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LAGE DER NATION Absurde Dinge

aus DER SPIEGEL 53/1970

Ein aus Amerika zu Hilfe gerufener Polit-Professor sollte die Bundesregierung aus innerdeutschen Nöten befreien. Von Peter Christian Ludz, zur Zeit Gastdozent an der Columbia-Universität in New York, erhoffte sich das Kabinett mit Hilfe wertfreier Wissenschaft die Befreiung vom Zwang zu politischen Bekenntnissen.

Noch vor einem Jahr war Kanzleramts-Minister Horst Ehmke mit seinem Plan, den Kanzler-Bericht zur Lage der Nation um einen Vergleich der Gesellschaftsordnungen in der Bundesrepublik und der DDR zu bereichern, am Unvermögen des Bonner Regierungs-Apparats gescheitert. In diesem Jahr gab das Kabinett das ehrgeizige Projekt an eine »wissenschaftliche Kerngruppe« unter Führung von Ludz weiter.

Schon im Sommer billigte das Bundeskabinett das Wissenschaftler-Konzept. In fünf monatiger Arbeit verglich die Ludz-Mannschaft die Berufs-, Erwerbs- und Bevölkerungsstruktur, die Produktivität, das Energie- und Verkehrswesen, den Wohnungsbau und die soziale Sicherung In beiden deutschen Staaten.

Dabei gab es oft Schwierigkeiten, Quellen-Material aus der DDR zu beschaffen. In einem Fall mußte ein Mitarbeiter der Ludz-Crew In die DDR-Hauptstadt reisen, um in der Ost-Berliner Bibliothek Spezialstatistiken einzusehen und von Hand zu exzerpieren.

Auf professionelle DDR-Ausspäher mochte DDR-Forscher Ludz nicht zurückgreifen. Deshalb verzichtete er auf Unterlagen und Berichte, die dem Kanzleramt vom Bundesnachrichtendienst (BND) angeboten wurden. Ludz über den Wert des BND-Materials: »Wir lesen die Zeitungen früher als die.«

Vom Ergebnis seiner Deutschland-Forschung war Ludz selbst überrascht: »Ich bin erstaunt, sowohl über die Unterschiede wie über die Parallelitäten«

Anerkennung aus der DDR erwartet Ludz freilich nicht: »Die betrachten meine Arbeit doch als besonders raffinierte Art des Kalten Krieges.«

Doch auch in Bonn gab es Ärger. Zwar lobte Bundeskanzler Brandt den Forscherfleiß: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß etwas schlecht sein soll, wenn man die Dinge so darstellt, wie sie sind.« Aber als das Ludz-Team dem Kabinett das erste Kapitel seiner Arbeit vorlegte, in dem die Rolle der beiden deutschen Staaten in Nato und Warschauer Pakt sowie in EWG und Comecon gegenübergestellt wird, regte sich in Helmut Schmidts Verteidigungs-Ministerium und Walter Scheels AA »verletzter Autorenstolz« (Kanzleramt-Planungschef Reimut Jochimsen).

Das Kabinett beschloß deshalb, das Ludz-Opus zwar im Grundsatz zu billigen, aber in Eigenverantwortung der Wissenschaftler als »Materialien zum Bericht zur Lage der Nation« erscheinen zu lassen.

Doch auch in die Professoren-Verantwortung will die Regierung hineinredigieren. So bemängelte das Auswärtige Amt am letzten Montag in einer Konferenz bei Minister Egon Franke, daß Ludz in seinem ersten Kapitel von »Entwicklungsländern« spreche. Aus Gründen des politischen Takts müsse es »Länder der Dritten Welt« heißen.

Die Ressort-Kritik machte Ludz unsicher: »Uns flatterte jedesmal die Hose, wenn die mit ihren »schweren Bedenken« kamen. Und dann waren es ganz absurde Dinge, wie etwa eine falsche Jahreszahl.«

Doch die Regierung hat offenbar nicht nur »absurde Dinge« zu beanstanden. Regierungssprecher Conrad Ahlers: »Das erste Kapitel wird von uns umgeschrieben.« Ludz: »Daß das ganz umgeschrieben wird, ist einfach nicht wahr.«

Zugleich räumt der Professor aber ein, die politische Brisanz des ersten Kapitels mache eine »besondere Form der Kooperation« zwischen Wissenschaftlern und Regierenden erforderlich. Was die Regierung unter Kooperation versteht, umschrieb ein Kanzler-Berater: »Die können unseren Vorschlag für das erste Kapitel ablehnen, wenn sie wollen, aber die werden nicht wollen, denn sie werden ja von uns bezahlt.« Gesamtkosten des Unternehmens: 350 000 Mark.

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