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Titel Absurde Folgen

Erstmals könnten Überhangmandate eine Bundestagswahl entscheiden. Profitieren würde davon die Union, sagen Wahlforscher.
aus DER SPIEGEL 39/2009

Eine Stunde etwa rechnet der Computer, bis er das Ergebnis ausspuckt: 19,986 steht auf dem Bildschirm, also ungefähr 20. So viele Überhangmandate, sagt Joachim Behnke, werde die CDU mit großer Wahrscheinlichkeit ergattern - wenn die Wahl am nächsten Sonntag so ausgeht, wie es die Meinungsforscher derzeit vorhersagen.

Mit einer ausgefeilten Simulation der Ergebnisse aus allen 299 Bundestagswahlkreisen hat der Politikprofessor aus Friedrichshafen eine Zahl errechnet, die in zweifacher Hinsicht spektakulär ist: Einmal wäre es die höchste Zahl von Zusatzsitzen, die jemals eine Partei bei Bundestagswahlen erhalten hat. Und zweitens könnten diese zusätzlichen Mandate erstmals in der Geschichte der Republik wahlentscheidend sein. »Dank der Überhangmandate können Union und FDP sogar dann eine Regierungsmehrheit im Bundestag erringen, wenn SPD, Grüne und Die Linke mehr Wählerstimmen bekommen«, sagt Behnke. Nach aktueller Umfragelage steige die Siegeswahrscheinlichkeit für Schwarz-Gelb durch die Überhangmandate auf fast 90 Prozent.

Die Erklärung dafür liegt in einer Besonderheit des deutschen Wahlrechts. Neben der Zweitstimme, die über die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag entscheiden soll, können die Wähler mit ihrer Erststimme auch Direktkandidaten wählen. Überhangmandate entstehen vereinfacht gesagt dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Parlamentssitzen zustehen würden. Das hochkomplexe Berechnungssystem für diese Mandate hat mitunter absurde Folgen. So kann es sein, dass Wähler ihrer Partei gerade dadurch zusätzliche Abgeordnete verschaffen, dass sie mit der Zweitstimme eine andere Partei wählen - wie es 2005 bei den Nachwahlen in Dresden zu beobachten war. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Änderung des Systems verlangt, allerdings erst ab 2011. Eine schnellere Änderung verhinderte die Regierungsmehrheit im Bundestag.

Paradoxerweise entstehen viele Überhangmandate gerade dann, wenn die Volksparteien schwächeln. Wegen des großen Abstands zur SPD, den Demoskopen bei rund zehn Prozentpunkten sehen, dürfte die Union auch mit einem Ergebnis von 35 Prozent jede Menge Direktmandate einfahren. Wenn die CSU in Bayern einbricht und nahe 40 Prozent landet, könnte sie laut Behnke mit bis zu sechs Überhangmandaten rechnen. Bei mehr als 50 Prozent gäbe es dagegen kein einziges Zusatzmandat.

Selbst wenn die SPD noch bis auf fünf Prozentpunkte an die Union herankommen sollte, ändere sich das Szenario kaum, sagt Behnke. Die Union käme dann zwar nur noch auf eine Größenordnung von etwa 17 Überhangmandaten. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass gerade die wahlentscheidend werden, steige wegen des knapperen Ergebnisses noch deutlich an.

Wahlforscher halten das Szenario für plausibel. Forsa-Chef Manfred Güllner rechnet mit 14 bis 18 Überhangmandaten für die CDU, »für die SPD dürften es nur 2 bis 3 werden«. Richard Hilmer von Infratest dimap glaubt, die CDU könne »sogar noch viel mehr Überhangmandate bekommen als 20«. Dadurch könne es für Union und FDP selbst dann noch zur Kanzlermehrheit reichen, wenn sie etwa drei Prozent weniger Zweitstimmen bekämen als SPD, Grüne und Linke.

Für das politische System hätte das schwerwiegende Folgen, warnt der Chemnitzer Politologe Eckhard Jesse: »Eine Regierung, die nicht die Mehrheit der Wähler hinter sich hat, sondern sich nur auf Überhangmandate stützen kann, hätte riesige Legitimationsprobleme.«

MATTHIAS BARTSCH, DIETMAR HIPP

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