DIPLOMATEN Achse der Aussitzer
Die jüngste Krise zwischen Deutschland und dem Jemen begann am 23. Juni 2006 - nicht in Berlin, nicht in Aden oder Sanaa, diese Krise begann morgens um acht auf dem Flur der Ausländerbehörde Kassel, vierter Stock. Auf der einen Seite warteten an jenem Freitagvormittag 22 Jemeniten, alle ohne gültige Papiere. Und auf der anderen stand ein ziemlich nervöser Herr, der allen Grund hatte, nervös zu sein, weil er nämlich gleich lügen würde: der jemenitische Diplomat Mohammed al-Rueini, Mitarbeiter des Frankfurter Konsulats der Republik Jemen.
Wie in einem Kriminalfall luden die hessischen Beamten die Ausländer zur Gegenüberstellung mit Rueini. Welcher von den 22 denn nun Jemenit sei, fragten die Deutschen, und ob er Namen kenne, Geburtsorte, damit seine Botschaft Papiere beschaffen könne, für die Abschiebung in den Jemen. Doch obwohl die Behördenleute den Diplomaten extra in einem der besten Kasseler Hotels untergebracht hatten, um die Kooperation zu befördern, wollte er nicht einen seiner Landsleute erkennen. Mehr noch: Das eine könne er ganz sicher sagen, von denen da sei auf jeden Fall »keiner« jemenitischer Staatsbürger.
Der Märchenonkel von Kassel löste damit einen diplomatischen Eklat aus, wie ihn die Bundesrepublik in der Vergangenheit nur ungern mit einem Staat riskiert hat: Rueini musste Deutschland im September verlassen, weil ihm die hiesigen Beamten mit aufgezeichneten Telefonaten und diversen Originalurkunden nachweisen konnten, dass er systematisch die Rückführung jemenitischer Flüchtlinge torpediert hat - offenbar mit Deckung seines Außenministeriums. Auch ein zweiter Konsularbeamter musste auf Druck der Bundesregierung gehen.
Dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) den beiden Diplomaten tatsächlich den Gang in die Heimat nahelegen ließ, wirkt in der sonst so stillen wie stilvollen Welt der Diplomatie wie eine lautstarke Protesthandlung. Steinmeier hat es offenbar satt, immer wieder Botschafter einbestellen zu müssen, die alles tun, um die Identifizierung von Landsleuten und damit ihre Abschiebung zu verhindern. Und er hat genug von den Versprechungen, künftig werde alles besser, aber keine vier Wochen später beschweren sich doch wieder die Ministerialen aus den Bundesländern bei ihm, sie würden mit ihren Abschiebe-Kandidaten weiter hingehalten. Erwischt hat es zwar nun den Jemen, gemeint sind damit aber auch alle anderen Länder, die auf einer schwarzen Liste der deutschen Ministerialbehörden stehen, im Regierungsjargon »Problemstaatenliste« genannt.
Die Achse der Aussitzer reicht von Kuba über Algerien bis Pakistan, von China über Ägypten bis nach Liberia. Die unter Verschluss gehaltene Sünderkartei umfasst 29 Länder, und sie umfasst das ganze Repertoire an Tricksereien, mit denen man sich die lästigen Deutschen mit ihren nervigen Abschiebungen vom Hals zu halten vermag.
Dazu gehört zum Beispiel die Forderung Burkina Fasos, vor der Heimreise müsse der Ausländer erst mal eine bis zu dreijährige Ausbildung in Deutschland bekommen, nicht zu vergessen 10 000 Euro, damit ihm der Start zu Hause leichter falle. Eritrea wiederum verlangt drei Zeugenaussagen von Landsleuten in Deutschland, dass der Kandidat wirklich aus Eritrea kommt. Wo man nun diese drei eritreischen Zeugen auftreibt, die noch dazu älter als 40 Jahre sein müssen? Nicht das Problem der Diplomaten.
Als baden-württembergische Beamte mal einen verurteilten Mörder beim eritreischen Konsulat in Frankfurt vorführen wollten, hatten sie ebenso Pech wie bayerische Kollegen mit einem Serientäter bei der äthiopischen Vertretung in Berlin: Der äthiopische Botschafter war angeblich nicht da, und bei den Eritreern kamen die Deutschen nicht mal am Pförtner vorbei - obwohl die Termine fest vereinbart waren.
Auch Nigeria verweigerte 2005 einfach monatelang Vorführungen in der Botschaft.
Begründung: Die Deutschen behandelten Nigerianer immer so schlecht, wofür es zwar mitunter tatsächlich Anzeichen gab, was aber kaum als dauerhaftes Argument im zwischenstaatlichen Umgang taugt. Als die Botschaft den Stopp wieder aufhob, stieg der Tarif pro Vorführung von 130 auf 250 Euro.
In der Vertretung von Aserbaidschan soll der Preis für gewünschte Angaben monatelang noch deutlich höher gelegen haben - allerdings nicht für die deutschen Behörden, sondern für Aserbaidschaner, die nicht abgeschoben werden wollten. Für angeblich 1500 Euro, so Hinweise, die bei den Ausländerbehörden eingingen, hätten sie sich eine Bescheinigung kaufen können - eine Art Bakschisch fürs Bleiberecht. Aus dem Papier ging dann hervor, dass man zwar in Aserbaidschan geboren sei, aber wundersamerweise trotzdem kein aserbaidschanischer Staatsbürger, Abschiebung ausgeschlossen. 114 solcher Fälle stellten die Ausländerbehörden fest.
Meistens allerdings bremsen die Problemstaaten deutsche Behörden nicht mit Schikanen, sondern durch schlichtes Nichtstun aus. So stellten die Deutschen bei den Vertretungen im ersten Halbjahr 2005 rund 6700 Anträge mit dem Ziel, entweder neue Pässe zu besorgen oder in Interviews die wahre Herkunft von Ausländern auszuforschen. Doch auf gut die Hälfte der Anträge kam mehr als sechs Monate lang keine Antwort aus den Botschaften und Konsulaten.
Besonders lange dauert es zum Beispiel bei der Elfenbeinküste, Pakistan oder Ägypten, so lange, dass ein offenbar sarkastisch veranlagter Beamter die »Überprüfungsdauer« in der Problemstaatenliste zum Teil mit einer umgekippten »8« vermerkt hat - das mathematische Kürzel für unendlich.
Nicht unendlich, aber immerhin neunstellig sind die Kosten, die jedes Jahr nach Schätzung der Ausländerbehörden entstehen, weil die Botschaften sich querstellen. Bei 68 865 Flüchtlingen aus Problemstaaten, so die amtliche Hochrechnung in der Liste, erreichen allein die vom deutschen Fiskus zu tragenden Lebensunterhaltskosten rund 410 Millionen Euro im Jahr. Und auch, wenn die Zahl von 505 verhinderten Abschiebungen jemenitischer Flüchtlinge angesichts historisch niedriger Asylzahlen und rigider deutscher Prüfverfahren kaum ins Gewicht fällt - die Sabotage von Staats wegen ist ein Affront im diplomatischen Gewerbe, den sich keine Regierung gefallen lassen will.
Schon im März 2005 hatte sich der jemenitische Botschafter im Auswärtigen Amt deswegen einen Rüffel abgeholt. Natürlich versprach er Besserung, aber von 18 deutschen Anträgen blieben im ersten Halbjahr 2005 trotzdem 17 mindestens ein halbes Jahr lang unbearbeitet liegen. Seit gut einem Jahr ermitteln nun die hessischen Behörden gegen die Vertreter des Konsulats in Frankfurt.
Mühsam trugen die deutschen Fahnder Indizien für die systematische Verweigerung zusammen, der Verfassungsschutz schaltete sich ein. Schließlich zapften die Ermittler sogar Telefone an - bei Diplomaten ein höchst heikles Vorgehen, das zeigt, wie hoch der Leidensdruck sein muss. In bis zu hundert Fällen stellten sich Mohammed al-Rueini und sein Kollege Ali al-Thaur bei der Identifizierung dumm. Mal behaupteten sie, der Flüchtling sei Äthiopier, kein Jemenit; in anderen Fällen tippten sie auf Somalier oder Eritreer.
Deutsche Ermittler vermuten, dass es sich um einen Freundschaftdienst für die Flüchtlinge gehandelt haben könnte, die hier bleiben wollten. Möglich aber auch, dass sich der Jemen ungeliebte Bürger auf Abstand halten wollte, in Deutschland eben. Außerdem stärken dort verdiente Devisen, die nach Hause geschickt werden, die heimische Wirtschaft.
So oder so ist aus dem Fall nun ein Exempel geworden. Die Bundesregierung will zeigen, dass sie solche Obstruktion nicht länger tatenlos hinnimmt, auch nicht beim Jemen, obwohl dort immer mal wieder Deutsche entführt werden und das Auswärtige Amt für solche Fälle dringend auf gute Beziehungen angewiesen ist.
Kaum hatten die Hessen ihr Ermittlungsdossier nach Berlin geschickt, bestellten Steinmeiers Ministeriale am 28. August deshalb den jemenitischen Botschafter Yahya Ali Mohamed al-Abjadh ein. Die Jemeniten revanchierten sich: Schon einen Tag später musste in Aden der deutsche Botschafter Frank Marcus Mann zum Rapport bei Außenminister Abubakr Abdullah al-Kirbi antreten. Der schlug aber nur den üblichen Weg vor: unauffällige Bereinigung, bloß kein Aufsehen. Ein jemenitischer Spitzenbeamter könne doch mit dem nächsten Flugzeug nach Deutschland kommen und das Nötige regeln.
Doch Steinmeiers Diplomaten, sonst Meister der leisen Lösung, dachten diesmal nicht an Zurückhaltung - zu offensichtlich lag der Fall. In der ersten Septemberwoche sprach ein deutscher Spitzenbeamter beim stellvertretenden jemenitischen Außenminister vor und legte nach: ein dickes Dossier, das die gravierendsten Fälle akribisch ausbreitete. Der Jemen, so der Diplomat, sei auf der ganzen Linie »unkooperativ«, die überführten Konsularbeamten Mohammed al-Rueini und Ali al-Thaur ziehe die Regierung in Aden besser zurück.
Danach wurde der Fall im Jemen zum Politikum. Die Regierung hat die deutschen Anschuldigungen offiziell zurückgewiesen, sie basierten »auf fragwürdigen Quellen« - als ob die Protokolle der abgehörten Telefonate nicht eindeutig wären. Die deutsche Regierung, gifteten die Diplomaten in Sanaa, wolle mit ihrer Forderung, die Konsularbeamten abzuziehen, Einfluss auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen nehmen - eine, wie es in Berlin heißt, »abstruse Unterstellung«.
Auch ein Gipfeltreffen zwischen Steinmeiers Staatssekretär Georg Boomgaarden und dem jemenitischen Minister für internationale Zusammenarbeit, Abdulkareem al-Arhabi, brachte keinen Kompromiss. Schließlich, Ende September, gab der Jemen endlich auf, räumten Rueini und Thaur ihre Abwehrstellung in Frankfurt am Main. Die beiden Diplomaten, die in so vielen Fällen verhindert hatten, dass Landsleute in die Heimat zurückfliegen mussten, flogen selbst zurück nach Hause. JÜRGEN DAHLKAMP, HOLGER STARK