STEUERN Absurder Sprung
Die Typenbezeichnung läßt den Laien auf russische Panzermodelle schließen: 1 600 heißt die eine, T 602 die andere.
Doch hinter dem griffigen Kürzel verbirgt sich kein martialisches Kriegsgerät, sondern feinsinniges Rechenwerk: T 600 und T 602 sind die Prototypen eines neuen Einkommensteuertarifs, mit dem die Bonner wohl demnächst das Bundesvolk beglücken werden.
Beide Tarif-Modelle brächten, was die Opposition im Verein mit Verbänden aller Schattierungen immer lautstärker fordert: eine Entlastung der 28 Millionen Lohn- und Einkommensteuerzahler, die mit ihren Abgaben inzwischen über 40 Prozent der Steuern aufbringen.
Noch zieren sich aber die Regierenden. Zu Recht bezweifeln sie inzwischen, daß kräftige Steuersenkungen für eine florierende Konjunktur sorgen werden. Die Sozialliberalen können darauf verweisen, daß die Steuern erst vor vier Monaten um insgesamt rund 11 Milliarden gesenkt wurden und daß dennoch die Wirtschaft nicht in Trab kam.
Zurückhaltung zeigt vor allem Hans Matthöfer, der neue Hausherr im Finanzministerium, der sich um die Finanzierung seines 200 Milliarden schweren Haushalts sorgt. Ein neuer Steuertarif würde ein Loch von zehn bis zwanzig Milliarden Mark in die öffentlichen Kassen reißen.
Und dennoch: Wenn auch niedrigere Lohnsteuern nicht die Gewähr für mehr Wirtschaftswachstum bieten, die Regierenden werden kaum umhin können, den Steuerdruck zu lindern. Experten im Finanzministerium wie die beiden Staatssekretäre Rolf Böhme und Manfred Lahnstein sind längst davon überzeugt, daß Hans Matthöfer den Pressionen nachgeben und die Steuern senken muß. Ein Matthöfer-Beamter prophezeit: »Das kommt wie das Amen in der Kirche.«
Ungewiß ist nur der Termin. Regierungsamtliche Steuerplaner visieren den 1. Januar 1980 an, termingerecht für das Jahr der Bundestagswahl. Die Opposition hat hingegen eine Kampagne gestartet, um die Sozialliberalen schon ein Jahr früher zu einer Revision der Steuertarife zu treiben. Franz Klein, finanzpolitischer Berater des rheinlandpfälzischen CDU-Finanzministers Johann Wilhelm Gaddum, meint: »1979 gibt"s einen neuen Tarif. Den Druck hält die Regierung gar nicht aus,
Denn allzu flott wachsen jene Beträge, die dem Bürger von Lohn und Gehalt abgezogen werden. 1977 warf die Lohnsteuer noch 90 Milliarden ab; wird der Tarif nicht geändert, dann waren es 1982 schon 160 Milliarden.
Die Steuerschraube wird von Jahr zu Jahr einen Dreh härter angezogen. Nach einer fiskalischen Faustregel bringt ein Prozent mehr Lohn eine Lohnsteuer-Erhöhung von zwei Prozent -- die Lohnsteuer wächst doppelt so schnell wie die Löhne.
Für diesen Effekt sorgt die Progressionswirkung des Einkommensteuertarifs. Denn immer mehr Bundesbürger wachsen in jene Gehaltssphären, in denen für jede mehr verdiente Mark höhere Steuern zu zahlen sind.
Diese sogenannte »Progressionszone« beginnt für ledige Bundesbürger jetzt oberhalb von 16 000 Mark steuerpflichtigem Jahreseinkommen, für Verheiratete jenseits von 32 000 Mark. Wer weniger verdient, versteuert sein Geld zu einem einheitlichen Prozentsatz von 22 Prozent.
Dieser »Proportionaltarif« sollte nach dem Sinn der bundesdeutschen Einkommensteuer eigentlich der Normaltarif sein. Und 1958, bei der Einführung des Proportionaltarifs, wurden tatsächlich auch 95 Prozent der Bürger nach dem Einheitssatz besteuert.
Doch seit langem schon schmälert der Progressionstarif nicht mehr allein jene Einkommensteile, »welche das übliche Verbrauchseinkommen deutlich übersteigen«, wie es 1958 in der Bonner Begründung des Steuerreform-Entwurfs hieß. Inzwischen ist die progressive Einkommensteuer eine Massensteuer.
Trotz der Steuerreform von 1975 zahlte 1976 jeder Dritte progressiv steigende Abgaben auf Lohn und Gehalt; und wenn nichts geschieht, dann werden 1980 sechzig Prozent der Steuerzahler Opfer der progressiven Steuer sein.
Das Übel wird noch verschlimmert durch einen Konstruktionsfehler, den die Sozialliberalen 1975 in ihr verkorkstes Steuer-Reformwerk einbauten. Wer seither die Proportionalzone verläßt, also mehr als 16 000 oder 32 000 Mark verdient, der wird mit seiner Gehaltserhöhung schlagartig auf einen Steuersatz von 30,8 Prozent katapultiert.
Der absurde Sprung trifft vor allem Arbeiter und Büropersonal -- ledige Werktätige mit Bezügen von rund 1700 Mark monatlich oder Verheiratete mit Monatsgehältern von etwa 3400 Mark.
Gerade nach den jüngsten Tarifabschlüssen merkten wieder viele Bürger auf ihren Gehaltsstreifen, welch üblen Streich ihnen die Sozialliberalen spielten: Sind sie durch die Lohnerhöhung aus der Proportionalzone herausgewachsen, so straft sie der Fiskus, indem er von dem Aufschlag fast ein Drittel wieder wegrafft.
Nahziel der Tarifbastler im Bonner Finanzministerium war daher, den unsinnigen Tarifsprung von 22 auf 30,8 Prozent zu beseitigen. Das geschah im Reformtarif T 600, bei dem die Steuersätze oberhalb der Proportionalzone zukünftig schrittweise und nicht mehr ruckartig ansteigen.
Der Effekt ist beachtlich. Muß zum Beispiel ein Lediger mit 2000 Mark Monatsgehalt heute 462 Mark Lohnsteuer zahlen, so käme er beim T 600 mit 422 Mark hin. Bei höheren Einkommen macht sich die Entlastung noch deutlicher bemerkbar. Ab 48 000 Mark Jahreseinkommen sprängen im Jahr 818 Mark Steuerersparnis heraus.
Für die Staatskassen würde dieses Geschenk allerdings teuer: Die Beamten des Finanzministeriums taxieren die Steuerausfälle, die beim T 600 für 1980 einzuplanen wären, auf satte elf Milliarden Mark.
Dabei wollen sich die Sozialdemokraten noch nicht einmal mit Steuerermäßigungen nach dem T 600 abfinden; sie haben noch prächtigere Präsente im Korb -- und das mit gutem Grund.
Würde nämlich nur der abrupte Tarifsprung in die Progressionszone beseitigt, dann bliebe der Eingangs-Steuersatz von 22 Prozent erhalten. All jene Kleinverdiener, deren Jahreseinkommen unter 16 000 Mark (Ledige) und 32 000 Mark (Verheiratete) liegt, gingen bei dieser Steuersenkung leer aus -ausgerechnet die klassische SPD-Klientel hätte das Nachsehen. SPD-MdB Wolfgang Roth befindet daher: »Das ist für uns völlig unakzeptabel.«
Annehmbar hingegen ist für die Genossen der T 602, bei dem der niedrigste Steuersatz bereits bei 18 Prozent liegt, der ohne Proportionalzone allmählich ansteigt (siehe Graphik). Eine Familie mit einem Monatseinkommen um 2200 Mark, der beim T 600 kein Pfennig geschenkt würde, hätte beim T 602 immerhin 664 Mark Steuern im Jahr weniger zu zahlen.
Der einzige Haken dieser universalen Volksbeglückung ist ein gewaltiges Einnahme-Minus. Matthöfers Experten errechneten für 1980 Mindereinnahmen von 23 Milliarden Mark -- doppelt soviel wie bei der Version T 600 und noch acht Milliarden Mark mehr, als die Steuerreform 1975 kostete.
Für die freidemokratische Steuerexpertin im Bundestag, Ingrid Matthäus-Maier. steht denn auch fest: »Das sind völlig unvertretbare Steuerausfälle.«
Daß den Liberalen die billigere Version des T 600 genehm ist, erscheint durchaus verständlich: Ihre Mittelstandsklientel wäre damit bestens bedient. Doch ebenso offenkundig ist, daß die SPD-Spitze ein solch unausgewogenes Steuerstück nicht präsentieren könnte -- weder ihren Mitgliedern noch ihren Wählern.
Woher sie allerdings die Milliarden für die Steuersenkung nehmen wollen, wissen die Sozialdemokraten nicht. Daß sie dafür ausgerechnet im Wahljahr 1980 einige der zahllosen Subsidien und Privilegien streichen werden, ist kaum zu erwarten.
So bleibt, neben einer erneuten Anhebung der Mehrwertsteuer, nur jene Finanzierungsmethode, die in den letzten Jahren zunehmend hoffähig wurde: Der Staat macht um einige Milliarden Mark mehr Schulden.