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Artikel 29 / 91

» ... aber auch als Staatsbürger«

aus DER SPIEGEL 45/1975

In Essen beweist derzeit der Frankfurter Rechtsanwalt Dr. Schmidt-Leichner, er hatte gerade Geburtstag, daß das Leben erst mit 65 beginnt. Seiner Leistung gebühren jene 30 Punkte, die innerhalb der Schutzdienst-Prüfung von Gebrauchshunden für Höchstleistungen bei der »Abwehr eines Überfalls (mit Beißen)« vergeben werden. Was Herr Schmidt-Leichner als Spiritus rector der Verteidigung im Schalke-Prozeß vorführt und veranstaltet, ist die totale Strafverteidigung.

Mit der -- erfolglosen -- Ablehnung der Berufsrichter begann es. Doch das war, blickt man nach elf Sitzungstagen zurück, noch nicht einmal der Anfang vom Anfang. Denn noch ist kein einziger Zeuge zu den Vorwürfen gehört worden, die den zwölf Angeklagten gemacht werden. Es wurde bislang nur darum gestritten, ob diese Hauptverhandlung überhaupt stattfinden darf.

0:1 verlor Schalke am 17. April 1971 höchst überraschend gegen die vom Abstieg aus der Fußball-Bundesliga bedrohte Bielefelder Arminia. Bielefeld, so kam damals auf, habe diesen Sieg mit 40 000 Mark gekauft. Doch Vorstandsmitglieder und Spieler von Schalke bestritten das nicht nur: sie schworen sogar, es sei alles Rechtens zugegangen.

Die Verteidigung in Essen behauptet, ihre Mandanten seien nicht hinreichend belehrt und über ihre Rolle im unklaren gewesen, als es 1972 zu den -von der Anklage behaupteten -- Meineiden und vorsätzlichen uneidlichen Falschaussagen kam. Man habe »Verbotene Vernehmungsmittel« eingesetzt, wie sie § 136 a der StPO beschreibt, Ihre Mandanten seien 1972 Opfer einer vom § 136a verbotenen »Täuschung« geworden. Sie seien schließlich in rechtlicher Hinsicht Laien. Man habe sie über ihr Auskunftsverweigerungsrecht nicht oder völlig unzureichend unterrichtet. Sie hätten nicht begriffen, daß sie Auskünfte auf Fragen ablehnen konnten, durch deren Beantwortung sie sieh selbst der Gefahr aussetzten, wegen einer Straftat verfolgt zu werden.

Die Große Strafkammer des Landgerichts Essen, die unter dem Vorsitzenden Richter Günter Pohl, 43, verhandelt, akzeptiert den Beweisantrag der Verteidigung, der darauf abzielt, eine Täuschung der zwölf Angeklagten nach § 136a der StPO nachzuweisen. Und so wird aus einem der beiden Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, dem Staatsanwalt Hans-Kurt Dieckmann, 40, der Zeuge Dieckmann.

Außer Herrn Dieckmann soll auch, gemäß dem Beweisantrag der Verteidigung, der Oberstaatsanwalt Werner Kny, 61, gehört werden, unter dessen Leitung Herr Dieckmann von Bielefeld aus in dieser Strafsache ermittelt hat. Die beiden Herren erscheinen, doch sie verfügen nur über eine beschränkte Aussagegenehmigung. Sie dürfen die Namen von Informanten der Staatsanwaltschaft, denen Vertraulichkeit zugesichert wurde, nicht nennen.

Die Verteidigung protestiert, sie explodiert förmlich, und in der Tat, es geht hier schließlich nicht um Mord, um Staatsschutz oder ein anderes großkalibriges Thema, was soll diese beschränkte Aussagegenehmigung? Die Beschränkung wird aufgehoben. Doch jetzt geschieht etwas noch weitaus Verblüffenderes: Der Staatsanwalt Dieckmann greift, bevor er zum Zeugen mit unbeschränkter Aussagegenehmigung wird, in sein Portefeuille -- und übergibt seiner derzeitigen Dienstbehörde, dem Generalstaatsanwalt in Hamm, das allen Beteiligten bis dahin unbekannte Protokoll einer Vernehmung »des Zeugen Kindermann vom 15. 7. 1974«, und über den Generalstaatsanwalt gelangt dieses Protokoll in die Sitzung in Essen.

Dieses Protokoll ist rechtlich wie menschlich eines der erstaunlichsten Dokumente, die je in einer Strafsache anfielen. Denn es handelt von zwei Telephongesprächen, die der Zeuge Kindermann im März 1973 und im Januar 1974 mit einer Frau Margret Becker geführt haben will: mit jener Frau Margret Becker, deren Ehemann Rechtsanwalt in Gelsenkirchen ist und bis zum 12. April 1972 der Rechtsbeistand jener nunmehr Angeklagten war. die Schalke angehörten oder noch angehören.

Man wird fortan, bevor man einem Rechtsanwalt ein Mandat erteilt, darauf bestehen müssen, seine Ehefrau kennenzulernen. Auch wird man um detaillierte Auskunft darüber zu ersuchen haben, wie es in der Ehe des Herrn Rechtsanwalts zugeht. Es könnte ja sein, daß die Ehefrau ein bißchen nervös ist; daß sie gelegentlich. was die Berufstätigkeit ihres Ehemannes und die mit dieser verbundenen Fährnisse betrifft, in fürsorgende Panik verfällt und nicht aus dem Nähkästchen, sondern aus der (Anwalts-)Praxis plaudert.

Frau Margret Becker nämlich hat, dem Kindermann-Protokoll zufolge, in zwei Telephongesprächen dargetan, »daß tatsächlich alle Schalke-Spieler von dem Schmiergeld aus Bielefeld ihren Anteil bekommen haben« und »daß eben doch von den Spielern Meineide vor den ordentlichen Gerichten geleistet worden waren«. Nein, wirklich. Und der Rechtsanwalt Becker heißt auch noch Walter. (Der Rechtsanwalt Walter Becker hat übrigens inzwischen angedeutet, es sei nicht erwiesen, daß tatsächlich seine Frau telephonierte.)

Noch beklemmender als die Anwalts-Perspektive des von Staatsanwalt Dieckmann servierten »Protokoll surprise« ist allerdings die Rolle, die der Herr Kindermann in Sachen dieses Protokolls spielt. Er ist Vorsitzender des Kontrollausschusses des Deutschen Fußballbundes (DFB) im Volksmund der »Chefankläger« des DFB. Herr Kindermann erfährt Mitte März 1973 von seiner Frau, in seiner Abwesenheit habe die Ehefrau des Gelsenkirchener Rechtsanwalts Becker angerufen. Der Rechtsanwalt Becker ist in Sachen Schalke bis April 1972 Kontrahent des Herrn Kindermann gewesen. Herr Kindermann weiß nicht mehr, ob er Frau Becker unter der von ihr angegebenen Nummer angerufen hat oder ob Frau Becker erneut anrief. Doch er hatte ein ausführliches Telephongespräch mit Frau Becker, in dem diese ihm vertraulichste Dinge in Sachen Schalke aus der Praxis ihres Ehemannes erzählte.

Herr Kindermann hatte den Eindruck, »daß Frau Becker psychisch stark belastet war und sich große Sorgen um ihren Mann machte«. Der Rechtsanwalt Becker hatte in Sachen Schalke seit April 1972 kein Mandat mehr. Nichts drohte ihm. Ihn konnte nur gefährden, daß seine Ehefrau schwatzte. Immerhin, Herr Kindermann entsprach lediglich der Bitte von Frau Becker: Er hat im März 1973 lediglich »Fühlung aufgenommen« mit Herrn Becker. In Edeldeutsch schimmert ein Motiv des Herrn Kindermann auf: »Frau Becker war es ein echtes Anliegen, ihrem Mann zu helfen.« Nur -- worin und wogegen war denn der Rechtsanwalt Becker der Hilfe bedürftig?

Immerhin, mehr tat Herr Kindermann 1973 nicht (dem »Protokoll surprise« zufolge). Doch am 16. Januar 1974 ruft Frau Becker erneut bei Herrn Kindermann an. Sie bittet ihn, einen Kontakt zum Staatsanwalt Dieckmann herzustellen. Sie könne nicht »länger stillschweigend dem zusehen, was sich um den Komplex Schalke alles tue«. Sie wolle aussagen. Herr Kindermann' wiederum seinem Protokoll zufolge: »Ich konnte mich ... des Eindrucks nicht erwehren, daß Frau Becker sich unter einer erheblichen psychischen Belastung befand.«

Doch auch diesmal entspricht Herr Kindermann dem Wunsch von Frau Becker. Er benachrichtigt den Staatsanwalt Dieckmann, und er benachrichtigt ihn nicht nur: »Bei dieser Gelegenheit habe ich auch erwähnt, daß ich selbst als Zeuge zur Verfügung stünde, falls es zu einer Vernehmung der Frau Becker nicht kommen sollte.« Nun, so hilft man einer Ehefrau, die man für psychisch schwer belastet hält.

Herr Kindermann handelte, laut seinem Protokoll, als »Vorsitzender des Kontrollausschusses, aber auch als Staatsbürger«, als er im Januar 1974 den Staatsanwalt Dieckmann informierte. Herr Kindermann ist allerdings auch, wenn wir daran erinnern dürfen, Vorsitzender Richter in Stuttgart ... Wir haben bislang keinen Richter gekannt, der es in einem solchen Interessenkonflikt nicht abgelehnt hätte, ein solches Telephongespräch überhaupt zu führen.

Bevor der Zeuge Dieckmann in Essen zu Wort (oder genauer: bislang nicht zu Wort) kam, wurde eine »Dienstliche Erklärung« des Oberstaatsanwalts Kny verlesen, der inzwischen mit Bandscheibenschaden im Krankenhaus liegt und daher derzeit nicht auftreten kann. Diese Erklärung hörte sich prächtig an. Nach ihr wurde der Staatsanwalt Dieckmann im April 1972 von drängender Sorge befallen. Die verdächtigten Schalker Funktionäre und Spieler sagten offensichtlich nach Verabredung und ohne jede Rücksicht -- unter Eid! -- falsch aus; über das Tor, über das sie lediglich »gelegentlich geflachst« hatten. Herr Kny, seiner Erklärung zufolge, entsetzt und teilnehmend, entschied auf »Stopp«. Man dürfe die Schalker nicht ins »offene Messer« rennen lassen.

Man müsse versuchen, über die Bankkonten der Verdächtigten zu ermitteln, man müsse auf Verhör mit Eid verzichten. Herrn Knys dienstliche Erklärung hört sich hinreißend an. Da ist eine Staatsanwaltschaft besonnen vorgegangen -- leider nur war der Ablauf nach den Akten anders. Bis zum 6. April 1972 einschließlich wurden mindestens sechs Schalke-Verdächtigte unter Eid gehört. Am 9. April 1972 trafen sich Oberstaatsanwalt Kny, Staatsanwalt Dieckmann und Rechtsanwalt Becker im Hotel »Schweizerhaus« an der Autobahn Bielefeld -- Hillegossen. Danach rief Rechtsanwalt Becker bei der Staatsanwaltschaft an (Herr Becker, der vom 12. April 1972 an kein Mandat in Sachen Schalke mehr hatte): Die Herren von Schalke würden fortan die Wahrheit sagen. Für jene, die bereits geschworen hatten, wurde ein Termin zur Korrektur erbeten. Der »Dienstlichen Erklärung« des Herrn Kny zufolge walteten Verständnis und Geduld. Doch nach den Akten nahmen die Herren Kny und Dieckmann bereits am 14. April 1972 in Frankfurt Einblick in die frischen Akten des DFB (nachdem sie bis zum 13. April 1972 die Serie der Eidesleistungen -- auf insgesamt 14 Eide -- vorangetrieben hatten). »Bild« am 8. April 1972: »Ein Eid jagt den anderen.«

Für den Freitag letzter Woche wurde im Schalke-Prozeß in Essen das Urteil erwartet. Doch statt ein Urteil zu verkünden, hatte das Gericht einen gequälten Terminplan bis Ende November mitzuteilen. So sich nicht die Verteidigung damit durchsetzt, daß diese Hauptverhandlung gar nicht stattfinden darf, wird man sich in dieser Strafsache noch 1976 gegenüberstehen.

Eine Staatsanwaltschaft darf um keinen Preis, etwa den der »Täuschung«, einen Straftatbestand herbeiführen. Wenn ein Verdächtigter versucht ist, einen Meineid zu leisten, hat sie alles Erfindliche zu tun, um ihm in die (Schwur-)Hand zu fallen. Allein auf »justizförmigem Wege« darf ermittelt werden. Der Strafverteidigung im Essener Schalke-Prozeß gebührt unser Respekt.

Unsere Sympathie gehört in Essen bislang allerdings dem Vorsitzenden Richter Pohl. Seine Zen-buddhistische Selbstbeherrschung darf man nicht einmal rühmen, so imposant ist sie (wenn Herrn Pohl auch das Gesicht rot wird, so er sich zur Souveränität überwindet).

Totale Strafverteidigung setzt totale Souveränität des Gerichts voraus. Möge es doch bitte in Essen so bleiben. Die Große Strafkammer unter Herrn Pohl hat unsere uneingeschränkte Sympathie. Ganz unter uns: Eine totale Strafverteidigung, wie sie in Essen praktiziert wird, ist fast unerträglich. Wäre ich Herr Pohl: Ich hätte Herrn Schmidt-Leichner längst erschossen, mit Käse im Lauf. Er ist unerträglich, der große SL, und zwar deshalb, weil seine Impertinenz uns dem Rechtsstaat ein paar Millimeter näherbringt ...

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