ERSATZKASSEN Ab 1800 Mark privat
Bei kleinen Wehwehchen läßt sich das alles ganz gut an«, sagt Hermann Beermann, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, »aber bei ernsthaften Krankheiten kann es zur Katastrophe kommen.« Beermanns Sorge: die Vorschrift der Ersatzkassen, nach der Mitglieder mit mehr als 1800 Mark Monatsverdienst kein Recht auf Krankenscheine haben.
Der DGB-Sprecher, der als Mitglied einer Allgemeinen Ortskrankenkasse ohne Rücksicht auf seinen Verdienst Krankenscheine bekommt, fürchtet von Amts wegen die Konsequenzen eines Urteils, das im vergangenen Monat das Bundessozialgericht sprach, aber noch nicht schriftlich begründet hat. Darin wurden die Klagen dreier gut verdienender Mitglieder der Deutschen Angestellten-Krankenkasse abgewiesen, die auf Krankenschein behandelt werden wollten.
Die Kasseler Sozialrichter bestätigten, daß es bei den Ersatzkassen drei Klassen von Mitgliedern gibt:
- solche mit monatlichen Bezügen bis
zu 900 Mark: Sie sind pflichtversichert, der Arbeitgeber zahlt ihnen die Hälfte des Beitrages, und sie können sich auf Krankenschein behandeln lassen;
- solche mit Gehältern von 901 bis
1800 Mark: Sie sind freiwillig versichert, müssen den Beitrag allein aufbringen und haben gleichfalls Anrecht auf Krankenscheine;
- solche, die im Monat mehr als
1800 Mark verdienen: Sie sind freiwillig versichert, bezahlen den Beitrag selbst, bekommen aber keinen Krankenschein, sondern vom Arzt eine Rechnung.
Krankenschein-Patienten der ersten beiden Einkommens-Gruppen werden vom Arzt - für sie kostenlos - zu den einfachen Sätzen der Ersatzkassen-Gebührenordnung behandelt. Bei Privatpatienten, zu denen auch Ersatzkassen-Mitglieder mit mehr als 1800 Mark Monatseinkommen gerechnet werden, kalkuliert der Arzt frei. Er darf bis zum Sechsfachen der in der Bundesgebührenordnung amtlich festgesetzten Tarife fordern.: So kosten zum Beispiel
- die Kontrastuntersuchung des Magens (ein Röntgenbild) zu Ersatzkassen-Preisen 33,60 Mark, nach der amtlichen Gebührenordnung 28 Mark, privat bis zu 168 Mark;
- eine Blinddarm-Operation (nur der Eingriff des Chirurgen) 96 Mark (Ersatzkassen), 80 Mark (amtlich) und bis zu 480 Mark (privat);
- ein Kaiserschnitt 150 Mark (Ersatzkassen), 125 Mark (amtlich) und bis zu 750 Mark (privat).
Die Preisaufschläge können in der Tat für Ersatzkassenmitglieder, die sich und ihre Angehörigen privat behandeln lassen müssen, zu einer finanziellen Katastrophe führen. Denn sie bekommen lediglich die einfachen Ersatzkassengebühren erstattet, gleichgültig wie hoch die Arztrechnung ist.
So kann die Röntgenaufnahme den Versicherten theoretisch bis zu 134,40 Mark
aus eigener Tasche kosten, die Blinddarmoperation bis zu 384 Mark, der Kaiserschnitt bis zu 600 Mark. Da jede ärztliche Behandlung nicht nur aus einer, sondern stets aus mehreren Tarif-Tätigkeiten besteht, multiplizieren sich die Selbstkosten des 1800-Mark -Patienten bei ernsten Erkrankungen leicht zu mehreren Tausendern. Wenn der Versicherte sich freilich ins Krankenhaus legt und dort mit der dritten Klasse vorliebnimmt, hat er Aufenthalt, Pflege und ärztliche Leistungen frei.
Gleich nach dem Bekanntwerden des Kasseler Urteils gab es Streit. Denn nur die Grenze bei 900 Mark ist durch Gesetz gezogen, die bei 1800 Mark ist willkürlich: Kassen und Ärzte vereinbarten untereinander, daß gut verdienende Mitglieder ihren Arzt direkt honorieren sollen. Unter »gut« verstehen sie die Grenze der Angestelltenversicherungspflicht: 1800 Mark, ein Betrag, den mancher Arzt in eigener Sache als Hungerlohn empfinden würde.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund verlangte prompt den Krankenschein für alle Ersatzkassen-Mitglieder. Seine Repräsentanten in der Vertreterversammlung der Kassen werden darauf dringen, daß die umstrittene 1800-Mark -Klausel gestrichen wird. Ähnlich erklärte sich die Deutsche Angestellten -Gewerkschaft.
Der Kölner »Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands« (NAV) - mit etwa 8000 Mitgliedern zwar nicht die größte, aber lauteste Interessenvertretung der Mediziner - reagierte mit einem Telegramm an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), den Vertragspartner der Kassen.
Die Kassen müßten, so kabelte der Kölner Verband an die Bundesvereinigung, gezwungen werden, bei der mit den Ärzten vereinbarten Klausel zu bleiben - »notfalls durch einen vertragslosen Zustand«.
Sinn der Drohung: Ohne Vertrag mit den Ersatzkassen, der zum 31. Dezember 1968 gekündigt werden kann, brauchen die Ärzte auch von jenen Mitgliedern keinen Krankenschein anzunehmen, die weniger verdienen als 1800 Mark im Monat. Sogar Pflichtversicherte müssen dann den Arzt selbst bezahlen.
Die Ärzte könnten ernsthaft nicht bereit sein, über sechs Millionen Mitgliedern der Ersatzkassen (mit ihren Familienangehörigen über zehn Millionen
Patienten) den Äskulap-Stab zu brechen, meint dazu der Verband der Angestellten-Krankenkassen in Hamburg.
Verbands-Geschäftsführer Ernst Albert Vesper, freiwilliges Mitglied der Deutschen Angestellten-Krankenkasse ohne Anspruch auf Krankenschein, glaubt, daß die Ärzte sich einen vertragslosen Zustand aus politischen Gründen nicht leisten können. Linke Sozialpolitiker warten laut Vesper nur auf einen solchen Anlaß, um auch die Ersatzkassen der Angestellten* unter den Zwang der Reichsversicherungsordnung wie die Orts- und Betriebskrankenkassen zu stellen. Dann wäre es aus mit der freien Liquidation.
Gleichfalls aus politischen Gründen hüten sich die Arzte bislang, ihren Privatpatienten die höchsten möglichen Gebühren abzufordern. Nach den Erfahrungen der Ersatzkassen nehmen sie im Durchschnitt das Eineinhalb- bis Zweifache der amtlichen Gebührensätze. Zuweilen geben sie sich bei Privatpatienten mit den Ersatzkassen -Tarifen zufrieden.
So billig will es Dr. med. Kaspar Roos, Vorsitzender des Verbandes der niedergelassenien Ärzte, jedenfalls nicht machen. Dr. Roos, der bei einer privaten Gesellschaft gegen Krankheit versichert ist, stört sich insbesondere an den »minimalen Honoraren der gesetzlichen Krankenversicherung für unsere Grundleistungen«.
Die Ersatzkassen vergüten eine Arzt-Beratung mit 3,60 Mark, einen Hausbesuch mit 7,20 Mark. Der NAV-Chef meint, neun Mark für die Beratung und 15 bis 20 Mark für den Besuch müsse der Arzt von den Privatpatienten nehmen. Bei den übrigen Leistungen könne er sich - von Ausnahmen beispielsweise bei kinderreichen Familien abgesehen - mit den doppelten Ersatzkassen -Tarifen schadlos halten. Der Patient, der nur den einfachen Tarif erstattet bekommt, muß nach dieser Rechnung beispielsweise für ein Blutbild 19,20 Mark zuzahlen.
Für ihn ist deshalb die Versuchung groß, der Krankenkasse zu verschweigen, daß er mehr als 1800 Mark verdient. Sie wird, wenn es sich nicht um einen notorisch Wohlhabenden handelt, keinen Übertritt des Versicherten zu einer Privatkasse riskieren und ihm einen Krankenschein ausschreiben.
Nur in einem von etwa 30 000 Behandlungsfällen kommt es derzeit zum Streit zwischen Arzt und Kasse über das Recht des Patienten, sich auf Krankenschein behandeln zu lassen. Vermutet der Arzt richtig und mußte die Kasse wissen, daß der Patient über 1800 Mark Monatseinkommen hat, dann ist sie verpflichtet, dem Arzt den doppelten Gebührensatz zu zahlen.
Den Ärzten genügt das Verfahren nicht. Die Kassen sollen, so Dr. Roos, ihre freiwilligen Mitglieder zumindest einmal im Jahr nach dem Einkommenfragen. Meint Hermann Beermann vom DGB: »Dieses Denken der Ärzte hat gefährliche Formen angenommen.«
* Barmer Ersatzkasse. Deutsche Angestellten-Krankenkasse, Kaufmännische Krankenkasse Halle, Techniker-Krankenkasse, Hamburg-Münchener Ersatzkasse, Hanseatische von 1826 und Merkur-Ersatzkasse, Handelskrankenkasse.
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
»Und Sie kommen auf Krankenschein!«