»ACHT PROZENT SIND NICHT ZUVIEL«
SPIEGEL: Herr Dr. Irmler, wie ist die wirtschaftliche Lage der Nation im Herbst 1969? Können die Bundesbürger damit rechnen, daß auch künftig die Wirtschaft auf vollen Touren läuft und dennoch die Preise einigermaßen stabil bleiben?
IRMLER: Unsere wirtschaftliche Lage ist durch einen Boom gekennzeichnet, wie wir ihn bisher seit der Währungsreform noch nicht gehabt haben. Die Nachfrage geht erheblich über das Angebot hinaus. Die Auftragsbestände der Industrie haben eine Rekordhöhe erreicht und entsprechen einer Produktion von schätzungsweise vier bis fünf Monaten. Die Lieferfristen wachsen ständig. Was freilich die Preise betrifft, so ist wenig Optimismus angebracht.
SPIEGEL: Sind die Zeiten der relativ stabilen Preise endgültig vorbei?
IRMLER: Wir sind mitten in einer starken Kostensteigerung. Die Lohnerhöhungen gehen wesentlich über den Produktivitätsfortschritt hinaus.
SPIEGEL: Haben sich die Arbeitnehmer mit den Lohnerhöhungen -- im vierten Quartal 69 wachsen die Effektivlöhne pro Kopf gegenüber dem gleichen Vorjahrs-Zeitraum voraussichtlich um 12,5 Prozent -- nicht einfach ihren gerechten Anteil an der Prosperität unserer Wirtschaft geholt?
IRMLER: Das ist sicher ein Nachholprozeß, der gerecht ist von der Seite der Arbeitnehmer her gesehen, der aber doch nicht ohne Auswirkungen auf die Preise bleiben kann. Denn in einer Übernachfrage werden Unternehmer natürlich Lohnerhöhungen als Feigenblatt -- wenn ich das so sagen darf -- benutzen, um die Preise heraufzusetzen. So ist damit zu rechnen, daß wir Preissteigerungen noch vor uns haben.
SPIEGEL: Ist diese verfahrene Situation von der alten Regierung verschuldet worden?
IRMLER: Ich halte den Ausdruck »verfahrene Situation« für etwas zu hart. Es ist ein nicht rechtzeitig gebremster Boom. Und es ist eine Lehrbuchweisheit, daß ein Boom, wenn er nicht rechtzeitig gebremst wird, Preiskonsequenzen hat. Der darauffolgende Abschwung kann dann härter sein, als es eigentlich notwendig wäre. Ohne Zweifel hätten wir uns durch eine rechtzeitige und deutliche Aufwertung -- sagen wir vor einem Jahr -- einen guten Teil dieser Preis- und Kostenwelle ersparen können.
SPIEGEL: Kann die bevorstehende offizielle Aufwertung die Preisflut noch eindämmen? Ist es für eine Aufwertung nicht schon zu spät?
IRMLER: Der optimale Zeitpunkt für eine Aufwertung ist sicher verpaßt. Die Kostenwelle ist schon in Gang. Aber inwieweit sie auf die Preise durchschlägt, hängt von den wirtschaftspolitischen Maßnahmen ab, unter anderem von dem Aufwertungssatz.
SPIEGEL: In den letzten sechs Monaten stiegen die Lebenshaltungskosten um zwei Prozent. Wird sich diese Teuerung 1970 fortsetzen?
IRMLER: Der Preissteigerungssatz dürfte über dem liegen, den wir in diesem Jahr haben.
SPIEGEL: Wie wir hören, visiert Minister Schiller einen Aufwertungssatz von acht Prozent an. Halten Sie diesen Satz für vertretbar und angesichts der konjunkturpolitischen Situation für ausreichend?
IRMLER: Ich möchte mich zur Höhe des »richtigen« Aufwertungssatzes nicht äußern. Die genannten acht Prozent scheinen mir aber nicht zu weit zu gehen, andererseits vermutlich auch erforderlich zu sein.
SPIEGEL: Können damit die Unternehmer schon zur Preisdisziplin gezwungen werden?
IRMLER: Ein Aufwertungssatz in der von Ihnen genannten Höhe wird sicherlich den Preisauftrieb dämpfen, aber nicht sofort.
SPIEGEL: Wie lange wird es dauern, bis diese Konjunkturbremse zieht?
IRMLER: Das ist schwer zu sagen, das dauert sicher einige Zeit und hängt im übrigen von der binnenwirtschaftlichen Konjunkturpolitik ab; Ruhe an der Preisfront wird es jedenfalls nicht geben.
SPIEGEL: Werden also die Nominal-Lohnerhöhungen durch die Inflation aufgezehrt?
IRMLER: Sie werden sicherlich nicht ganz aufgezehrt werden. Wieweit sich die Lohnquote erhöht, also die Einkommensverteilung zugunsten der Arbeitnehmer verbessern wird, ist davon abhängig, ob und wie sehr die Unternehmer daran gehindert werden können, die Preise zu erhöhen.
SPIEGEL: Sie würden gehindert durch eine Aufwertung und eine weiterhin restriktive Kreditpolitik.
IRMLER: Ja, allerdings muß man im Auge behalten, daß wir keine Stagnation riskieren dürfen. Man muß ein angemessenes Wirtschaftswachstum nach wie vor sichern. Das bedeutet, daß man die Entwicklung der Daten sehr sorgfältig beobachten muß, damit die Kredit- und Fiskalpolitik rechtzeitig gelockert werden kann.
SPIEGEL: Wäre die Bundesbank bereit, bei einer Aufwertung um acht Prozent ihre konjunkturdämpfende Hochzinspolitik, die sie bisher einschlagen mußte, sofort aufzugeben?
IRMLER: Ich bin nur eines von 20 Mitgliedern des Zentralbankrates. Aber ich bin der Meinung, daß man mit der Lockerung angesichts der Übernachfrage, die jetzt herrscht, vorsichtig sein muß. Man kann auf keinen Fall am Tag der Aufwertung gleich grundlegend umschalten.
SPIEGEL: Halten Sie es für wahrscheinlich, daß eirige exportintensive Branchen durch die Aufwertung subventionsbedürftig werden?
IRMLER: Sie werden jedenfalls Absicherungen begehren. Und zwar werden wohl nicht nur die exportintensiven Branchen, sondern auch solche Wirtschaftszweige, die einer starken Importkonkurrenz ausgesetzt sind, um Hilfe rufen. Aber man sollte sehr vorsichtig sein mit solchen flankierenden Maßnahmen.
SPIEGEL: Wie ist es mit den Bauern?
IRMLER: Im Prinzip befindet sich meiner Meinung nach die Landwirtschaft in keiner sehr viel anderen Lage als andere deutsche Wirtschaftszweige, deren Erlöse ja durch die Aufwertung auch entweder am Steigen gehindert oder reduziert werden. Man sollte also mit Sondergesetzen für die Landwirtschaft vorsichtig sein und etwaige Hilfsmaßnahmen von vornherein befristen.
SPIEGEL: Was würden Sie davon halten, wenn der deutsche Wirtschaftsminister auf wertet und gleichzeitig den Arbeitnehmer-Freibetrag bei der Lohnsteuer verdoppelt, die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer langsam abbaut und mit Spritzen aus dem Bundeshaushalt die Infrastruktur verbessert?
IRMLER: Ich halte weder gezielte noch generelle flankierende Maßnahmen im Augenblick für notwendig. Denn die derzeitige Übernachfrage bedarf der Dämpfung, wenn überhaupt eine Chance bestehen soll, den Preisauftrieb einigermaßen in Grenzen zu halten. Die Aufwertung darf also nicht sofort wieder durch Gegenhalten konterkariert werden.