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GROSSBRITANNIEN Abschied vom Oxtail

Das Verkaufsverbot für Rindfleisch am Knochen löste keine neue BSE-Panik aus. Im Gegenteil: Die Briten stürmten die Schlachtereien für Hamsterkäufe.
Von Hans Hoyng
aus DER SPIEGEL 50/1997

Die Nachricht hätte nicht ungünstiger kommen können. Nach Jahren pausenlosen Propagandarummels, der die Hauptstadt von »Cool Britannia« zum Nabel des Universums und zum Inbegriff raffinierter Lebensart erklären wollte, erlagen sogar die Küchenchefs der vornehmen Londoner Restaurants dem Größenwahn: Sie behaupteten ungeniert, in ihren einst verachteten Abfütterungsbetrieben lasse sich sogar wohlschmeckender speisen als in Paris.

Doch noch ehe sich das Eigenlob richtig herumsprechen konnte, war die Herrlichkeit schon wieder vorbei. »Wie ein Blitz aus heiterem Himmel«, so ein Geschädigter, verbannte Landwirtschaftsminister Jack Cunningham genau das aus Töpfen und Pfannen, was den Geschmack englischer Saucen und Braten erst zur Entfaltung bringt - Rinderknochen und Knochenmark.

Londons Edelköche sahen ihre Sterne entschwinden: Michel Roux, Besitzer des vom Michelin ausgezeichneten »Le Gavroche«, kaufte bisher ausschließlich Fleisch am Knochen ein. »Nach dem Kochen kann man die Knochen entfernen, aber nicht vorher, sonst verliert das Gericht jeden Geschmack.« Nicht einmal seine berühmten Risottos darf er den Gästen mehr vorsetzen.

Doch auch am entgegengesetzten Ende britischer Nahrungsaufnahme richtete das Verbot schwere Verwüstungen an: Wenn der »Oxo cube«, die Antwort des Königreichs auf den deutschen Maggiwürfel, nicht mehr erlaubt ist, was wird dann aus dem unverzichtbaren Beiguß zum Sonntagsbraten, der als »gravy« weltweit berüchtigt ist?

Das überraschende Verbot durch den Labour-Minister folgte unguten Traditionen seiner Tory-Vorgänger: Erst wird behauptet, britisches Rindfleisch sei »sicher«, dann wird ein neues Verkaufsverbot verhängt - diesmal nur Stunden nachdem die wissenschaftlichen Berater der Regierung vor einer neuen, erstmals nachgewiesenen Infektionsmöglichkeit mit der Rinderseuche BSE gewarnt hatten.

Bei Experimenten mit Mäusen fanden sie heraus, daß bestimmte Nervenknoten im Rückenmark die Krankheit schon Monate bevor bei Rindern erste Symptome der tödlichen Gehirnaufweichung nachweisbar sind, übertragen können. Zwar sollte in Großbritannien kein Fleisch von Kühen, die älter als 30 Monate sind, in den Handel gelangen. Aber bei der gegenwärtigen Schlachtpraxis, so kalkulierten die Wissenschaftler, sei nicht auszuschließen, daß dieses Jahr etwa sechs Rinder mit infizierten Nervenknoten in die Lebensmittelkette gerieten.

Er könne es nicht verantworten, verkündete Minister Cunningham im Unterhaus, »Gewebe in der menschlichen Nahrungskette zu belassen, das BSE transportieren kann«.

Stephen Dealler, Veterinär und BSE-Spezialist, hält das neue Verbot für »einen vernünftigen Schritt«. Doch das Volk, dem die Fürsorge galt, zeigte sich undankbar. Nicht einmal alle Wissenschaftler konnten bislang Verständnis für die Maßnahme aufbringen. Ian Langford von der Universität East Anglia, ein Experte für Statistik und Risikoeinschätzung, hält die Infektionsgefahr für so minimal, daß sie noch weit unter »negligible« liege.

Auch die seriösen britischen Blätter machten sich einen Spaß daraus, das Restrisiko möglichst plastisch darzustellen. So sei es etwa 30 000mal wahrscheinlicher, errechnete der »Daily Telegraph«, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen, als an einer Infektion zu sterben, die durch diese seltsamen Nervenzellen von Rindern übertragen werde. Weitere absurde Zahlenspiele: Die Wahrscheinlichkeit, in der Badewanne zu ertrinken, sei 750mal höher, und die Chance, den Lotto-Jackpot zu knacken, immerhin noch 43mal größer.

23 Briten sind bislang an der neuen Creutzfeldt-Jakob-Variante gestorben, die wahrscheinlich auf den Verzehr von BSEverseuchtem Fleisch zurückzuführen ist. Doch die potentiellen Opfer schreckt das offenbar nicht.

Furchtlos wie einst an der Somme stürmten rosenwangige Gentlemen Londoner Traditionsrestaurants, um noch einmal Ochsenschwanzsuppe zu genießen, Hausfrauen standen für Hamsterkäufe von Rippchen und T-Bone-Steaks an.

Britische Farmer, die wegen fallender Rindfleischpreise vor dem Ruin stehen und letzte Woche die Häfen an der Irischen See blockierten, um Billigimporte aus Irland zu verhindern, weiteten derweil ihre Aktionen auch auf Häfen an der Südküste aus.

In den »Shires«, den Kerngebieten englischer Landwirtschaft, wurde gar zum Bauernkrieg aufgerufen. Rinderzüchter warfen den Funktionären der einst mächtigen National Farmers' Union vor, sich nur noch um ihre Ernennung in den Adelsstand zu kümmern.

Die neue Labour-Regierung, ohnehin als Stadtpartei verdächtigt, wurde beschuldigt, die geplagten Landwirte mit ständig neuen Vorschriften zu drangsalieren.

Wie die zusätzlichen Rinderknochen, die allenfalls noch zu Hundefutter verarbeitet werden dürfen, beseitigt werden sollen, bleibt auch dem Agrarminister und seinen Mitarbeitern einstweilen rätselhaft. Schon die Rückstände aus dem seit knapp zwei Jahren laufenden Schlachtprogramm sind nicht zu entsorgen; sie verrotten teilweise in Lagerhäusern.

Dieser Rinderberg ist heute so groß, daß er 36mal den Londoner St. Stephen's Tower füllen könnte - jenen Turm am Parlament von Westminster, der gemeinhin als Big Ben bekannt ist.

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