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»218 MILLIARDEN MARK SIND KEINE PHANTASIE«

aus DER SPIEGEL 41/1966

SPIEGEL: Der Bundesfinanzminister hat Städten und Gemeinden die Hauptschuld an der unsoliden Ausgabenpolitik der öffentlichen Hand gegeben. Weil die Gemeinden sich nicht wie Bund und Länder nach der finanziellen Decke gestreckt hätten, sei der westdeutsche Kapitalmarkt zusammengebrochen. Was sagen Sie dazu?

BOCKELMANN: Seit Jahren weisen die Gemeinden auf die mangelhafte Finanzausstattung hin und fordern eine kommunale Finanzreform. Seit Jahren liegen Schätzungen über den kommunalen Investitionsbedarf vor, die mit aller Deutlichkeit zeigen, daß die Gemeinden mit ihrer gegenwärtigen Finanzausstattung nicht in der Lage sind, die ihnen gestellten Aufgaben zu bewältigen. Daher schlägt auch die Finanzreformkommission in ihrem Gutachten eine Verstärkung der kommunalen Finanzmasse um zwei Milliarden Mark vor. Das zeigt eindeutig, wie mangelhaft die kommunale Finanzausstattung zur Zeit und schon seit Jahren ist. Zur Kapitalmarktmisere - das sollte auch Herrn Minister Dahlgrün hinreichend bekannt sein - haben das Kuponsteuergesetz und die Entwicklung unserer Zahlungsbilanz ganz erheblich beigetragen. Ferner hat sich der Anteil der Länder an den neuen öffentlichen Krediten von einem Prozent im Jahre 1963 auf 15 Prozent im Jahre 1964 und im Jahre 1965 auf 30 Prozent erhöht. Auch der Bund und seine Sondervermögen haben in den letzten beiden Jahren direkt und indirekt den Kapitalmarkt verstärkt in Anspruch genommen. Den Gemeinden hier die Alleinverantwortlichkeit zuzuschieben, ist sachlich nicht richtig! SPIEGEL: Haben aber nicht die Gemeinden durch die unkoordinierte Häufung von Projekten für Wohnungs-, Krankenhaus-, Schul-, Straßen-, U-Bahn- und Repräsentationsbauten des Guten zuviel getan und damit die Mark mit unterhöhlt?

BOCKELMANN: Von einer unkoordinierten Häufung kann man nicht sprechen. Nicht die Gemeinden, sondern der Bund und die Länder sind in erster Linie für die Entwicklung im Wohnungs- und Siedlungswesen, für die Gesetzesflut gerade auch im sozialen Bereich, für die Ausweitung des Schulwesens und das Anwachsen des Verkehrs verantwortlich. Hätten die Gemeinden die sich aus der Entwicklung allein in den genannten Bereichen für sie ergebenden Folgeverpflichtungen einfach unerledigt lassen dürfen? Hätten sich etwa die Gemeinden weigern sollen, mit Bundes- und Landesmitteln geförderte Wohnsiedlungen verkehrs- und versorgungsmäßig zu erschließen, so daß die Neubauwohnungen nicht hätten bezogen werden können? Hätten die Gemeinden etwa auf die Errichtung von Kindergärten in solchen Neubausiedlungen verzichten sollen? Oder hätten die Gemeinden etwa den Schulbau vernachlässigen und Schichtunterricht und größere Klassenfrequenzen in Kauf nehmen sollen?

SPIEGEL: Zeugt es nicht von einer unsoliden Ausgabenpolitik der Gemeinden, daß die kommunale Nachkriegs-Verschuldung über 25 Milliarden Mark gestiegen ist und beispielsweise Frankfurt jedem einzelnen Bürger einen Schuldenberg von 2218 Mark aufgebürdet hat?

BOCKELMANN: Die hohe Verschuldung der Gemeinden ist eine notwendige Folge der unzureichenden Ausstattung der letzten zwei Jahrzehnte. Wären die Gemeinden in den 18 Jahren seit der Währungsreform im Schnitt pro Jahr mit einer Milliarde Mark besser dotiert gewesen - das Finanzreformgutachten beziffert die Unterdotierung 1964 auf zwei Milliarden Mark -, so hielte sich die Gesamtverschuldung mit etwa zwölf Milliarden Mark im rentierlichen Bereich und wäre völlig normal.

SPIEGEL: Der Zusammenbruch des Kapitalmarktes und das Stabilisierungsgesetz zwingen die Gemeinden nun zu jenem Kürzertreten, zu dem sie sich vorher freiwillig nicht hatten entschließen können. Welche Bauvorhaben werden vornehmlich davon betroffen und in welchem Umfang?

BOCKELMANN: Wie erste Ergebnisse einer Umfrage des Deutschen Städtetages über die Stillegung von Baumaßnahmen, deren Auswertung noch nicht abgeschlossen ist, zeigen, haben die Gemeinden schon seit 1964 mit Rücksicht auf die Entwicklung ihrer Finanzlage Investitionsvorhaben verschieben und strecken müssen. In diesem Jahr werden die Sachinvestitionen der kreisfreien Städte absolut um 2,4 Prozent zurückgehen, was sich vor allem auf den Wohnungsbau, im Bereich des Kulturwesens und des Sozialwesens wie auch im Verkehrswesen auswirken wird.

SPIEGEL: Der Bundesfinanzminister hat erklärt, sogenannte Stabilisierungsruinen, angefangene und nun stillgelegte gemeindliche Bauvorhaben, seien durchaus »kein Unglück«. Teilen Sie diese Meinung?

BOCKELMANN: Stabilisierungsruinen wären allenfalls dann kein Unglück, wenn die unvollendeten Bauvorhaben nicht dringend wären. Im kommunalen Bereich wird das aber nur in Ausnahmefällen gegeben sein. Wenn eine begonnene Schule im Rohbau stehenbleiben und gleichzeitig Schichtunterricht eingeführt werden muß oder eine Wohnsiedlung nicht an die Versorgungseinrichtungen angeschlossen werden kann oder schließlich dringende Folgeinvestitionen nicht durchgeführt werden können, so daß auch schon erstellte Einrichtungen nicht voll nutzbar werden, so ist das nach meiner Meinung schon ein recht schwerwiegender Übelstand.

SPIEGEL: In welchen Punkten müßte das Stabilisierungsgesetz nach Ihrer Meinung noch modifiziert werden, wenn es dem Investitionsbedarf der Gemeinden Rechnung tragen soll?

BOCKELMANN: Dem Investitionsbedarf der Gemeinden könnte zum Beispiel schon wesentlich besser Rechnung getragen werden, wenn bei der Kreditlimitierung der öffentlichen Hand der Grundsatz praktiziert würde, daß der Kapitalmarkt nur zur Finanzierung von Investitionen, nicht aber von Defiziten der laufenden Rechnung in Anspruch genommen werden darf, wie dies zur Zeit vom Bund schon getan wird. Des weiteren sollte das Stabilisierungsgesetz auch mit einem Abbau der Subventionen gekoppelt werden, um auf diese Weise in den ordentlichen Haushalten des Bundes und der Länder neuen finanziellen Spielraum zu gewinnen, der dann auch eine stärkere Dotierung der Gemeinden zuließe.

SPIEGEL: Welche Teile der Finanzreform sollten nach Auffassung der Gemeinden als Sofort-Programm vorweg verwirklicht werden?

BOCKELMANN: Als Sofort-Maßnahme im Vorgriff auf die Finanzreform sollte in erster Linie die stärkere Beteiligung der Gemeinden am Mineralölsteueraufkommen verwirklicht werden. Gerade auf dem Verkehrssektor stehen die Gemeinden vor besonders großen Aufgaben, die sie aus eigener Kraft nicht bewältigen können. Würde ihnen hier aber durch eine stärkere Beteiligung am Mineralölsteueraufkommen eine Entlastung zuteil, würde sich das ganz allgemein günstig auf die kommunale Finanzlage auswirken.

SPIEGEL: Wie hoch veranschlagen Sie den Investitionsbedarf der Städte und Gemeinden für die nächsten Jahre?

BOCKELMANN: Der vom Deutschen Städtetag für die nächsten zehn Jahre ermittelte kommunale Investitionsbedarf beläuft sich auf rund 218 Milliarden Mark. Es handelt sich dabei nicht um einen Phantasiebedarf, sondern um Notwendigkeiten, die sich aus der Entwicklung unserer Gesellschaft und der Wirtschaft ergeben, um die öffentlichen Notstände im Vergleich zum privaten Wohlstand auch nur im bescheidenen Umfang zu verringern. Wie dieser Bedarf finanziell abgedeckt wird und in welchem Zeitraum, steht zur Zeit leider noch ebenso offen, wie die Frage, in welchem Ausmaß die Gemeinden im Rahmen der Konjunkturstabilisierung noch mehr als bisher gehindert sein werden, im Rahmen des ihnen eigentlich noch Möglichen die schon vorhandenen Investitionsprogramme zu verwirklichen.

Städtetag-Sprecher Bockelmann

Schuldenberg für jeden Bürger

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