Titel Abschreiben 2.0
Für Norbert Tholen kam die Ernüchterung auf einer Hochzeitsfeier. Begeistert erzählte der Oberstudienrat dort von einem exzellenten Aufsatz eines seiner Schüler. Der Zwölftklässler hatte einen quasi literarischen Text verfasst. Es ging darum, wie jemand über Nacht in einer Badewannenfabrik eingeschlossen ist. Die Ausführung dieser bizarren Idee hatte der Deutschlehrer mit »sehr gut« bewertet und schwärmte noch auf der Feier vom Talent des Schülers - bis ein anderer Hochzeitsgast bemerkte, die Geschichte kenne er doch, das sei eine Erzählung des Autors Benjamin von Stuckrad-Barre.
Lehrer Tholen forschte nach und fand das Original im Internet: »Ein dreister Täuschungsversuch.« Misstrauisch geworden, gab er auch Phrasen aus anderen Aufsätzen zur Suche bei Google ein und siehe da: Die Werke einiger Gymnasiasten entpuppten sich als Plagiate. Statt Einser und Zweier hagelte es also Sechser. »Abschreiben ist heute so leicht wie nie«, sagt Tholen.
Zum Kopieren von Hausaufgaben müssen Schüler nicht einmal mehr schreiben oder selbst tippen: Ein paar Klicks genügen, per Copy und Paste lassen sich Fundstellen im Internet schnell markieren und zu Aufsätzen zusammenstückeln. Im Internet stehen neben Wikipedia-Einträgen längst auch komplette Referate und Schularbeiten zur Verfügung. Auf Seiten wie www.hausaufgabe.de oder www.referate.de finden sich Shakespeare- Interpretationen ebenso wie vorgefertigte Texte zu Themen wie Klimawandel oder Genmutationen.
»Deine fertige Hausaufgabe gibt's doch schon«, wird etwa auf www.hausaufgabe. de gelockt: »Warum also selbst abmühen? Hol sie dir!« Zum Abruf der vollständigen Datei muss der Schüler eine 1,99 Euro teure SMS schicken. Wer dabei die allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht gründlich liest, landet schnell in der Kostenfalle: Beim Anbieter www.hausauf gaben-heute.com wird nach dem Probetag etwa ein Abo-Vertrag über zwei Jahre abgeschlossen, monatliches Entgelt: 7 Euro. Verbraucherschützer warnen bereits vor der Hausaufgaben-Abzocke im Internet.
Dass einige Anbieter an der Faulheit von Schülern verdienen wollen, findet Lukas Dössel »ziemlich daneben«, dass Schüler schummeln, dagegen eher normal: »Das weiß doch jeder, dass da viel abgekupfert wird.«
Der 25-jährige Promotionsstudent aus Mainz betreibt die Seite www.e-hausauf gaben.de. Dort gibt es alles gratis: Von der Szenen-Analyse von Macbeth bis zur Ovid-Übersetzung. Mehr als 7000 fertige Dateien stehen zur Verfügung, und es werden immer mehr: Fleißige, die ihre Arbeiten anderen zum Herunterladen zur Verfügung stellen, belohnt Dössel mit Gratis-SMS, die von seiner Seite losgeschickt werden können. Für ein gutes Referat kämen da schon mal 10 SMS zusammen, sagt Dössel. Inzwischen bringt die Seite sogar Werbeeinnahmen ein, rund 190 000 Mitglieder nutzen den Service, täglich werden Tausende Dateien runtergeladen.
»Plagiate sind an Universitäten und Schulen ein großes Problem«, sagt die Berliner Medieninformatikern Debora Weber-Wulff. Für Dozenten und Lehrer hat sie deshalb den Leitfaden »Fremde Federn Finden« entwickelt, der zeigt, wie Pädagogen Kopisten durch eigene Internet-Recherche überführen können. »Es ist ganz leicht, den Schülern auf die Schliche zu kommen«, sagt Weber-Wulff.
Für viele Lehrer gehört der Check bei Google bereits zur Routine. »Kopien erkenne ich meist sofort«, sagt Volker Hofheinz, Studienrat aus Köln. Wenn die Sätze beim Vortragen zu flüssig klingen, bittet er den betreffenden Schüler, das eben Gesagte genauer zu erläutern. »Dann wird schnell klar: Der Schüler hat nicht verstanden, was er abgeschrieben hat«, sagt Hofheinz. Komplexere Aufgaben ließen sich ohnehin nicht per Copy-Paste-Verfahren lösen: »Man darf als Lehrer natürlich keine Standardfragen stellen.«
Sebastian Schuhbeck, Religionslehrer im bayerischen Traunstein, hat trotzdem aufgerüstet: Mit einer speziellen Software, »Plagiarism Finder« genannt, überprüft er Abschlussarbeiten daraufhin, ob Passagen aus dem Internet abgekupfert sind: »Die Software ist unser Raketenabwehrschild«, sagt Schuhbeck.
Hersteller des »Plagiarism Finder« ist die deutsche Mediaphor AG in Paderborn. Geschäftsführer Gunter Wielage verkauft mittlerweile jährlich etwa 3000 Exemplare an Universitäten, Gymnasien und Berufsschulen. Die Firma hatte die Software ursprünglich zum Hausgebrauch entwickelt: Der Geschäftsführer wollte sicher sein, dass von ihm herausgegebene Computerbücher keine abgekupferten Texte von freien Autoren enthielten. »Heute ist die Software zu einem kleinen zweiten Standbein geworden«, sagt Wielage.
Seit bekannt sei, dass er auf Schummeleien prüfe, sei die Kopiererei aus dem Internet zurückgegangen, sagt Lehrer Schuhbeck. Er bezweifelt allerdings, dass heute mehr kopiert wird als früher: »Da haben die Schüler von einem Freund aus dem Nachbarort abgeschrieben, und keiner hat's gemerkt.«
Schuhbeck ermutigt seine Schüler sehr, das Internet zu nutzen - nur eben nicht zum Schummeln: »Richtig angewandt, ist das Internet für Schüler ein tolles Hilfsmittel.« Methoden zur sinnvollen Recherche müssten dabei von den Lehrern im Unterricht beigebracht werden. Elfjährige lässt er im Internet etwa zur Herkunft ihrer Namen recherchieren, Ältere macht Schuhbeck gezielt auf Fallstricke im Netz aufmerksam: »Die Schüler müssen lernen, die Seriosität von Web-Seiten zu bewerten.«
Bei aller Technikbegeisterung der Jugendlichen steht nämlich fest: Der kompetente Umgang mit dem Medium Internet muss erst erlernt werden. »Je klüger ein Kind schon ist, desto mehr kann es auch vom Internet profitieren«, sagt Helga Theunert, Direktorin des Instituts für Medienpädagogik in München. Deshalb müssten in der Schule gerade bildungsschwächere Kinder zum Gebrauch des Internet angeleitet werden, damit auch sie den Informationswert des Netzes ausschöpfen könnten.
Lesefähigkeiten, die in der Schule vermittelt werden, befähigen dabei besonders zu einer intelligenten Nutzung des Internet. »Das Lesen ist weiterhin eine wichtige Voraussetzung, um die neuen Medien nutzen zu können«, sagt der Medienforscher Stefan Aufenanger. Kinder, die gern und gut läsen, interessierten sich im Internet auch für Texte, schlechte Leser dagegen eher für multimediale Inhalte.
»Ich bin ja schon froh, wenn die Schüler im Internet überhaupt nach Hausaufgaben suchen«, sagt Studienrat Hofheinz aus Köln. Die meisten Schüler seien geübter darin, im Netz Bildchen und Videos zu finden als korrekte Reaktionsgleichungen für den Chemieunterricht.
»Das Problem besteht eher darin, dass Kinder und Jugendliche das Internet vor allem als Unterhaltungsmedium nutzen«, sagt Christine Feil vom Deutschen Jugendinstitut in München. Online-Netzwerke und Videoportale sind dabei besonders beliebt: Knapp zwei Drittel der 14- bis 19-Jährigen tummeln sich mittlerweile auf Seiten wie SchülerVZ, MySpace oder YouTube.
Nach schulischen oder beruflichen Belangen suchen im Netz nur 36 Prozent der 12- bis 19-Jährigen regelmäßig.
JULIA BONSTEIN