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Kanada Adler abschießen

Die Kanadier besinnen sich auf sich selbst -- oder auf das, was von Kanada übriggeblieben ist: Ein großer Teil gehört den Amerikanern. Amerikas Nixon, Staatsgast in Ottawa, wurde beschimpft.
aus DER SPIEGEL 17/1972

Als Richard Nixon durch Ottawa fuhr, erinnerte manches an seine Ankunft in Peking: Die Straßen der kanadischen Hauptstadt waren am vergangenen Donnerstag durch Schneeraumkommandos gesäubert worden und fast menschenleer -- wie acht Wochen vorher in Peking.

Nicht kanadische Sauberkeit, sondern kanadische Sorgfalt ließ die Behörden der Hauptstadt ihre Schneewehen beseitigen: Sie fürchteten Bomben unterm Schnee. Der 37. Präsident der USA wurde im benachbarten und offiziell befreundeten Kanada unter

Sicherheitsvorkehrungen empfangen, die strenger waren als beim Besuch von Sowjet-Premier Kossygin, Oktober 1971.

Denn im April 1972

scheinen viele Kanadier ihre lang angestauten Emotionen gegen Amerika und den amerikanischen Präsidenten nicht mehr beherrschen zu können. Bislang »heimgesucht von den zentrifugalen Kräften des Separatismus« ("Business Week"), besinnen sich die Kanadier auf sich selbst -- oder auf das, was von Kanada übriggeblieben ist, und das ist nicht viel.

Amerikanische Geschäftsleute haben in Kanada insgesamt über 110 Milliarden Mark investiert -- 30 Prozent der gesamten Auslandsinvestitionen der USA. Amerikaner kontrollieren: > 95 Prozent der kanadischen Automobil-Industrie;

* 90 Prozent der Elektro-Industrie; > 85 Prozent der Gummi-Industrie; > 85 Prozent des Bergbaus;

* 75 Prozent der Transportunternehmen und der Erdöl-Industrie und > 60 Prozent der chemischen Industrie.

Die USA importieren 68 Prozent det Gesamtausfuhren Kanadas und versorgen das Nachbarland zu 75 Prozent mit dem, was es vom Ausland einführt. Aus diesen Zahlen erklärt sich die Verbitterung, mit der Regierung und Öffentlichkeit in Kanada auf die Weigerung Nixons reagierten, Kanada im vergangenen Herbst von den -- mittlerweile wieder abgeschafften -- zehnprozentigen Einfuhrzöllen in die USA auszunehmen. Trudeau über US-Finanzminister Connally: »Wer braucht noch Feinde, wenn er Minister Connally zum Freund hat.«

Über 75 Prozent aller in Kanada verkauften Zeitschriften kommen aus Amerika. Über sieben Zehntel des gesamten Fernsehprogramms Werden in den Vereinigten Staaten produziert.

Niedrige Preise und eine schöne, kaum umweltverschmutzte Landschaft verlockte auch kleine US-Kapitalisten. sich »ein Stück Kanada zu kaufen« ("Newsweek"). In Motorbooten mit qualmendem Auspuff sprinten sie vom amerikanischen Ufer über die Großen Seen -- in die US-Fabriken Ihre Abwasser fließen lassen. Allein in Ontario« Kanadas reichster Provinz, besitzen Amerikaner nach amtlichen Schätzungen bereits 40 000 der 315 000 Weekend-Grundstücke.

35 Prozent aller in Kanada angestellten Professoren sind Amerikaner. Einheimische Hochschullehrer protestieren gegen die Fremden. Henry Beissel, einer der Gründer der Professoren-Bewegung »National Canadianization Commitee": »Wir wollen den Adler, das Symbol unkanadischer Arroganz, abschießen.«

110000 amerikanische Deserteure und Wehrdienstverweigerer belasten den ohnehin schwierigen kanadischen Arbeitsmarkt: Kanada hat rund 7,5 Prozent Arbeitslose.

Die Kanadier wehren sich mit der lautesten Werbekampagne ihrer Geschichte. Sie zeigt dennoch, wie hilflos das Land gegenüber dem starken Nachbarn ist: Vor den Geschäften mahnen Aufrufe »Buy Canadian«, aber in den Auslagen werden fast ausschließlich Produkte amerikanischer Firmen feilgeboten.

Doch das erst 1970 gegründete »Komitee für ein unabhängiges Kanada« hat immerhin schon 170000 eingetragene Mitglieder. Es vereint Spitzenpolitiker aller führenden Parteien unter dem roten Ahornblatt, dem Wahrzeichen Kanadas, und organisiert den vaterländischen Widerstand.

Wenn die Regierungen der Provinzen Manitoba« Saskatchewan und Alberta Dienstwagen kaufen. boykottieren sie die amerikanischen Autokonzerne General Motors, Chrysler, Ford und American Motors. Rundfunk- und Fernsehsender wurden verpflichtet, »künftig kanadischen Eigenproduktionen mehr Sendeminuten einzuräumen. Als zwei Rundfunksprecher zu einer Unterschriftenaktion gegen das unterirdische Atombombenexperiment der USA auf Amchitka aufriefen, unterschrieben 180 000 Bürger. Ihre Namen wurden in einem 800 Meter langen Telegramm an das Weiße Haus nach Washington geschickt.

Unter dem Druck der nationalistischen Stimmung und der für Oktober erwarteten Parlamentswahlen wagt es kaum noch ein Politiker, für Amerika zu sein. Premier Pierre Elliott Trudeau, dessen Popularität von 60 Prozent im Jahre 1970 auf mittlerweile 36,8 Prozent gesunken ist, hat deshalb eine »Canada Development Corporation« gegründet und mit einem Betriebskapital von etwa sieben Milliarden Mark ausgerüstet. Ausschließlicher Zweck der Gesellschaft: vom Verkauf an amerikanische Interessenten bedrohte kanadische Firmen im Besitz von Kanadiern zu halten.

Mit solchen Beträgen allerdings kann Kanada seinen amerikanischen Bauch nicht abhungern: 160 Milliarden Mark, so rechnete »Business Week« aus, würde es kosten, das »Land von den Amerikanern zurückzukaufen«.

Als Amerikas John F. Kennedy 1961 vor dem kanadischen Parlament ausrief: Geographie machte uns zu Nachbarn, Geschichte zu Freunden. Handel machte uns zu Partnern und Notwendigkeit zu Verbündeten«, wurde er von Beifall unterbrochen. Als Präsident Nixon jetzt zum kanadischen Parlament fuhr, wurde er von Studenten beschimpft.

Angestellte von Funk und Fernsehen weigerten sich, den Nixon-Besuch zu übertragen. ihr Gewerkschaftschef Pednault: »Wir sorgen dafür, daß die kanadische Öffentlichkeit Nixons Visage nicht sehen muß.«

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