KIESINGER 60 ohne Hut
Die Geburtstagsgratulanten stapelten Geschenke auf: Barock-Truhe und Barock-Engel, Daumier-Radierung und Heuss-Zeichnung, Mokkaservice und Delfter Vase. Baden-Württembergs Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger, 60 am 6. April, konnte seine gesammelten Bundestagsreden, seine Jugenderinnerungen als Buch entgegennehmen. Doch ein erhofftes Geschenk blieb aus: ein Ehrendoktorhut.
Keine der 24 Fakultäten Baden-Württembergs, des hochschulreichsten deutschen Bundeslandes, verhalf dem Landesvater zu jenem Dekorum, das Politikern wie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Willy Brandt, Franz-Josef Strauß oder den Kiesinger-Kollegen Peter Altmeier (Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz) Und Georg August Zinn (Ministerpräsident von Hessen)
zu Hause oder im Ausland längst zuteil geworden war.
Einst war mit solchen Ehrungen auch an den baden-württembergischen Hochschulen nicht gegeizt worden. Als die Universität Freiburg im Sommer 1957 ihr fünfhundertjähriges Bestehen feierte, verliehen ihre Fakultäten nicht weniger als 43mal den Dr. h. c., so dem damaligen:
- Bundespräsidenten Theodor Heuss;
- Bundeskanzler Konrad Adenauer;
- Stuttgarter Ministerpräsidenten Gebhard Müller;
- Stuttgarter Finanzminister Karl
Frank;
- Stuttgarter Kultusminister Wilhelm
Simpfendörfer;
- Vorsitzenden des Stuttgarter Landtags-Finanzausschusses, Alex Möller.
Der Sommerschlußverkauf der Freiburger führte jedoch zu akademischer Selbstkritik. Alle sieben Hohen Schulen Baden-Württembergs kamen überein, fortan keine Ehrendoktorhüte mehr an aktive Politiker zu vergeben, insbesondere nicht an den jeweiligen Chef der Landesregierung: Schließlich sei der Regierungschef gewissermaßen oberster Dienstvorgesetzter der Hochschulen. Daran scheiterte auch das Unternehmen Doktorhut, das Kiesingers Duzfreund und Ministerialrat Dr. Gerhard Weng
behutsam für den Ministerpräsidenten eingeleitet hatte. Als geeigneten Zeitpunkt dachten sich Kiesingers Gönner den 60. Geburtstag des CDU-Landesvaters aus, der just 20 Tage vor der baden-württembergischen Landtagswahl lag. Als Hutmacher wurde Schwabens traditionsreiche Hochschule, die Universität Tübingen, in Betracht gezogen, an der, Kiesinger einst studiert hatte.
Aber der vormalige Tübinger Rektor und jetzige Vorsitzende der »Südwestdeutschen Rektorenkonferenz«, Professor Eschenburg ("Der Staat ist keine Parteien-GmbH"), erwies, sich erneut als scharfer Wächter über, die politischen Sitten in der Bundesrepublik. Er hielt am Beschluß der baden-württembergischen Hochschulen fest, diensttuenden Politikern keine »h.c.«-Würden zu verleihen. Die Hohen Schulen boten dem Landesvater eine Feierstunde der Rektorenkonferenz.
Festredner Professor Weise, Rektor der Technischen-Hochschule Stuttgart, würdigte an dem Jubilar zwar die »große Weite des politischen Wirkens« und rühmte, daß Kiesingers »hohe akademische Bildung nach bester deutscher Tradition eines der Fundamente seiner Persönlichkeit« sei.
So blieb Kiesinger nur die Hoffnung, vielleicht, nach der Landtagswahl doch noch eine Ehrendoktorurkunde zu empfangen. Aber ins siebente Lebensjahrzehnt schritt der gewiß gebildetste aller deutschen Landeschefs ohne Hut.
Professor Eschenburg
Nach dem Sommerschlußverkauf...
... das Unternehmen Doktorhut: Jubilar Kiesinger (2.v.l), Gratulanten*
* Bei der Geburtstagsfeier mit (v. l. n. r.)
Bayerns Regierungschef Goppel, Frau Kiesinger, Bundeskanzler Erhard.