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SCHÜCHTERNHEIT 32 Stufen tief

aus DER SPIEGEL 8/1950

Vierundeinehalbe Zeile im offiziellen Pariser Stadtanzeiger genügten, die Pariser hellauf lachen zu lassen. Ein Reporter des »Figaro« hatte unter der Spalte der Vereinsgründungen den »Club des Timides«, den »Club der Schüchternen« entdeckt. Er schrieb eine Glosse darüber, und die Reporter und Karikaturisten hatten jemand auf die Bleistifte zu spießen: Georgii Antonowitsch Krassowskij, Initiator des »Clubs der Schüchternen«.

Die Club-Idee kam Georgii Antonowitsch Krassowskij in der Nacht vom 15. zum 16. Oktober 1949 auf einem Taxenhalteplatz. Georgij Antonowitsch Krassowskij ist Taxenchauffeur und russischer Aristokrat. Er dichtet auch, nachts zwischen den Fuhren. Sein erstes Buch »Aphorismen eines Don Juan« ist schon ins Deutsche übertragen. Dr. Hans Kittel, mit dem er sich während der Besetzung angefreundet hat, besorgte das.

In der Nacht vom 15. zum 16. Oktober 1949 klappte es nicht recht mit dem Dichten. Aber dafür kam Georgii Antonowitsch auf die Club-Idee. Am nächsten Tag besuchte er schüchterne Freunde. Sie waren begeistert. Tanzabende wurden vorgeschlagen, gegenseitige Hilfsaktionen, Schüchternen-Sport, Gründung einer Bibliothek mit Büchern über die Schüchternheit und ein Heiratsbüro für schüchterne Ehelustige.

Georgii Antonowitsch füllte für die Clubgründung Dutzende von Formularen aus, und veröffentlichte die viereinhalb Zeilen im Stadtanzeiger.

Die erste Versammlung sollte in einem Keller starten, 32 Stufen unter dem Pariser Pflaster. Georgii Antonowitsch war zwar schon ein witzberühmter Mann. Aber es kamen nur wenig Schüchterne. Viele schrieben, sie hätten vom Club in der Zeitung gelesen, aber zum Kommen seien sie zu schüchtern. Einige baten, abgeholt zu werden.

Die Reporter hingegen waren im Gründungs-Keller zahlreich. Unter Tischen und Vorhängen suchten die Schüchternen sich vor den Blitzlichten zu verbergen, die Fotografen zerrten sie hervor. Weibliche Reporter stürzten sich auf besonders Schüchterne und küßten sie vor den Kameras schallend.

Inzwischen ist es im Schüchternen-Keller, 32 Stufen unterhalb von Paris, ruhiger geworden. Georgii Antonowitsch hält Vorträge, die das Selbstbewußtsein steigern sollen. Ueber dem Eingang hängt ein Schild, mit Bleistift auf Pappdeckel: »Club des Timides«. Punkt zwölf Uhr nachts pflegt Schluß zu sein. Dann muß Georgii Antonowitsch Krassowskij seinen Taxendienst beginnen.

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