NACKTBADEN Abessinien auf Sylt
Zwanzig weißleuchtende Holztafeln hatte Kurdirektor Christian Sibbersen bei einem Westerländer Malermeister in Auftrag gegeben. Sie werden jetzt in 20 Meter Abstand - von der Nordseebrandung, über Strand und Dünen hinweg - landeinwärts aufgestellt. Zur Warnung: »Dieses Gebiet darf ohne ordnungsgemäße Badebekleidung nicht verlassen werden.«
Indirekt heißt das: Innerhalb dieses Gebietes kann jeder auf so viel Bekleidung verzichten, wie er will. Erfahrungsgemäß beträgt die durchschnittliche Verzichtquote 100 Prozent. Selbst Sonnenbrillen sind verpönt. Weshalb der Volksmund den Nacktbade-Freibezirk des Westerländer Südstrandes (1,5 km Durchmesser) »Abessinien« taufte.
Um dieses nordfriesische »Abessinien« entbrannten heftige Moraldebatten. Kurdirektor Sibbersen sammelte die Für- und Wider-Attacken, die in den Leserbriefspalten der Tagespresse mit Delikatesse geführt wurden, in einer grünen Sonderakte »Nacktbaden«.
Das Steuer der öffentlichen Diskussion riß die Nachrichtenstelle der Landesregierung Schleswig-Holstein mit einer grundsätzlichen Direktive an die Presse herum: »Nach der noch in Kraft befindlichen Polizeiverordnung zur Regelung des Badewesens vom 10. 7. 1942 ist das öffentliche Baden allgemein nur in Badekleidung gestattet ... Die Vorschrift gilt nicht für Kinder bis zum Alter von sechs Jahren ...«
Die Naturkinder im Westerländer Freibezirk sind durchweg älter. Aber sie stellen eine Macht dar Kurdirektor Sibbersen: »In der Hauptsaison liegen täglich mehr als 1000 Personen nackt am Strand.« Bisweilen waren es schon 2000. Eine solche Anzahl sonnenhungeriger Kurgast-Leiber möchte der Kurdirektor nicht durch Verbote erkälten. »Dann kommen sie im nächsten Jahr nicht wieder.«
Das Nacktbaden ist eben für Sylt einer der wesentlichen Anziehungspunkte Nicht selten geht der Zimmerbestellung eine Anfrage an den Fremdenverkehrsverein voraus: »Ist es möglich, in Westerland nackt zu baden?«
Es ist möglich. Nach einer ungeschriebenen Regel schon lange. »Als Folge der Nachkriegszeit, wie auch schon nach 1919«, blätterte Christian Sibbersen aus Gemeindechroniken heraus 1923 war das Gebiet Klappholz, nördlich Westerland bei Kampen, sogar zum landespolizeilich konzessionierten Nacktbad erhoben worden.
An diese Zeit erinnert sich Kampens Freikörperkultur-bejahender Badearzt Dr. med. Knud Ahlborn am liebsten 1927 wurde die Konzession offiziell aufgehoben. Dr Ahlborn betreut auch heute noch viele Freiluftsüchtige inoffiziell. An heißen Sommertagen gibt es auch in Kamgen an die 3000 Nackedeis, das sind 80 Prozent der Kurbevölkerung.
Um diese läßliche Sünde wieder zu legalisieren, zieht Badearzt Dr. Ahlborn gemeinsam mit seinem kunstmalenden Freunde, dem ehemaligen Pfarrer Magnus Weidemann aus Keitum/Sylt, gegen den »Unsinn der Kleidung« zu Felde. »Denn«, so meinen sie, »Prüderie wurde zur Un-Sitte!«
Siehe amtliche Bekanntmachung der Kampener Kurverwaltung an die bis zum 28. Juni gemeldeten 568 Kurgäste:
»Der konzessionierte Badestrand reicht bis Buhne 19 nach dem Norden. Innerhalb dieses Gebietes kann Freikörperkultur nicht gestattet werden Diejenigen Personen, die nördlich der Buhne 19 Freikörperkultur betreiben, bitten wir, die primitivsten Anstandsregeln innezuhalten. Personen, die absichtlich gegen die Bestimmungen verstoßen, laufen Gefahr, daß Anzeige wegen Erregung öffentlichen Aergernisses erfolgt.«
Aergernis bereitete aber auch ein allzu dreistes Spähtruppunternehmen von Sylter Polizisten in den Konzessionsbereich der nackten Tatsachen.
Pudelnaß mit Schlappohren mußte einer von ihnen auf die Wache zurück. Er hatte sich erlaubt, einige unbekleidete Badenixen für unsittlich zu erklären. Die aber hielten die polizeimännliche Belästigung für unsittlich und warfen die uniformierte Staatsgewalt kurzerhand in die Nordsee.
Sie waren, gewissermaßen im Recht. Denn die noch gültige Polizeiverordnung von 1942 besagt nach § 3 auch: »Einzelne Personen oder Personengruppen gleichen oder verschiedenen Geschlechts dürfen öffentlich nackt baden, wenn sie unter den gegebenen Umständen annehmen können, daß sie von unbeteiligten Personen nicht gesehen werden, insbesondere auf einem Gelände, das hierzu freigegeben worden ist.«
Polizeichef Conrad stöhnte in seiner Westerländer Polizeibude: »Wer kann ahnen, daß die von Himmler unterschriebene Polizeiverordnung heute noch gilt?« Kurdirektor Sibbersen hat sich den § 3 für solche polizeilichen Fehlgriffe mit Rotstift angemerkt und macht elastisch Gebrauch.
Zuständig für die Geländefreigabe ist die örtliche Polizeibehörde. Nach Schleswig-Holsteins Polizeiverordnung also der Bürgermeister.
Mit dem setzte sich der Kurdirektor vor Saisonbeginn 1950 an einen Tisch, um die polizeilich unterdrückten Freiluftwünsche aus der Dünenverbannung zu erlösen. Die Nacktkulturträger müssen sich vorläufig noch vor den streckenweise geöffneten Augen des Gesetzes verkriechen. Die letzten Hüllen dürfen sie, streng genommen, erst dicht am Strand von sich werfen, bevor sie in die seifenschaumdicke, undurchsichtige Gischt tauchen ("um von unbeteiligten Personen nicht gesehen zu werden«, wie es in der Verordnung heißt).
Westerlands Bürgermeister Lobsin wie sein Kurdirektor halten dieses Manöver für Unfug. Ihre Gäste sollen wieder frank und frei ins Wasser laufen dürfen. Dabei ist es schwer, den seriösen Weltbad-Charakter zu wahren. Denn Kurdirektor Sibbersen weiß: »Es gibt auch Typen, die was Besonderes erleben wollen.«
Die haben ihm 1949 schon erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Sie zerbrachen nämlich den 2 km langen Anstandsabstand zwischen »Abessinien« und Stadtrand Westerland. Erst drangen die Zwickelverächter bis an die Strandkörbe und die darin wohlbehüteten Nicht-Abessinier (die in der Minderheit sind) vor; dann verlegten sie ihr Paradies sogar bis mitten in die Stadt hinein. Um »Abessinische Nächte« zu feiern.
Die Beteiligung war bisher unerreicht groß, die Festbekleidung unerreicht winzig. Der weibliche Durchschnitt hielt sich an raschelndes Hawaii-Stroh oder einteiligen Bikini und zwei briefmarkenähnliche Pflaster. Einige Herren gefielen sich in Badehose und Socken mit Haltern.
Der Kurdirektor kündigte dem abessinischen Gastwirt für 1950 den Pachtvertrag. Denn: »So was geht zu weit.« Daher werden nun die Schilder aufgestellt, um sich die allzu großen Freiheiten vom Halse zu halten. »Im übrigen wollen wir jeden nach seiner Fasson selig baden lassen.«
Kurdirektor Christian Sibbersen bat die Polizei, zwei ständig um das Territorium der Sonnenanbeter patrouillierende Polizisten darauf achten zu lassen, daß die Seligkeit im halbwegs konzessionierten Abessinien nicht über das Luft- und Wasserbaden hinausgeht.