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WALDSTERBEN »Abhängig wie ein Junkie«

Der neue Schadensbericht zeigt: Kalk kann den Forst nicht retten. Das Millionenprogramm gegen die Versauerung der deutschen Waldböden, behaupten Fachleute, war ein Irrweg.
aus DER SPIEGEL 50/1997

Über den Wipfeln kennt Will Pfennig, 45, keine Ruh. Unter donnernden Rotoren verstreut der Hubschrauberpilot seit mehr als zehn Jahren Kalk über siechende Wälder. Die Arbeit ist anspruchsvoll, anständig bezahlt und angeblich gut für die Umwelt. Doch zunehmend fragt sich der Pilot aus dem rheinland-pfälzischen Wehr bei Andernach, »ob das ständige Kalken überhaupt sinnvoll ist«.

Die Bundesregierung hat da keine Zweifel. Der neueste »Waldzustandsbericht«, den Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Borchert am Dienstag dieser Woche vorlegen wird, setzt gegen die weitere Versauerung der Waldböden auf eine verstärkte Ausbringung von Kalk. Bis zu 3,5 Tonnen pro Hektar wird für die »Stabilisierung« der übersäuerten Waldböden empfohlen. »Es ist für uns alle überlebenswichtig«, urteilt der Minister, »die Funktionsfähigkeit des Waldes auf Dauer zu erhalten.«

Dazu gehört ein unter den Industriestaaten beispielloses Bombardement. Vor allem aus Hubschraubern sind seit Mitte der achtziger Jahre rund 400 000 Tonnen Kalk per anno über den deutschen Forsten verrieselt worden - eine Ladung von insgesamt 130 000 Güterwaggons. Die jährliche Operation Kalk kostete bislang knapp eine halbe Milliarde Mark.

Der kränkelnde Wald bekomme, so kritisiert Andreas Krug, 37, Waldexperte des Bonner Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), »wie ein abhängiger Junkie immer stärkere Dosen« verabreicht - ohne Wirkung.

Die Schadensstatistik Bonns belegt, daß fast 60 Prozent aller Bäume krank sind und rund 20 Prozent mit Nadel- oder Blattverlusten von mehr als 25 Prozent als »schwer geschädigt« gelten. Insbesondere bei den Laubbäumen setzt sich das stille Sterben fort: Jede dritte Buche und gar jede zweite Eiche gilt als schwer krank. »Die deutschen Eichen werden keine Chance mehr haben, ihr natürliches Lebensalter von ein paar hundert Jahren zu erreichen«, urteilt BUND-Vorsitzender Hubert Weinzierl.

Im deutschen »Versauerungsforst« (Deutscher Forstwirtschaftsrat) können offenbar auch die massiven Kalkgaben nicht den Säurewert im Boden entscheidend vermindern. Die Wissenschaftler der Eberswalder Bundesforschungsanstalt für Forst und Holzwirtschaft messen auf vier Fünftel aller Waldflächen bis in 30 Zentimeter Tiefe einen pH-Wert von 4,2 und weniger - 7 wäre neutral. »Wir nähern uns dem Salatessig«, sagt Forschungsleiterin und Forstwirtin Barbara Wolff, 35.

Die Folgen sind beispielsweise am Abhang des nordhessischen Bilstein zu beobachten. Eine rund 120 Jahre alte Eiche »kippte einfach bei Windstille um«, sagt Klaus Olischläger vom Hessischen Forstamt in Witzenhausen. Von dem Wurzelwerk der Eiche waren nur noch verkümmerte Reste zu finden. Der Säurefraß und eine verminderte Nährstoffaufnahme hatten den Baumriesen vermutlich gefällt.

Ebenfalls auf den übersäuerten Standorten der hessischen Versuchsflächen zeigen Fichten und Buchen einen »gestörten Wurzelaufbau«. Johannes Eichhorn von der Hessischen Landesanstalt für Waldökologie beobachtet neue Alarmsignale der gestreßten Bäume. So bilden sich die Wurzeln von Buchen auf der Suche nach Nährstoffen »immer dichter unter der Oberfläche« aus. In 65 Zentimeter Tiefe, so Eichhorn, träfen sie vielerorts nur auf Flüssigkeiten, die wie Zitronensaft wirken - selbst wenn massiv gekalkt wurde.

Dieser Säureangriff im Untergrund hat nicht nur die fatale Folge, daß die Aufnahme wichtiger Nährstoffe wie Calcium, Magnesium oder Kalium reduziert wird. Durch den chemisch sauren Cocktail verliert der Boden zudem sein natürliches Puffervermögen. Gifte wie Aluminium oder Schwermetalle wie Cadmium, Blei, Mangan oder Eisen werden freigesetzt und töten für den Aufbau der Humusschicht wichtige Kleinstlebewesen ab.

Ausgelöstes Aluminium - bei einigen Medizinern unter Verdacht, an der Entstehung der Alzheimerschen Krankheit beteiligt zu sein - wird vielerorts auch schon im Grundwasser nachgewiesen. Der regierungsamtliche Waldbodenbericht stellt bei einem Drittel der Meßpunkte bereits Gefahr durch ausgewaschenes Kupfer und Blei fest. »Die Gifte sausen einfach ab ins Grundwasser«, sagt Waldexpertin Wolff.

Schon heute ist der erfrischende Schluck aus der Waldquelle für Wanderer ein Risiko. Bei der Untersuchung von einem Dutzend Quellen fanden hessische Forscher in nahezu der Hälfte Aluminiumspuren oberhalb des Trinkwasser-Grenzwerts von 0,2 Milligramm pro Liter - teilweise bis zum 30fachen. Forstbeamter Eichhorn ließ deshalb zwei hessische Waldquellen mit Warnschildern versehen: »Kein Trinkwasser«.

Eine »Gefährdung des Grund- und Quellwassers im Untergrund«, wird im Waldzustandsbericht gewarnt, »kann nicht mehr ausgeschlossen werden«.

Was dem Menschen schadet, bekommt auch den Bäumen nicht. Längst hätte sich bei einer fünf- bis zehnjährigen Einsickergeschwindigkeit die segensreiche Wirkung des verstreuten Kalks zeigen müssen. Doch nahezu überall sei eine wesentliche Verbesserung nicht festzustellen. Die immer noch »instabile Versorgungssituation« (Waldschadensbericht) wird deshalb vom Forstwirtschaftsrat als »tickende Zeitbombe« eingeschätzt.

Ein Vergleich von »gekalkten« zu »ungekalkten« Flächen in Niedersachsen bringt ein ernüchterndes Ergebnis. Der behandelte Waldboden war in den oberen Schichten nahezu genauso sauer geblieben. Den »critical loads« der Säureeinträge, so zeigt eine Langzeitstudie des Berliner Umweltbundesamt (UBA), ist mit der Kalkspritze allein nicht beizukommen.

Zwar könne der »Schadensverlauf« verlangsamt werden. Doch eine jetzt vorgelegte UBA-Bilanz von »Zehn Jahre Waldschadensforschung« kann nur eine »Verringerung der Luftschadstoffe«, wie sie jetzt von Bonn auf dem Klimagipfel im japanischen Kyoto gefordert wird, die Versauerung aufhalten. Kalk kann den deutschen Forst nicht retten - im Gegenteil.

Nach Untersuchungen der Universität Göttingen und weiteren in Nordrhein-Westfalen kann das 0,2 Millimeter starke Kalkgranulat sogar den Bäumen und Waldbewohnern wie den Ameisen schaden. So nahm die Feinwurzelmasse, ein Indikator für gesunden Baumwuchs, in Altbeständen von Fichten und Buchen bereits nach vier Jahren Kalkanwendung um »bis zu 20 Prozent« ab. »Die ganze Kalkerei richtet mehr Unheil an, als sie einbringt«, sagt Krug.

In der rheinland-pfälzischen Éifelgemeinde Ormont hat ein Kalkhersteller selbst eine Testreihe finanziert. In den Versuchsflächen des Gemeindewalds gingen auf den herkömmlich gekalkten Böden die Bäume weiter ein. Erst die Anwendung einer eigens entwickelten, aber teureren Kalkmixtur brachte die Wende.

Als der Geschäftsführer Hilarius Lux von der Raiffeisen Waren GmbH die wissenschaftlich ausgewerteten Ergebnisse im Mainzer Forstministerium präsentierte, bekam er zu hören: »Das interessiert hier nicht.« Lux hatte verschiedene amerikanische Düngestoffe für den Wald den europäischen Verhältnissen angepaßt und daraus eine »Suspensionslösung« entwickelt. »Mit guten Vorschlägen«, so Lux, »wird man hier behandelt wie ein Verbrecher.«

Gut die Hälfte der Waldfläche in Rheinland-Pfalz wird statt dessen weiter nach altem Muster aus der Luft bekalkt,was offensichtlich den Interessen weniger entgegenkommt. Weil sie sich bei den lukrativen Kalk-Aufträgen abgesprochen haben sollen, hat das Berliner Kartellamt kürzlich ein »Mißbrauchverfahren« gegen einen Zusammenschluß von Hubschrauberfirmen zur Gruppe »Heli Forst« eingeleitet.

»Waldsterben ist eben für viele ein gesundes Geschäft«, sagt Pilot Pfennig.

[Grafiktext]

Überschreitung der ''critical loads'' von Säure in Waldböden

[GrafiktextEnde]

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