GESUNDHEIT Ärzte auf Montage
Der Mann lag bereits auf dem OP-Tisch, die Narkose hatte ihn sanft wegdämmern lassen, der Chirurg begann mit seiner Arbeit. Da schaute sich der Anästhesist um, wo denn das spezielle Medikament sei, das dieser Patient, ein Asthmatiker, zwecks besserer Sauerstoffversorgung unbedingt brauchte. Ein Mittel, das zur Standardausrüstung eines jeden Operationssaals gehört. Normalerweise.
Der erfahrene Narkosearzt konnte sich behelfen, und der Patient hatte Glück. Doch seither ist der Potsdamer Anästhesist Nicolai Schäfer vor jedem Arbeitstag besonders sorgfältig, wenn er seinen Arztkoffer mit Medikamenten und medizinischem Gerät packt.
Die Umsicht hat auch etwas mit Schäfers Arbeitsplatz zu tun, denn der wechselt mitunter täglich. Der 45-Jährige nennt sich Leiharzt und arbeitet auf Honorarbasis. Heute an der Ostsee, morgen im Bergischen Land bei Köln und in der nächsten Woche an der polnischen Grenze.
An die 4000 solcher Ärzte auf Montage gibt es inzwischen in deutschen Kliniken, und es werden ständig mehr. Wegen des Ärztemangels und der strenger gewordenen Arbeitszeit-Vorschriften können viele Krankenhäuser ihren Betrieb ohne kurzfristig angeheuertes Personal nicht mehr aufrechterhalten. Betroffen sind nicht nur die kleinen Klitschen, selbst viele Universitätskliniken können auf solche Leihdoktoren nicht mehr verzichten.
Von einem »Mangel-Phänomen« spricht Karl Lauterbach (SPD); der Mediziner ist seit kurzem gesundheitspolitischer Sprecher der SPD im Bundestag. Er sieht die Zunahme von Leihpersonal und Honorarkräften in Krankenhäusern mit Sorge: »Viele bieten nicht den Standard, den Bürger in Deutschland erwarten, wenn sie zur Behandlung ins Krankenhaus gehen.«
Viele dieser Mediziner seien bereits älter und hätten nicht in ihre Weiterbildung investiert, andere seien wegen Suchtproblemen oder schlechter Leistungen gekündigt worden. Und die größte Gefahr sieht Lauterbach in Ärzten aus dem Ausland, deren Ausbildung oft nicht genüge. Oder die am Ende gar keine Ärzte sind. In seinem Institut für Gesundheitsökonomie an der Kölner Uni-Klinik bewarb sich ein ukrainischer Arzt. »Wir haben uns seine Zertifikate angeschaut und fanden heraus, dass die medizinische Fakultät, an der er sie erworben haben wollte, gar nicht existiert.«
Solche Scharlatane fallen schon im normalen Krankenhausalltag nicht immer auf, wechselt der Arbeitsplatz aber alle paar Tage, haben sie eine gute Chance, unentdeckt zu bleiben. »Wir brauchen bessere Zugangskontrollen für ausländische Ärzte«, fordert deshalb Lauterbach, viele Ärztekammern würden deren Papiere nur oberflächlich kontrollieren. Auch die staatlichen Zulassungsstellen, die die Berufserlaubnis erteilen, müssten gründlicher prüfen. Die laxe Kontrolle ist besonders in strukturschwachen Gegenden mit hohem Ärztedefizit gefährlich.
Allein im kleinen Brandenburg arbeiten bereits 450 Mediziner aus dem Ausland. Kliniken aus Sachsen-Anhalt, wo rund 310 Krankenhausärzte fehlen, suchen neuerdings Fachärzte auf Jobmessen in Bulgarien. »Wir wollen nicht mit dem Lasso einen bulgarischen Arzt von der Straße holen«, sagt Gösta Heelemann von der Krankenhausgesellschaft in Sachsen-Anhalt, aber die Personalnot zwinge zu neuen Wegen.
Geschichten zwielichtiger Mediziner-Importe hört Michael Weber, 42, nicht gern. Der Arzt sitzt mit seiner Firma »Hire a Doctor« in einem Berliner Altbau am Prenzlauer Berg. Seine Konkurrenten heißen »Doc-to-Rent« oder »Facharztagentur«. Die Idee dazu brachte Weber aus England mit. Seit fünf Jahren ist er jedes Jahr mit seiner Firma umgezogen, weil die Büroräume zu klein wurden. Inzwischen beschäftigt er zehn Mitarbeiter, die die Ärztevermittlung organisieren.
»Wir sehen uns die Kollegen sehr genau an und legen großen Wert auf Rückmeldungen unserer Auftraggeber«, beteuert Weber. Seit Firmengründung hätte es nur unbedeutende Zwischenfälle gegeben; ein ruinierter OP-Tisch war der gravierendste, weil ein Honorararzt mit der komplizierten Technik nicht zurechtkam.
Anästhesisten wie er selbst gehören derzeit zu den gefragtesten Fachärzten: »Der Mangel diktiert den Preis, und der fängt bei Narkoseärzten bei 70 bis 80 Euro in der Stunde im Tagesdienst an«, sagt Weber. Gelegentlich »verleiht« er sich selbst, um in der Übung zu bleiben.
Mindestens 50 Euro Stundenlohn verdienen Ärzte der Inneren Medizin, Chirurgie und Gynäkologie. Pathologen und Labormediziner würden nur selten nachgefragt. Die Gehälter von Chefärzten werden frei verhandelt. Der Wandel auf dem Gesundheitsmarkt führt dazu, dass sich in das lukrative Geschäft der Ärztesuche schon große Beratungsfirmen wie Kienbaum eingeschaltet haben, vorerst noch beschränkt auf Führungskräfte. Ein Drittel des zukünftigen Jahresgehalts kostet die erfolgreiche Vermittlung eines Chefarztes, für einen Oberarzt in der Radiologie gibt es rund 8000 Euro Honorar.
Auf Webers Internetplattform haben sich über 5000 Ärzte eingetragen, die von Job zu Job hoppen wollen. Zwei Drittel seiner Freelancer sind männlich; entweder recht junge Fachärzte oder deutlich über 40.
Doch warum geben viele Mediziner wirtschaftliche Sicherheit und betriebliche Altersversorgung auf, wo es doch mehr als genug feste Jobs gibt? Die Zahl der Stellenanzeigen im »Deutschen Ärzteblatt« nimmt kontinuierlich zu. Und längst werden Ärzte mit immer besseren Extras gelockt: Gewinnbeteiligung, Dienstwohnung, klinikeigener Kita, Promotions- und Habilitationsförderung und der Möglichkeit, durch Gutachtertätigkeiten hinzuzuverdienen.
»Vielen Ärzten fehlt die Wertschätzung ihrer Arbeitgeber«, sagt Weber. Ältere stünden oft vor dem Burn-out, fühlten sich verschlissen vom Kampf gegen Bürokratie und Hierarchien. »Der tägliche Kleinkrieg, die zunehmende Stechuhrmentalität nerven«, sagt Anästhesist Schäfer, der im vergangenen Jahr den Bundesverband der Honorarärzte gegründet hat. In einer Umfrage will er jetzt die Motivation seiner Kollegen noch intensiver ergründen.
So viel weiß er schon jetzt: Viele der jüngeren Kollegen nutzten die freiberufliche Zeit zur Orientierung, sie können sich so das Krankenhaus aussuchen, in dem sie Karriere machen wollen. Die gute Bezahlung, Leihärzte kämen leicht auf 10 000 Euro im Monat, entschädige auch für wenig attraktive Einsatzorte in der Provinz.
»Vagabundierende Ärzte können inzwischen fast jeden Preis verlangen«, ärgert sich Oliver Dilcher, Tarifsekretär bei der Gewerkschaft Ver.di. Das gehe zu Lasten von Pflege- und Servicekräften im Krankenhaus, die immer weiter ausgelagert und im Preis gedrückt würden. »Die Stimmung in den Belegschaften ist so schlimm, wie ich es noch nie erlebt habe«, behauptet der Arbeitnehmervertreter und sieht »gruselige Zeiten auf die Patienten zukommen«.
Die Missstände sind bekannt, werden aber gern verschwiegen. Wohin es führen kann, wenn sich Ärzte im Krankenhausbetrieb nicht so genau auskennen, zeigt eine zunächst rätselhafte Todesserie im sächsischen Hoyerswerda. Drei Frauen starben dort innerhalb kurzer Zeit im Kreißsaal eines Krankenhauses, weil den Patientinnen statt Sauerstoff Lachgas verabreicht worden war. Ein diensthabender Anästhesist war ein Reisearzt, der von Klinik zu Klinik wechselte und den Fehler nicht bemerkt hatte.
Nach einer Studie der Uni Innsbruck gehen zehn Prozent der Todesfälle in der Anästhesie auf solche Verwechslungen zurück. Gerade bei Krisen im OP-Saal muss jeder Handgriff sitzen. Ist der Mediziner nicht mit den Geräten vertraut, können Minuten verlorengehen, die über das Leben des Patienten entscheiden.
Womöglich ist das ein Grund, warum Kliniken die Beschäftigung von Aushilfspersonal wie ein Betriebsgeheimnis hüten. Weber spricht von einem »Tabuthema«. Große Krankenhausbetreiber wollten dem SPIEGEL nicht einmal bestätigen, dass sie auf Honorarkräfte zurückgreifen.
Bei den Wiesbadener Dr. Horst Schmidt Kliniken war die Geschäftsleitung offener. »Wegen der strengeren Arbeitszeitvorschriften standen wir 2007 vor der Entscheidung, das Gesetz zu brechen oder es bei Engpässen mit Honorarärzten zu versuchen«, erklärt Personalleiterin Marlies Schivelbein-Nural. Die 24 Fachkliniken des Wiesbadener Betriebs genießen einen guten Ruf. Die Stadt hat einen hohen Freizeitwert - und doch sind auch hier Fachärzte schwer zu bekommen. »Der Markt für Anästhesisten ist leergefegt, auch Neurologen sind Mangelware«, sagt die Personalchefin.
Die ersten Fremdärzte übernahmen dort zunächst die meist ungeliebten Bereitschaftsdienste, nachts und an den Wochenenden. Seit Anfang 2009 werden sie auch für den normalen Dienst gebucht. »Wir haben gute Erfahrungen gemacht«, sagt die Personalchefin. Fünf bis zehn Prozent Fremdpersonal hält sie für vernünftig, noch liegen die Wiesbadener darunter.
In weniger reichen Gegenden Deutschlands ist die Schwelle längst überschritten. »Wenn man sich morgens um sieben im OP trifft und keiner kennt sich wirklich aus, dann wird mir mulmig«, bekennt Arzt-Vermittler Weber.
Von »echten Katastrophen« berichtet Honorararzt-Funktionär Schäfer. Kürzlich habe er in einem Krankenhaus in Brandenburg gearbeitet, wo die gesamte Mannschaft auf Zeit angeheuert war und die wenigsten Deutsch konnten: »In so ein Krankenhaus möchte ich selbst nicht eingeliefert werden.« UDO LUDWIG, BARBARA SCHMID