Hausmitteilung 24. Mai 1999 Titel
Das »Heilige Jahr«, zum Millennium von der katholischen Kirche ausgerufen, soll nach dem Willen von Papst Johannes Paul II. ein »großes Jubeljahr« werden. Der 2000. Geburtstag seines Herrn Jesus Christus stelle schließlich »indirekt für die ganze Menschheit ein außerordentlich großes Jubiläum dar«. Es wird eher ein scheinheiliges Jahr werden, schreibt SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein in der Titelgeschichte (Seite 216).
Denn bis auf den heutigen Tag ist nicht einmal klar, ob es diesen Jesus überhaupt gegeben hat. Um das zu beweisen, bemüht die Kirche zwar gern die Evangelien, von denen die für das Jesus-Jahr zuständige Vatikan-Kommission auch jetzt wieder in einer »Handreichung« behauptet, sie seien »Lebensbeschreibungen«, auf die das Adjektiv »biographisch« mit Recht angewendet werde. Daß die Evangelisten alles andere als Biographen sind, ist aber schon 1906 ein für allemal festgestellt worden - von einem gänzlich Unverdächtigen: Albert Schweitzer. Es war dessen Buch »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«, das den wegen angeblichen Landesverrats ("SPIEGEL-Affäre") im Untersuchungsgefängnis einsitzenden Augstein 1962/63 dazu veranlaßte, sich intensiv mit der Frage zu beschäftigen, »Wer war dieser Jesus eigentlich?« Die Antwort erschien 1972 als Buch unter dem Titel »Jesus Menschensohn«.
Die Zeiten haben sich seither geändert, die Kirchen aber verkünden immer noch ihre alten Lehren. Dies veranlaßte Rudolf Augstein ("Wenn alle Theologen sich einig sind, daß Jesus keine Kirche wollte, warum gibt es dann eine?"), sein Buch zu überarbeiten. Werner Harenberg, über viele Jahre der SPIEGEL-Mann für Kirchenfragen, hat dafür die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengetragen. Die erweiterte Neuausgabe von »Jesus Menschensohn« erscheint im September bei Hoffmann und Campe.
Das Titelbild ist eine Arbeit des Graffiti-Künstlers Miguel Kiessling: Er sprühte es nach einer historischen Vorlage auf die Wand der Ansgarkirche im Hamburger Stadtteil Othmarschen - natürlich mit Genehmigung des Pastors. Bis zur Renovierung der Kirche in vier Monaten haben nicht nur SPIEGEL-Leser etwas davon.