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ZEITGESCHICHTE »Absurde Vorstellung«

Russlands Präsident Medwedew wirft dem Westen Wortbruch vor. Die Nato-Osterweiterung verstoße gegen Zusagen, die 1990 in den Verhandlungen zur deutschen Einheit gegeben worden seien. Dokumente aus westlichen Archiven stützen den russischen Verdacht.
aus DER SPIEGEL 48/2009

Niemand in Russland kann seiner Wut über die Erweiterung der Nato nach Osten vor Millionenpublikum so ungestüm freien Lauf lassen wie Wiktor Baranez. Der Starkommentator der Boulevardzeitung »Komsomolskaja prawda« ("Wahrheit der Komsomolzen") wettert gern gegen das »heimtückische und draufgängerische« westliche Militärbündnis. Russland müsse endlich aufhören, die Nato als Partner zu sehen.

Warum über gemeinsame Manöver nachdenken, wenn man betrogen worden sei? Die Nato »hat sich mit ihren Kanonen bis an unsere Staatsgrenzen vorgebohrt«, schreibt der Oberst a. D., der unter Boris Jelzin Sprecher des Verteidigungsministers war. Und zwar entgegen allen Versprechungen, die im Prozess der deutschen Einigung gemacht worden seien.

In Moskau herrscht quer durch alle politischen Lager, von den Nationalpatrioten über die Kommunisten bis zur Putin-Partei »Einiges Russland«, ein politischer Konsens: Der Westen habe sein Wort gebrochen und Russland, als es schwach war, über den Tisch gezogen.

Als Präsident Dmitrij Medwedew den SPIEGEL Anfang November in seiner Residenz vor den Toren Moskaus empfing, klagte er darüber, dass es nach dem Fall der Mauer nicht gelungen sei, »Russlands Platz in Europa neu zu definieren«. Was habe Russland erhalten? »Nichts von dem, was uns zugesichert worden ist: dass die Nato nicht endlos nach Osten erweitert wird und unsere Interessen stets berücksichtigt werden«.

Über die Frage, was Moskau 1990 tatsächlich versprochen wurde, tobt ein historischer Streit mit tiefgreifenden Konsequenzen für das künftige Verhältnis Russlands zum Westen. Aber was ist die Wahrheit?

Die Versionen der Akteure laufen quer durch alle Lager. Natürlich habe es eine Zusage gegeben, die Nato »keinen Daumen breit Richtung Osten auszuweiten«, sagt heute in Moskau Michail Gorbatschow, der damalige sowjetische Staatschef. Sein früherer Außenminister Eduard Schewardnadse im georgischen Tiflis hingegen erzählt, man habe vom Westen nichts Derartiges bekommen. Schon eine Auflösung des Warschauer Paktes, des östlichen Militärbündnisses, »lag außerhalb unserer Vorstellungswelt«.

James Baker, Schewardnadses US-Kollege von 1990, bestreitet schon seit Jahren eine Absprache; der damalige US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, hingegen sagt, Moskau habe eine »eindeutige Zusage« bekommen. Hans-Dietrich Genscher wiederum, 1990 Chef im Bonner Auswärtigen Amt, verneint genau das.

Der SPIEGEL hat mit zahlreichen Beteiligten gesprochen und vor allem britische und deutsche Dokumente gesichtet. Danach kann es keinen Zweifel geben, dass der Westen alles getan hat, den Sowjets den Eindruck zu vermitteln, eine Nato-Mitgliedschaft von Ländern wie Polen, Ungarn oder der CSSR sei ausgeschlossen.

So sprach Genscher am 10. Februar 1990 zwischen 16 und 18.30 Uhr mit Schewardnadse, und der bis vor kurzem geheim gehaltene deutsche Vermerk hält fest:

»BM (Bundesminister): Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur Nato komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen.« Und da es in dem Gespräch vor allem um die DDR ging, fügte Genscher ausdrücklich hinzu: »Was im Übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell.«

Schewardnadse antwortete, er glaube »allen Worten des BM«.

1990 war das Jahr der großen Verhandlungen. Washington, Moskau, London, Bonn, Paris, Warschau, Ost-Berlin und viele andere stritten um die deutsche Einheit, um eine umfassende europäische Abrüstung und eine neue Charta der KSZE, der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Sowjets drängten darauf, möglichst alles schriftlich zu fixieren, selbst wenn es »nur« um das Schicksal sowjetischer Soldatenfriedhöfe in Ostdeutschland ging. Doch ausgerechnet zum Thema Ausdehnung der Nato nach Osteuropa findet sich in den zahlreichen Abkommen kein Wort.

Moskau könne keine Ansprüche erheben, argumentiert deshalb die westliche Seite. Schließlich habe man nichts unterschrieben.

Hart, aber auch fair?

Anfang 1990 war die Sowjetunion noch eine Weltmacht, deren Truppen an der Elbe standen, und in Ost-Berlin regierte der frühere Dresdner SED-Bezirkschef Hans Modrow. Doch der Zusammenbruch des ostdeutschen Staates war abzusehen.

Die Bonner Verbündeten in Paris, London und Washington trieb die Frage um, ob ein geeintes Deutschland bereits Mitglied der Nato sein könne oder - wie schon zuvor in der Geschichte - eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West verfolgen werde.

Genscher wollte diese Unsicherheit beenden, und so bekannte er sich am 31. Januar in Tutzing in einer großen Rede zum Westen. Deshalb solle auch ein geeintes Deutschland der Allianz angehören.

Doch wie konnte man die sowjetische Führung für eine solche Lösung gewinnen? »Ich wollte ihnen über die Hürde helfen«, sagt Genscher heute. Also versprach der Bonner Außenminister in Tutzing, »eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion heran«, werde es nicht geben. Ostdeutschland sollte nicht in die mi-

litärischen Strukturen der Nato einbezogen werden und den Ländern Osteuropas die Tür zum Bündnis verschlossen bleiben.

Genscher erinnerte sich, was 1956 beim Ungarn-Aufstand passiert war. Teile der Aufständischen hatten verkündet, sie woll-

ten dem westlichen Bündnis beitreten, und Moskau damit den Vorwand für ein militärisches Eingreifen geliefert. Bonns Außenminister wollte Gorbatschow signalisieren, dass er eine solche Entwicklung im roten Imperium nicht zu fürchten brauchte. Der Westen wolle den Wandel mit der Sowjetunion gestalten - und nicht gegen sie.

Der Genscher-Plan, der in Tutzing verkündet wurde, war weder mit dem Kanzler noch mit den Verbündeten abgestimmt, um deren Unterstützung der Mann aus Halle in den folgenden Tagen warb.

Der Außenminister habe sich in jener Zeit mit »der Vorsicht eines Rieseninsekts bewegt, das mit seinen vielen Fühlern das Umfeld abtastet, bereit, zurückzuzucken, wenn es Widerstand spürt«, schrieb später Genschers Bürochef Frank Elbe.

US-Außenminister Baker, ein pragmatischer Texaner, »erwärmte sich sofort für den Vorschlag«. Am 2. Februar saßen die beiden Außenminister in Bakers Arbeitszimmer in Washington vor dem Kamin, legten die Jacketts ab und die Beine hoch und diskutierten den Lauf der Welt. Rasch herrschte Einigkeit. Keine Nato-Ausdehnung nach Osten. »Das war völlig klar«, berichtet Elbe.

Kurz darauf schloss sich der britische Außenminister Douglas Hurd dem deutsch-amerikanischen Konsens an. Genscher war gegenüber dem vergleichsweise deutschfreundlichen Briten ungewöhnlich offen, als sie sich am 6. Februar 1990 in Bonn trafen. Das zeigt ein bislang unbekanntes Dokument aus dem Auswärtigen Amt. In Ungarn standen die ersten freien Wahlen an, und der Bonner Außenminister erklärte, die Sowjetunion »brauche die Sicherheit, dass Ungarn bei einem Regierungswechsel nicht Teil des westlichen Bündnisses werde«. Das müsse man dem Kreml zusichern. Hurd stimmte zu.

Doch war an eine Zusage mit Ewigkeitswert gedacht? Offenbar nicht, denn als die beiden Kollegen über Polen sprachen, meinte Genscher den britischen Akten zufolge, falls Warschau eines Tages den Warschauer Pakt verlasse, müsse Moskau die Gewissheit haben, dass Polen »nicht am nächsten Tag der Nato beitritt«. Den Beitritt mit einem zeitlichen Abstand scheint Genscher hingegen nicht ausgeschlossen zu haben.

Es lag nahe, dass Genscher seine Ideen nun in Moskau präsentieren würde. Er war der dienstälteste westliche Außenminister, sein Verhältnis zu Gorbatschow und Schewardnadse ungewöhnlich gut, besser als das Helmut Kohls, und es war seine Initiative. Doch Baker wollte das Thema bei seiner nächsten Moskau-Reise lieber selbst ansprechen.

Unumstritten ist, was der US-Außenminister am 9. Februar 1990 im prachtvollen Katharinensaal des Kreml erklärte. Das Bündnis werde seinen Einflussbereich »nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen«, falls die Sowjets der Nato-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland zustimmten. Darüber werde man nachdenken, meinte Gorbatschow und fügte hinzu, ganz gewiss sei eine »Expansion der Nato-Zone inakzeptabel«.

Auch 20 Jahre später reagiert Gorbatschow noch empört, wenn er auf diese Episode angesprochen wird: »Man kann sich auf die amerikanischen Politiker nicht verlassen.« Denn Baker verbreitet inzwischen eine andere Lesart seines Auftritts. Er habe 1990 doch nur über Ostdeutschland gesprochen, das eben einen Sonderstatus im Bündnis erhalten sollte. Über mehr nicht.

Dabei hatte Genscher einen Tag später im Gespräch mit Schewardnadse seinerseits ausdrücklich auf Osteuropa Bezug genommen, schließlich entsprach es der Logik der westlichen Position, auch über Osteuropa zu reden.

Wenn man schon Ostdeutschland einen besonderen Status in der Nato zuerkennen wollte, um die sowjetische Führung nicht zu provozieren, dann musste die Zusage einer Nichterweiterung im Osten erst recht Länder wie Ungarn, Polen und die CSSR einschließen, die direkt an die Sowjetunion grenzten.

Als die westlichen Politiker einige Wochen später wieder unter sich waren, redeten sie denn auch Tacheles, wie aus einem jetzt zugänglich gewordenen Dokument des Auswärtigen Amtes hervorgeht. Es sehe so aus, »als wollten sich zentraleuropäische Staaten der Nato anschließen«, meinte Baker. Das sei eine Frage »an der wir gegenwärtig nicht rühren sollten«, antwortete Genscher. Baker stimmte zu.

Die Staatenlenker von damals sind heute ältere Herren, bisweilen fällt die Erinnerung schwer, und natürlich wollen sie alle in den Geschichtsbüchern gut dastehen. Gorbatschow will nicht derjenige sein, der es damals versäumte, das Tor zur Osterweiterung der Nato fest zu verschließen; Genscher und Baker wollen nicht den Vorwurf auf sich ziehen, sie hätten mit Moskau über die Köpfe von Polen, Ungarn oder Tschechen hinweggedealt. Und Schewardnadse sieht in der Erweiterung der Nato schon lange »nichts Schreckliches« mehr. Kein Wunder, denn sein Heimatland Georgien will Nato-Mitglied werden.

Damals war die Interessenlage eine andere. Bonn und Washington planten, die deutsche Einheit so schnell wie möglich voranzutreiben. Wenige Tage nach den Gesprächen im Kreml trafen Genscher, Baker und Schewardnadse erneut zusammen, dieses Mal gemeinsam und zudem noch mit allen Außenministern der Nato- und der Warschauer-Pakt-Staaten.

Bei der Abrüstungskonferenz im umgebauten ehemaligen Hauptbahnhof der kanadischen Hauptstadt Ottawa saßen und standen auf den Korridoren und in den Nebenzimmern die beiden deutschen Außenminister - für die DDR noch der Honecker-Mann Oskar Fischer - mit den Kollegen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und berieten in diversen Konstellationen den weiteren Lauf der deutschen Dinge. Am Ende stand fest: Die äußeren Aspekte der Einheit wie die Bündnisfrage oder die Größe der Bundeswehr sollten in sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen geklärt werden.

Genscher sagt heute, alles Wichtige hätte in diesem Forum thematisiert werden müssen, und dort sei über einen Ausschluss einer Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer nie gesprochen worden, was die Beteiligten durchweg bestätigen.

Und Genschers Äußerungen gegenüber Schewardnadse am 10. Februar 1990?

Das sei »ein Abtasten« vor den eigentlichen Verhandlungen gewesen, um herauszufinden, wie Moskau in der Bündnisfrage stand und ob es Spielräume gab. Mehr nicht.

Das ist die offizielle Position. Aber nicht die einzige.

Ein Diplomat des deutschen Außenamts sagt, natürlich habe es einen Konsens beider Seiten gegeben. In der Tat: Die Sowjets hätten sich wohl kaum auf die Zweiplus-Vier-Verhandlungen eingelassen, wenn sie gewusst hätten, dass die Nato später Polen, Ungarn und andere Länder Osteuropas aufnehmen würde.

Auch so waren die Verhandlungen mit Gorbatschow schwierig; immer wieder beteuerten westliche Politiker, man werde aus der Lage »keine einseitigen Vorteile ziehen« (US-Präsident George Bush), und es werde »keine Verschiebung des Kräfteverhältnisses« zwischen Ost und West geben (Genscher). Zumindest auf den Geist der Absprachen von 1990 könnte sich Russland heute mit einigem Recht berufen.

Ende Mai 1990 stimmte Gorbatschow schließlich der Bündnismitgliedschaft eines geeinten Deutschlands zu. Aber warum ließen sich Gorbatschow und Schewardnadse die Zusagen nicht schriftlich geben, als sie noch alle Trümpfe in der Hand hielten? Antwort des einst mächtigen Generalsekretärs: »Anfang 1990 bestand noch der Warschauer Pakt. Allein die Vorstellung, die Nato würde sich auf Länder dieses Bündnisses ausdehnen, klang damals vollkommen absurd.«

Manche westliche Spitzenpolitiker gewannen den Eindruck, der Kreml-Chef und sein Außenminister verweigerten sich der Realität und wollten den Niedergang der Sowjetunion als Großmacht »nicht wahrhaben« (Baker).

Auf der anderen Seite gehörte das Baltikum noch zur Sowjetunion; eine Nato-Mitgliedschaft schien Lichtjahre entfernt. Und in manchen Teilen Osteuropas waren friedensbewegte Dissidenten an der Macht wie Václav Havel, der zunächst nicht nur den Warschauer Pakt, sondern am liebsten auch die Nato aufgelöst hätte.

Keine osteuropäische Regierung strebte in jener Frühphase in die Nato, und das westliche Bündnis dachte nicht daran, neue Mitglieder aufzunehmen. Zu teuer, eine unnötige Provokation Moskaus, und sollten im Fall des Falles französische, italienische oder deutsche Soldaten ihr Leben für Polen und Ungarn opfern?

Doch dann zerfiel 1991 die Sowjetunion; der Bosnien-Krieg mit seinen hunderttausend Toten ließ überall die Angst vor einer Balkanisierung Osteuropas ansteigen. Und in den USA suchte ab 1993 der neue Präsident Bill Clinton nach einer neuen Aufgabe für das westliche Bündnis.

Auf einmal wollten alle in die Nato, und bald wollte die Nato auch alle aufnehmen.

Der Streit um die Geschichte konnte beginnen. UWE KLUßMANN, MATTHIAS SCHEPP,

KLAUS WIEGREFE

* Im Februar 1990 in Moskau.

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