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STERBEHILFE Äußerste Zweifel

Eklat auf dem Rehabilitationskongreß in Karlsruhe: Schwerbehinderte holten Hans Henning Atrott, den Chef der »Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben«, vom Podium. *
aus DER SPIEGEL 13/1988

Dem Redner verschlug es die Rede. 15 Rollstuhlfahrer stürmten das Podium und bemächtigten sich des Mikrophons. Einer der Besetzer ergriff das Wort für alle: »Wir wollen leben, wir dulden es nicht, daß Euthanasie im Gewand der Sterbehilfe wiederauflebt.« Der Referent sah sich hilfesuchend um. Dann nahm er sein Manuskript und verließ schimpfend den Saal.

Der Eklat auf der Fachmesse für Rehabilitationshilfen ("Rehab 88") in Karlsruhe am Mittwoch letzter Woche machte deutlich: Hans Henning Atrott, Geschäftsführer der »Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben« (DGHS), hat zunehmend Mühe, sein humanitäres Anliegen in der Öffentlichkeit glaubhaft zu machen.

Nach Atrotts Abtritt verabschiedete das Plenum eine Resolution. Darin werden die Bundesminister Rita Süssmuth und Hans Engelhard aufgefordert, gegen das »organisierte und kommerzialisierte Tötungsgeschäft« der DGHS vorzugehen, die 50 Jahre nach der Euthanasie der Nazis wieder die Tötung »lebensunwerten Lebens« betreibe, die sich rühme, jährlich 2000 bis 3000 Menschen mit einer Selbstmordanleitung zu versehen, und die bislang mindestens fünf Behinderte durch die Vergabe von Zyankali »umgebracht« habe.

Atrott hatte im September letzten Jahres der querschnittgelähmten Karlsruher Studentin Ingrid Frank eine tödliche Dosis Zyankali zustellen lassen (SPIEGEL 8/1988). Ein Vierteljahr später starb in Karlsruhe die gelähmte Bankangestellte Dinah Friedmann, bekannt geworden unter dem Pseudonym »Daniela«, an einem DGHS-Giftcocktail. In den Wochen danach registrierte die DGHS täglich rund 100 Aufnahmeanträge. Für das laufende Geschäftsjahr wird mit etwa einer Million Mark Umsatz gerechnet.

»Um zu verhindern, daß Atrott weiterhin mit seinen Zyankalitütchen in der Bundesrepublik herumreist«, erstattete am Dienstag letzter Woche Lothar Evers, Geschäftsführer der »Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie« (DGSP), Strafanzeige wegen des Verdachts der unterlassenen Hilfeleistung sowie fortgesetzter Straftaten gegen das Leben. Aktueller Anlaß war der Tod der an multipler Sklerose erkrankten 46jährigen Cäcilia Koenen aus Oberscheidweiler an der Mosel. Frau Koenen, genannt Lia, war am Dienstag vorletzter Woche in ihrem Bett im Trierer Pflegehospiz »Echternacher Hof« tot aufgefunden worden. Die Obduktion ergab als Todesursache Vergiftung durch Zyankali.

Tags darauf gab Atrott bekannt, das Gift habe Cäcilia Koenen von einer luxemburgischen DGHS-Mitarbeiterin erhalten. Doch an der Existenz der großen Unbekannten, so sagt Hospizdirektor Hans Pilgram, habe das Pflegepersonal »äußerste Zweifel«. Frau Koenen sei in den Tagen vor ihrem Tod mindestens zweimal von einem Mann im Alter zwischen 40 und 50 Jahren besucht worden. Ein weibliches Wesen sei jedoch nicht beobachtet worden.

Unabhängig von der Strafanzeige der Sozialpsychiater ermittelt die Staatsanwaltschaft Trier in diesem Fall gegen Atrott wegen des Verdachts auf Tötung auf Verlangen. Der Sterbehelfer will anhand zweier Photos den Beweis erbringen, daß die Todeskandidatin das Gift ohne fremde Hilfe genommen habe. Auf einem der zwei Bilder schlürft Frau Koenen im Bett mit einem abgeknickten Strohhalm eine Flüssigkeit aus einem Becher. Das zweite Photo zeigt sie ebenfalls im Bett mit schreckerstarrten Zügen und aufgerissenem Mund.

Die Kriminalpolizei untersucht derzeit, warum eines der beiden Bilder offenbar mit Blitz-, das andere aber bei Tageslicht aufgenommen wurde und warum Frau Koenen auf dem einen Photo ein gestreiftes, auf dem anderen ein unifarbenes Nachthemd trägt.

Nicht in Zweifel steht diesmal der grundsätzliche Suizidwunsch der Patientin. Ihr Bruder, der Polizist Hans Koenen aus Koblenz, sagt, sie habe ihn sogar gebeten, sie mit Hilfe seiner Dienstwaffe von ihrem Leiden zu erlösen.

Hans Henning Atrott war schon kurz nach seinem ersten Besuch in Trier aktiv geworden, obwohl die DGHS sogar ihre Sterbebroschüre angeblich erst nach einjähriger Wartefrist an zahlende Mitglieder versendet. Koenen: »Es ging plötzlich alles sehr schnell.« Die Angehörigen erfuhren nichts. Sie konnten sich nicht einmal mehr verabschieden.

Das Recht der Patientin, ihrem Leben ein Ende zu setzen, wird ihr von niemandem bestritten. Auch die als reformfreudig bekannte Psychiatrie-Gesellschaft versteht sich zum Recht auf einen humanen Tod. Sie wendet sich aber gegen »kühl kalkulierte . . . Schau-Suizide« von Atrotts »Todesschwadronen«.

Sogar der Trierer Hospizdirektor Pilgram, ein der katholischen Morallehre verpflichteter aktiver Katholik, hat Verständnis für Frau Koenens Todeswunsch. Doch die Vermarktung ihres Elends durch die DGHS stößt auf einhellige Ablehnung. »Liebe Lia«, rief ein schwer Sklerose-Kranker bei der Trauerfeier an Cäcilia Koenens Grab, »es tut uns weh, wie dein Tod vermarktet wird.«

Per »Todes-Interview mit Cecilia K.«, exklusiv in »Bild am Sonntag«, hatte Atrott die Todeskandidatin zu Wort kommen lassen. Frage: »Hat Sie jemand von der DGHS in irgendeiner Hinsicht beeinflußt?« Nein, natürlich nicht, antwortete Frau Koenen. Und auf Atrotts Frage, ob sie der Nachwelt eine Botschaft auszurichten und ob sie Dank abzustatten habe: Aber gewiß doch, Atrotts »humane Gesellschaft . . . die soll man nie angreifen dürfen«.

Das wird, wenn Atrott wahr macht, was er in der Illustrierten »Bunte« angekündigt hat, über kurz oder lang auch nicht mehr nötig sein. Irgendwann, so der Sterbehelfer im »Bunte«-Interview, »hau' ich nach Australien ab. In 10 bis 15 Jahren, wenn meine Existenz gesichert ist«.

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