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Affäre Filbinger: »Was Rechtens war ...«

Das Todesurteil, das der einstige Militärjurist und heutige baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger 1945 gegen einen Soldaten erwirkte, beschäftigt Richter wie Politiker. Christdemokraten sehen Filbingers Chancen schwinden, Bundespräsident zu werden. Sozialdemokraten kritisieren sein »pathologisch gutes Gewissen«.
aus DER SPIEGEL 20/1978

Am 16. März 1945, sieben Wochen vor Kriegsende, stand der wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilte deutsche Matrose Walter Gröger mit verbundenen Augen auf dem Richtplatz der Festung Akershus in Oslo. Aus dem Protokoll:

Der leitende Offizier las dem Verurteilten die Urteilsformel und die Bestätigungsverfugung vor. Der Verurteilte erklärte nichts. Der Geistliche erhielt letztmalig Gelegenheit zu Zuspruch. Das Vollzugskommando von 10 Mann war fünf Schritte vor dem Verurteilten aufgestellt. Das Kommando »Feuer« erfolgte um 16.02 Uhr. Der Verurteilte starb um 16.04 Uhr. Der Sanitätsoffizier stellte den Tod um 16.0? Uhr fest. Die Leiche wurde durch das Wachpersonal gesargt und zum Zwecke der Bestattung abtransportiert.

Der leitende Offizier bei der Vollstreckung war derselbe Mann, der als Staatsanwalt im Feldkriegsgericht die Todesstrafe gegen den Marinesoldaten Gröger beantragt und so die Mitverantwortung zur Verschärfung eines voraufgegangenen milderen Urteils, acht Jahre Zuchthaus, übernommen hatte. Sein Name steht unter dem Protokoll: Dr. Hans Filbinger. damals Marinestabsrichter, heute Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

Daß Filbinger »ein so »furchtbarer Jurist' gewesen« sein soll, kam letzte Woche vor dem Stuttgarter Landgericht zur Sprache; verhandelt wurde eine Klage Filbingers gegen den Schriftsteller Rolf Hochhuth, der sich solcher und ähnlicher Wendungen über Filbinger ("Er ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten") bedient. »Der Fall Gröger«, meinte Filbingers Anwalt in diesem Zusammenhang, spiele »in diesem Verfahren gar keine Rolle«, den könne man »hier vergessen«.

Der Anwalt irrt. Der Fall Gröger hat sich fortentwickelt zur Affäre Filbinger und beschäftigt nicht mehr nur Prozeßteilnehmer. Das SPD-Präsidium beauftragte letzte Woche den stellvertretenden Parteivorsitzenden Hans Koschnick, dem CDU-Vorsitzenden Kohl einen vertraulichen Brief zu schreiben: Der CDU-Chef möge im Interesse der Demokratie dafür sorgen, daß der Fall lückenlos geklärt werde. Kohl selber vor dem Präsidium der CDU: »Unangenehm, höchst unangenehm.«

Nicht nur für Filbinger, der sich zunehmend »mit Vorfällen auseinandersetzen« muß, die laut »FAZ« weit »in eine für ihn unerquickliche Zeit zurückreichen«, sondern für die Union, die vor der Landtagswahlserie dieses Jahres eine schon historische Schwachseite zeigt. Wieder einmal muß ein CDU-Chef hinnehmen, daß Männer mit Vergangenheit die Christenpartei ins Gerede bringen, wie Adenauers Staatssekretär Hans Globke, weiland NS-Rassengesetzkommentator, oder auch wie Bundespräsident Heinrich Lübke, der KZ-Baracken bauen half.

Was immer noch aus den Weltkrieg-Archiven über den Marinerichter Filbinger bekanntwerden mag -- das bislang Aufgerührte reicht der Union bereits. Nach außen hin auf Solidarität mit dem 64jährigen bedacht, der »33 Jahre danach« in den Schatten seiner Vergangenheit gerät, rücken Spitzenchristen intern ab.

»Mit diesem Mann noch einmal in den Wahlkampf ziehen?« fragen CDU-Leute im Stuttgarter Landtag sich und andere, und gewiß ist ein noch höheres Ziel nun nicht mehr erreichbar: Die Chancen, daß CDU-Filbinger mit Hilfe der CSU-Stimmen im Jahre 1979 zum Nachfolger Walter Scheels im Amt des Bundespräsidenten befördert werden könnte, bezifferte ein Strauß-Vertrauter letzte Woche auf »null-Komma-null-null«.

Zwei Fälle sind es, die Filbingers unrühmliche Rolle als Truppenrichter und Staatsanwalt deutlich machen:

* Am 29. Mai 1945, drei Wochen nach der deutschen Kapitulation, verurteilte ein in der Kriegsgefangenschaft amtierendes Gericht unter der Leitung Filbingers den 24jährigen Obergefreiten Kurt Olaf Petzold zu sechs Monaten Gefängnis, weil der seinem ebenfalls kriegsgefangenen Batteriechef im betrunkenen Zustand Schimpfworte wie »Ihr Nazihunde!« zugerufen und sich das Hakenkreuz von der Uniform gerissen hatte. Auf dieses vom SPIEGEL schon 1972 veröffentlichte Urteil (16/1972) bezog sich Hochhuth, als er Filbinger angriff und sich eine Klage (auf Unterlassung) einhandelte.

* Am 16. Januar 1945. als das Kriegsende bereits abzusehen war, beantragte Filbinger als Staatsanwalt im

zweiten -- Verfahren die Todesstrafe gegen den Matrosen Gröger, der nicht etwa Sabotage begangen oder Vorgesetzte tätlich angegriffen, sondern erwogen hatte, nach Schweden zu desertieren; er blieb der Truppe fern und traf Vorbereitungen für die Flucht, ließ aber wieder davon ab. Dieses Urteil wurde erst jetzt, unmittelbar vor der Verhandlung Filbinger/Hochhuth, publik (SPIEGEL 19/1978). Filbinger war letzte Woche bei der mündlichen Verhandlung in Stuttgart nicht zugegen, aber Hochhuth-Anwalt Heinrich Senfft sprach ihn gleichwohl in direkter Rede an: »Was haben Sie, Herr Filbinger, damals gemacht, außer Schneider-Sonette zu lesen? Müssen wir weiter nach Urteilen suchen, bis wir ein paar Eingeständnisse bekommen?«

Unfaßlich schien dem Juristen, wie Filbinger »noch immer die Stirn« habe, »sich als Antinationalsozialisten darzustellen«. Senfft: »Das wollen, das können wir einfach nicht mehr hören.«

Er bekam es prompt wieder zu hören. Gleich nach der Verhandlung ließ das baden-württembergische Staatsministerium in einer Pressemitteilung erklären, es sei »völlig verfehlt, aus den damaligen Verfahren gegen Gröger und Petzold auf eine nazistische Gesinnung des damaligen Marinestabsrichters Dr. Filbinger zu schließen«.

Mit einer Beharrlichkeit, die mittlerweile auch Kohl-Leuten in Bonn auf die Nerven geht ("Wenn er bloß weniger von sich reden würde und mehr davon, daß es ihm leid tut"), hält der Ministerpräsident an der Recht-und-Ordnung-Devise des

Marinestabsrichters fest. Bei jeder Gelegenheit läßt er wissen: »Ich konnte damals doch gar nicht anders.«

Auch wenn dem so wäre: Wollte er denn anders? »Das Vorverfahren war mir nicht bekannt«, beharrt Filbinger; und als »das erste Urteil gefällt wurde« -- acht Jahre Zuchthaus wegen Fahnenflucht -, war er »woanders«.

Auch auf das zweite Verfahren, das mit seinem Antrag auf Todesstrafe und mit dem gleichlautenden Urteil endete, hatte er »keine Einwirkung« -»null«.

»ich war abkommandiert für die Anklagebehörde und hatte Weisung zu verfahren, wie es jetzt im zweiten Urteil steht.« Der Gedanke, sich der Weisung des Flottenchefs Admiral Otto Schniewind mit dem Hinweis auf die Kriegsverfahrensordnung (SPIEGEL 19/1978) zu entziehen, ist ihm offenbar gar nicht gekommen; Befehl ist Befehl, und, so sagt Filbinger: »Eine bindende Weisung war immer ein Befehl.«

Ja -- »wenn es nicht Fahnenflucht gewesen wäre«. Filbinger, noch 1978: »Eine Truppe ist mit Leib und Leben aufeinander angewiesen. Wer den Kameraden die Hilfe versagt, gefährdet sie auch«, allemal in so heikler Lage: »Sie müssen wissen, die Wehrmacht war zu jener Zeit -- 1944/45 -- in erhöhter Abwehr nach innen und außen. Da waren die Gerichtsherren außerordentlich besorgt.«

»Im übrigen«, empfand Marinestabsrichter Filbinger damals, und so schätzt es Ministerpräsident Filbinger noch heute ein, »ging es ja nur um den Vollzug des Gesetzes, das bei Fahnen-Flucht die Möglichkeit der Todesstrafe vorsah, wenn keine mildernden Umstände dargetan werden.«

Mildernde Umstände wurden nicht dargetan, auch nicht von Filbinger, obgleich sie greifbar waren. Aber es ging nich gar nicht nur um den Vollzug des Gesetzes. Vielmehr wurde das damals geltende Gesetz mitsamt den berüchtigten »Führer-Richtlinien« im zweiten Verfahren extensiv ausgelegt, weil nun einmal auf Todesstrafe erkannt werden sollte.

Das Gesetz (Militärstrafgesetzbuch vom Oktober 1940) schrieb vor: Paragraph 69

Wer in der Absicht, sich der Verpflichtung zum Dienste in der Wehrmacht dauernd zu entziehen oder die Auflösung des Dienstverhältnisses zu erreichen, seine Truppe oder Dienststelle verläßt, oder ihnen fernbleibt, wird wegen Fahnenflucht bestraft. Paragraph 70

1. Die Strafe für Fahnenflucht ist Gefängnis nicht unter sechs Monaten.

2. Wird die Tat im Felde begangen oder liegt ein besonders schwerer Fall vor, so ist auf Todesstrafe oder auf lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus zu erkennen. Die »Führer-Richtlinien« vom April 1940 sahen vor:

Die Todesstrafe ist geboten, wenn der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr gehandelt hat oder wenn sie nach der besonderen Lege des Einzelfalles unerläßlich ist, um die Manneszucht aufrechtzuerhalten.

Die Todesstrafe ist im allgemeinen angebracht bei wiederholter oder gemeinschaftlicher Fahnenflucht, bei Flucht oder versuchter Flucht ins Ausland. Das gleiche gilt, wenn der Täter erheblich vorbestraft ist oder sich während der Fahnenflucht verbrecherisch betätigt hat.

Selbst in den »Führer-Richtlinien« sind aber auch mildernde Umstände dargetan, die Filbinger offenbar nicht gelten lassen wollte: »Eine Zuchthausstrafe wird ... im allgemeinen als ausreichende Sühne anzusehen sein, wenn jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung ... oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe für den Täter hauptsächlich bestimmend waren.«

Zwar befahl der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Dönitz, am 27. April 1943, alle Marineangehörigen seien vierteljährlich über die Folgen von Fahnenflucht »eingehend zu belehren":

Fahnenflucht kostet den Kopf. Nur sofortige freiwillige Rückmeldung innerhalb einer Woche nach der Tat ermöglicht eine mildere Beurteilung.

Aber am 1. September 1943 erklärte das Oberkommando der Kriegsmarine, um Aufhellung des »vermeintlichen Widerspruchs« zwischen den »Führer-Richtlinien« und dem Dönitz-Befehl gebeten, beide Erlasse verfolgten »einen unterschiedlichen Zweck":

Der Führererlaß gibt nur den Gerichten Richtlinien für die Strafzumessung. Der Erlaß des Oberbefehlshabers dient dagegen auch zur Unterrichtung der Truppe und Abschreckung schwankender Charaktere. Er stellt daher bewußt die schärfste Strafe in den Vordergrund. Mit ihr soll jeder Soldat, der Fahnenflucht begeht, rechnen. Ob die Todesstrafe in allen Einzelfällen angebracht ist, darüber muß zunächst der Richter entscheiden. Was damals Rechtens, humanitär geboten und, ohne eigenes Risiko, auch vertretbar war, hatte im Fall Gröger das erste Gericht vorgeführt. Es verneinte sowohl vollendete »Flucht ins Ausland« als auch, nach Tatsachenlage, die »versuchte Flucht ins Ausland«. Es hielt auch »Versuch« und »Vorbereitung« säuberlich auseinander -- wie es im Reichsstrafgesetzbuch (Paragraph 43) stand und in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vorgegeben war.

Als »Versuch« war danach etwa anzusehen: »Eindringen, um zu stehlen«, als »Vorbereitung": »Annäherung mit Einbruchswerkzeugen an das zu erbrechende Gebäude«; analog wäre der Tatbestand der »versuchten Flucht ins Ausland« etwa erfüllt gewesen, wenn die Feldjäger den Deserteur vor der Grenze abgefangen hätten.

Folgerichtig erkannte das erste Gericht: »Versuchshandlungen"« wie etwa »Auskundschaften von Wegen, Verkehrsverbindungen, Adressen«, hätten nicht festgestellt werden können -- »versuchte Flucht ins Ausland liegt demnach nicht vor«. Und Vorbereitungshandlungen waren ohnedies straffrei -- selbst wenn sich jemand in einem Park mit der Absicht auf die Lauer legt, jemanden umzubringen, seine Tatabsicht aber nicht ausführt.

Das erste Gericht wollte, vielleicht gerade wegen der aussichtslosen Kriegslage und trotz aller (sinnlosen) Appelle an Manneszucht und Durchhaltewillen, ein Menschenleben retten. Das zweite Gericht dagegen vernichtete ein Menschenleben unter Verletzung selbst des damals drakonischen Rechts.

Es nahm die Vorbereitung zur Fahnenflucht ins Ausland schon für den Versuch, ja, für die Tat: »Bei dem Angeklagten lag es auch nur an objektiv außerhalb seines eigenen Willens liegenden Umständen. daß seine Flucht nach Schweden gescheitert ist ... Dieser Umstand kann deshalb nicht dahin führen, den Angeklagten etwa milder zu behandeln, da ja seine eigene Willensrichtung dieselbe geblieben war.« Daß der angeklagte Matrose Gröger Anfang Dezember 1943 seinen Uniform-Koffer aus dem Versteck holte und aussagte, er habe sich stellen wollen, fiel nicht weiter ins Gewicht.

Die Argumentation des Urteils, so fand letzte Woche die »Zeit«, sei von »kaum zu überbietender Tücke« gewesen: Wenn man dem »Führer« folge, so das Gericht, sei »die Begriffsbestimmung über den Versuch nicht nach den Vorschriften über den Versuch im Reichsstrafgesetzbuch anzuwenden, weil es sich bei den ... Richtlinien des Führers nicht um ein Gesetz, sondern lediglich um Anhaltspunkte handelt, nach denen die Fahnenflüchtigen entsprechend ihrer Strafwürdigkeit klassifiziert werden sollen«.

Obgleich also das Gericht die Führer-Richtlinien »selber nicht für gesetzesgleich erachtete«, resümiert die »Zeit«, »schob es unter Berufung auf sie das zugunsten des Angeklagten sprechende Gesetz beiseite«. Darauf hatte seinerzeit auch Grögers Verteidiger, der damalige Marineoberstabsintendant und heutige Hamburger Rechtsanwalt Dr. Werner Schön, couragiert aufmerksam gemacht. In einem Gnadengesuch, das er eine Woche nach dem Urteil einreichte, formulierte er:

Mit der Feststellung, daß hier nicht die Begriffsbestimmungen über den Versuch gemäß den Vorschriften des Reichsstrafgesetzbuches anzuwenden seien, räumt das Gericht indirekt ein, daß nach den normalen Vorschriften, die für den Versuch einen Anfang der Ausführungshandlung verlangen, ein solcher Versuch nicht vorliegt. Das steht im Einklang mit den Feststellungen des ersten Gerichtes, das den Angeklagten nur zu einer zeitigen Zuchthausstrafe verurteilte und das Vorliegen eines Versuchs aus Rechtsgründen ablehnte. Das Gericht kommt dann zur Annahme des Versuchs auf dem Wege, daß es die »Richtlinien' nicht mit der gleichen rechtlichen Schärfe behandelt wissen will, die es dem Reichsstrafgesetzbuch als solchem zubilligt ... Es ist gar nicht einzusehen, warum mit dieser logisch durchgebildeten und in jeder Weise begründeten rechtlichen Erkenntnis nicht such an die Richtlinien des Führers herangegangen werden soll.

Die anwaltliche Anmerkung barg, »kaum kaschiert«, so die »Zeit«, den Vorwurf der Rechtsbeugung.

Ob das Kriegsgericht mit solch kurvenreicher Urteilsbegründung seinerzeit der eigenen Eingebung oder aber dem Plädoyer Filbingers folgte, ist heute nicht mehr feststellbar -- die Plädoyers wurden in freier Rede gehalten und nicht mitgeschrieben.

Filbinger jedenfalls schätzt die Sache heute ein wie im Jahre 1945. »Was damals Rechtens war«, sagt er jetzt, »das kann heute nicht Unrecht sein.« Offenkundig verfügt der baden-württembergische Ministerpräsident, wie der Sozialdemokrat Erhard Eppler es sarkastisch ausdrückt, über ein »pathologisch gutes Gewissen«.

Auf Vorhalte aus seiner Vergangenheit reagiert er jedenfalls eher betroffen -- weil er seinen immer wieder hervorgekehrten stillen Widerstand in der Hitler-Diktatur nicht hinreichend gewürdigt und verbreitet findet. So sammelte er schon vor Jahren Entlastungspapiere ein, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit verteilen läßt.

Diese Persilscheine stammen durchweg nicht von gemeinen Soldaten, wie Gröger einer war, sondern von gehobenen Verfolgten, durchweg Offizierskasino. So hat der Katholik Filbinger damals dem katholischen Militärpfarrer Karl Heinz Möbius aus der Bedrängnis, womöglich sogar aus tödlicher Gefahr herausgeholfen oder wenigstens mit herausgeholfen. Die Papiere geben da keinen letzten Aufschluß, und in einem wichtigen Punkt gibt es sogar einen kleinen Widerspruch. Daß Filbinger allerdings jemals, wie er beharrlich in Anspruch nimmt, »Leib und Leben« riskierte, erschließt sich nicht.

Militärpfarrer Möbius war am 26. Oktober 1944 von einem Feldgericht wegen Wehrkraftzersetzung in zwei Fällen zweimal zum Tode verurteilt worden. Die Entscheidung wurde zwei Monate später, am ersten Weihnachtstag, vom Oberkommando der Wehrmacht aufgehoben. »In die Zwischenzeit«, erinnert sich der Pfarrer dreißig Jahre später, »fallen die Bemühungen des Herrn Marinestabsrichters Dr. Hans Filbinger, gegen das verkündete Urteil anzugehen:«

Aus eigenem Wissen kann der Geistliche nur bekunden, daß Filbinger mit ihm über mögliche Entlastungszeugen gesprochen und ihm gegenüber eine »Verzögerungstaktik« in Sachen Weitertransport »angedeutet« habe. Fest steht aber: Möbius wurde, wie er selber mitteilte, am 26. April 1945 in Kiel-Wik »laut Verfügung des Gerichts Seekommandant. Schleswig-Holstein/Mecklenburg enthaftet«. Dort allerdings amtierte der Marinestabsrichter Filbinger mit Sicherheit nicht.

Möbius erwähnt weiter, er sei nach dem Krieg als Pfarrer beim deutschen Minenräumdienstkommando auf einen Brief seines Amtsbruders Adolf Prohaska gestoßen, aus dem hervorgehe: Filbinger, »ein Kriegsrichter, der an dem Prozeß nicht beteiligt war«, habe sich in seinem Falle »in einem Fernschreiben an das Marineoberkommando gewandt«.

Arthur Heinrichs, ein anderer Pfarrer, hat auch positive, aber etwas andere Erinnerungen: Danach veranlaßte Stabsrichter Filbinger »seinen Kollegen, der Vertreter der Anklage bei der Gerichtsverhandlung gewesen war, ein Fernschreiben an das Oberste Marinekriegsgericht in Berlin zu schicken, in dem er (Filbinger) seine Einwände gegen das Urteil darlegte«.

War der Adressat nun das Marineoberkommando, wie der eine meint, oder das Oberste Marinekriegsgericht, wie sich der andere erinnert -- hat Filbinger selber niedergeschrieben oder schreiben lassen? Daß die Zeugen vom Hörensagen Filbinger-Briefe selbst gelesen haben, geht aus den Papieren nicht hervor. Aber immerhin: Im Fall des Militärpfarrers Möbius erhob Filbinger, so oder so, Vorstellungen, die er im Fall des Matrosen Gröger rundheraus für nicht möglich erklärt. Außer auf Möbius beruft Filbinger sich gern auf einen Reserveoffizier der Marine-Artillerie, namens Dr. Johannes Stuhlmacher, der noch weiß: Filbinger habe für den Korvettenkapitän Gustav-Adolf Prößdorf, der zu vier Wochen »Stubenarrest« verurteilt worden war und eigentlich hätte mehr bekommen sollen. Freispruch beantragt.

Der letzte schließlich, der glaubt, daß er sein Urteil ("Degradierung und Gefängnis") Filbinger zu verdanken hat, war ebenfalls Offizier: Guido Forstmeier, damals »Kompanie-Chef einer Marineeinheit in Nordnorwegen« Kausales freilich weiß auch dieser Leumundszeuge nicht zu berichten. Filbinger sei in seinem Fall Untersuchungsrichter gewesen und habe ihm bedeutet: »Ich will Ihnen helfen.«

Filbinger habe dann keine Belastungszeugen »mehr« zugelassen, sondern »nur Entlastungszeugen vernommen«. Und der »Chef des Gerichts«, der nach Aussage des Gefängnis-Geistlichen, so Forstmeier »ein gefürchteter Blutrichter war«, habe ihn dann milde davonkommen lassen.

Bleibt noch das eher rührende als erhellende Dokument, das eine frühere Schauspielerin dem bedrängten Landesvater zur Verfügung stellte. Sie war gegen Kriegsende mit dem Marinestabsrichter im gleichen Lager gewesen und erklärt nun an Eides Statt: »In der Stunde Null, als wir alle so aufrichtig waren und einander so nötig hatten, haben ich und viele Freunde in Hans Filbinger den ersten Antifaschisten und demokratisch denkenden Menschen kennengelernt.«

Auch das ließ der Ministerpräsident von Baden-Württemberg verteilen, als der SPIEGEL über seine Mitwirkung am Todesurteil gegen den Matrosen Gröger berichtete. Nur einen Leumundszeugen, den er früher auch gern präsentierte, hielt er diesmal hintan. 1972 hatte dieser Zeuge dem Regierungschef politische und moralische Integrität bescheinigt; damals ging es -- in einem Prozeß gegen den SPIEGEL -- um das Urteil, in dem Marinestabsrichter Filbinger noch nach Kriegsende gegen einen Obergefreiten wegen »Gesinnungsverfalls« auf sechs Monate Haft erkannt hatte.

Der Name des Zeugen: Adolf Harms, heute Landgerichtsdirektor im Ruhestand, einst Marineoberstabsrichter und aufs allerbeste mit den Umständen vertraut. Harms war bei beiden Verfahren dabei: In dem Obergefreiten-Verfahren nach Kriegsschluß, das mit einer Haftstrafe endete, war er der Staatsanwalt, Filbinger der Richter. In dem Verfahren vor Kriegsschluß, das mit der Todesstrafe endete, war es umgekehrt: Harms der Richter, Filbinger der Staatsanwalt.

Gleich nach der Verhandlung Filbinger/Hochhuth tat das baden-württembergische Staatsministerium kund: »Als Dr. Filbinger an der Sitzung der zweiten Verhandlung als Vertreter der Anklage teilnahm, lag eine rechtmäßige Weisung des Gerichtsherrn vor, daß die Tat des Matrosen Gröger mit der Todesstrafe zu belegen sei. Eine Remonstrationsmöglichkeit gegen eine solche Weisung bestand -- wie auch heute nur bei rechtswidrigen Weisungen. Weil die Weisung nicht rechtswidrig war, hätte eine Remonstration nichts bewirkt.«

Hochhuth-Anwalt Senfft hingegen hatte ein Beispiel parat, »wie so etwas auch hätte gehen können«. Vor dem Militärgericht in Oslo sei damals, etwa zur gleichen Zeit, ein Mann verurteilt, das Urteil ebenfalls aufgehoben worden mit der Weisung des Gerichtsherrn, in einem neuen Verfahren auf Todesstrafe zu erkennen. Gleichwohl habe das Gericht erneut nur drei Jahre verhängt, und als der Flottenchef das Urteil wiederum nicht akzeptiert habe, sei im dritten Durchgang nicht mehr verhandelt worden -- der Krieg war aus.

Insoweit stimmt eben nicht, wie der Filbinger-Anwalt Klaus Sedelmeier den Fall einordnete: »Gröger ist im Krieg zu Tode gekommen, wie im Krieg sehr viele zu Tode gekommen sind.« Und insoweit ist, entgegen Sedelmeiers Argumentation, der Fall Gröger auch für das Verfahren Filbinger! Hochhuth von Belang.

Die Pressekammer des Stuttgarter Landgerichts entschied jedenfalls, sich nicht nur mit dem Petzold-Urteil zu befassen, auf das Hochhuth Bezug nahm, sondern auch mit dem Gröger-Spruch.

In der »vorläufigen Rechtsmeinung«, die der Vorsitzende Richter nach den Plädoyers abgab, schloß er zwar nicht aus, daß die Hochhuth-Äußerung, »Filbinger gehöre sozusagen hinter Schloß und Riegel«, die »Grenzen des Zulässigen« verlasse und als »Schmähkritik« zu verbieten sei. Aber er will auch klären, wie das damals alles war -- »welche Entscheidungsmöglichkeiten Dr. Filbinger hatte«.

Bis zum 23. Mai will das Gericht über den Antrag Filbingers auf eine einstweilige Verfügung gegen Hochhuth entscheiden, bis zum 13. Juni läßt es sich Zeit, um in der Hauptsache zu einem Urteil zu kommen. Der Vorsitzende: »Wir müssen uns einarbeiten.«

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