GEMEINSAMER MARKT / GEHEIMDIENST Äußerst heikel
Belgiens Geheimdienstier müssen -- laut einer Anzeige im Staatsanzeiger -- »eine Mindest-Sehschärfe von 1/10 im einen und 3/10 im anderen Auge« haben. Mit diesen Luchs-Augen erspähten die belgischen James Bonds der »Sûreté Publique« (Öffentliche Sicherheit) eine deutsch-tschechische Verschwörung.
Am 26. März stoppten sie den deutschen EWG-Zoll-Experten Karl-Eugen Ahrens, 38. Auf der Fahrt ins Büro, 100 Meter von seiner Wohnung Vestenstraat 44 im Brüsseler Vorort Tervuren, wurde der Ahrens-Fiat 124 gleich von drei »Süreté-Autos blockiert. Sechs Männer sprangen heraus. Sie zerrten den kleinen, schmalgebauten Bürokraten aus seinem Fiat und stießen ihn in einen ihrer Wagen.
Ahrens hatte zu einer Sachverständigen-Konferenz über Zollfragen in das EWG-Gebäude »Charlemagne« fahren wollen. Statt dessen schafften ihn die Geheimdienstier ins Verhörzimmer des »Süreté« -Büros an der Brüsseler Rue aux Laines 5.
Später stellte der EWG-Vertrauensarzt bei Ahrens Oberarmverletzungen fest. Wegen Verrenkung der Schulter mußte sich der Deutsche außerdem von einem Facharzt behandeln lassen.
Per Brief beschwerte sich der Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, der Belgier Jean Rey, beim Außenminister seines eigenen Landes über die »Süreté-Manieren. Die Geheimdienstler hatten nämlich -- erstmals in der Geschichte des Gemeinsamen Marktes -- gegen das dem EWG-Vertrag angehängte Protokoll über »Vorrechte und Befreiungen« ausländischer Eurokraten verstoßen.
Nach diesem Protokoll dürfen EWG-Beamte
* »weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden«, wenn sie (wie Ahrens) in amtlicher Eigenschaft tätig sind;
* nur über das Außenministerium zu einem Verhör bei Justiz-Dienststellen vorgeladen werden, vor allem wenn dabei dienstliche Details zur Sprache kommen können;
* in den »Räumlichkeiten und Gebäuden der Gemeinschaft« nicht von Belgiens Justizbeamten behelligt werden.
Dennoch war bereits am 19. März ein »komisch aussehender Mann« (so ein EWG-Bote) im sechsten Stock des EWG-Gebäudes »Archimède« erschienen, in dessen Zimmer 7 Beamter Ahrens arbeitet. Der Besucher bat den Flurboten, er möge noch vor Dienstbeginn einen Brief auf den Schreibtisch des Herrn Ahrens legen.
Entgegen der Vorschrift, Ladungen nur über das Außenministerium zu schicken, wurde Ahrens in dem Brief -- Kopf; »Ministère de la Justice« -- für den nächsten Tag zu einem Verhör in Zimmer 24 des »Süreté-Büros beordert. Der Abteilungschef von Ahrens, der Deutsche Klaus Pingel, gab dem Beamten die Erlaubnis, zu dem Verhör zu gehen,
Im »Süreté-Center befragte dann ein Geheimdienstier namens Straal den Zoll-Beamten über dessen Kontakte zu dem Handelsattaché Havlik von der Tschechoslowakischen Botschaft in Brüssel.
Ahrens hatte den Tschechen bei Konferenzen des 54 Mitgliedstaaten zählenden »Brüsseler Zollrats« kennengelernt. Ahrens und Havlik entdeckten privaten Gleichklang: Beide lieben Musik. Beamter Ahrens ist aktiver Tenor im Chor der Europäischen Gemeinschaften.
Berufliches und die Musik führten die beiden in drei Jahren insgesamt siebenmal zusammen. Außerdem reiste Ahrens mit Frau im Frühjahr 1966 zum Musikfestival »Prager Frühling« in die tschechoslowakische Hauptstadt. Dort hatte er Kontakt mit der Professorin Tomsowa, deren Spezialität, Rechtsvergleichung, auch das Studienfach von Ahrens ist. Die Professorin bekam später von Frau Ahrens eine nur im Westen erhältliche Strumpfhose zugeschickt.
Zoll, Musik und Strumpfhose genügten für das Verhör von Ahrens. Geheimdienstler Straal gab freilich vor, der Beamte werde »keineswegs der Spionage verdächtigt«. Er wolle von Ahrens vor allem wissen,
* ob er die tschechische Philharmonie für besser halte als die belgische (Ahrens: »Ja");
* ob er -- »da wir Männer ja unter uns sind« (Straal) -- ein Verhältnis mit der Prager Professorin habe (Ahrens: »Nein");
* was er über private und dienstliche Handlungen seines Vorgesetzten Pingel, des bereits vor zwei Jahren wieder in das Bonner Finanzministerium zurückgekehrten Beamten Richter und des belgischen EWG-Kollegen Dubols sagen könne (Ahrens: »Nichts");
was er außerdem über seine Zollarbeit in der EWG-Behörde zu erzählen habe.
Geduldig lehrte Ahrens die Geheimdienstier die komplizierte europäische Zollmaterie: Die rund 8000 Eurokraten starke Europa-Dienststelle hat keine Geheimnisse.
Es war bereits sechs Uhr abends, als Geheimmann Straal die ganztägige Vernehmung noch einmal per Schreibmaschine festhalten wollte. Ahrens protestierte: Er müsse jetzt ins Büro.
Straal: Das sei unbedeutend, denn Geheimdienstchef Caeymaex habe von Präsident Rey die Zustimmung zu einem Verhör bekommen. Ahrens: Das wolle er dann selbst von Rey erfahren. Wenn ja, sei er bereit, am nächsten Tag zum Unterschreiben des Protokolls zurückzukommen.
Ahrens kam am nächsten Tag nicht. Denn Reys Stellvertretender Kabinettschef Hoven hatte ihm telephonisch mitgeteilt: »Ich habe mit Rey gesprochen, Sie sollen nicht mehr hingehen.« Diese Entscheidung übermittelte Ahrens dem Geheimdienstier Straal gleichfalls telephonisch. Der drohte: »Wir werden uns trotzdem noch einmal wiedersehen.«
Zu diesem Wiedersehen wollten drei Geheimdienstier den Beamten bereits vier Tage später überreden. Mit einem amerikanischen Straßenkreuzer (Nummer: 6 GO 34) blockierten sie ihm die Ausfahrt aus der Garage seiner Wohnung und baten um »eine Sekunde«. Ahrens beteuerte. er habe jetzt keine Sekunde. Die Herren möchten ihm in seine Behörde folgen. Die Herren folgten nicht,
Statt dessen kamen sie am nächsten Morgen mit drei Autos und sechs
* Auf einem Empfang mit dem Sänger Hermann Prey.
Mann Besatzung wieder und kidnappten ihn mit den Worten: »Gestern haben Sie Ihre letzte Chance gehabt.«
Als Ahrens erwiderte, sein Präsident Rey habe ihm die weitere Mitarbeit bei einem Verhör untersagt, meinte einer der Kidnapper: »Ihr Präsident geht mich einen Dreck an.«
Im »Süreté«-Büro verlangte Geheimdienstmann Straal, Ahrens solle nunmehr das Protokoll unterschreiben. Ahrens hingegen begehrte, zuerst seinen Chef Pingel zu informieren. Das geschah. Pingel alarmierte sofort den Präsidenten Rey, und Rey verlangte die sofortige Freilassung seines Beamten Ahrens.
Die Geheimmänner aber drängten ihren Beute-Beamten weiter, er solle unterschreiben. Schließlich unterschrieb er. Ahrens später:,, Ich war eingeschüchtert worden durch die Gewaltanwendung.«
Bereits am nächsten Tag standen vor der Wohnung von Ahrens-Chef Pingel in der Avenue Sainte Anne 31 Geheimdienstier, die jeden Vorgang notierten, so den Besuch des dienstlich nach Brüssel gereisten Ministerialrats Hahnfeld vom Bonner Finanzministerium.
Auch Geheimdienst-Chef Caeymaex griff ein. Er riet dem Brüsseler SPIEGEL-Korrespondenten von Recherchen über das Kidnapping ab. Caeymaex: »Die Sache ist äußerst heikel.«