklagen.

»Was ist das?«, polemisierten Chruschtschows Notenschreiber. »Eine Wiederbelebung jener alten, von der früheren (Eisenhower-)Regierung angewandten Piratenpraxis, die Präsident Kennedy persönlich verdammt hat? Oder eine Provokation jener kriegslüsternen Kreise der USA, die gern einen neuen internationalen Konflikt heraufbeschwören möchten?«

In der Tat war es eine der ersten Handlungen des neuen Präsidenten gewesen, sich von den U-2-Aktionen zu distanzieren. Am 25. Januar 1961 erklärte Kennedy: »Die Flüge amerikanischer Maschinen, die in den Luftraum der Sowjet-Union eindringen sollen, sind seit Mai 1960 unterbrochen worden. Ich halbe angeordnet, daß sie nicht wiederaufgenommen werden.«

Wenige Monate später hatten freilich Luftwaffe und Geheimdienst (CIA) den Präsidenten überzeugt, daß die U-2-Aufklärung für die Sicherheit der USA unentbehrlich ist, solange die amerikanischen Geheim-Satelliten, von denen bereits sieben um den Erdball kreisen, mit ihren Kameras nicht den gleichen Zweck erfüllen können.

Die 50 U-2-Maschinen der US-Luftwaffe und die 12 im Dienste der CIA und der US-Weltraumbehörde stehenden U-2-Aufklärer nahmen also ihre Flüge von ihren Überseestützpunkten aus wieder auf, die sich in der Türkei, in Pakistan, Japan, England, Alaska, auf Okinawa, den Philippinen und Formosa sowie in Westdeutschland (Wiesbaden) befinden.

Zugleich wies das State Department auf den Wortlaut der Kennedy-Erklärung vom Januar 1961 hin: Diese Deklaration schließe keineswegs kommunistische Gebiete außerhalb der Sowjet-Union ein (die mithin weiter von U-2-Aufklärern überflogen werden). Und der Militärexperte der »,New York Times«, Hanson W. Baldwin, begründete: »Keine Partei und keine Regierung in Washington kann damit aufhören, ohne die Existenz von 185 Millionen Amerikanern aufs Spiel zu setzen.«

Die U-2-Informationen waren für Amerikas Polit-Planer in der Tat so wertvoll, daß Eisenhowers Verteidigungsminister Gates erklärte: »Sie werden bei unseren militärischen Planungen berücksichtigt« und Kennedys Verteidigungsminister McNamara vor wenigen Monaten eine neue Nuklearstrategie offerierte: statt blinder atomarer Vergeltungsangriffe gegen große Städte gezieltes Atomfeuer gegen militärische Ziele (die den US-Stäben dank der U-2-Luftbilder bekannt sind).

Seit dem chinesischen Zwischenfall muß die Kennedy-Regierung freilich fürchten, daß ihr U-2-Monopol nur mehr von kurzer Dauer ist: Die Regierung in Peking hatte am 26. Juli jedem nationalchinesischen Piloten eine Belohnung von 1,2 Millionen Mark in Gold geboten, der eine U-2 unversehrt an Rotchina ausliefert.

Vielleicht sind diese Goldbarren die »nicht-konventionellen Mittel«, mit denen Maos Marschall Lin Piao eine U-2 zu Boden zwang.

Daily Mirror

»Warten Sie, das Essen ist gleich fertig ...«

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